Ein Song für Lennart (2): Lennart liebt

Es ist so eine Geschichte mit der Liebe, dass sie schwerer zu erhaschen wird, je älter man in unserer Zeit wird. Und wie schwer es einem fällt, je größer die Abstände von einer Liebelei zur Folgenden wird!

Die Schüchternen haben vor allem Angst, für homosexuell gehalten zu werden. Ist ist keine echte Angst, das wäre ja lächerlich. Es ist nur so, dass man ständig darüber nachdenkt, wer man denn sei, und wie man denn gesehen werden will.

Neulich las ich in einem dubiosen Artikel, dass die heutige Generation die Fernsehserie „Friends“ für furchtbar, nahezu unzumutbar hält. Und als ein Grund wird die Figur des Chandler angesehen. Merkwürdigerweise wird sie als homophob bezeichnet und als jemand, der Komplexe habe, zu seiner eigenen Sexualität zu stehen. Ich sah die Serie also noch einmal, diesmal mit einem bemüht ungetrübten, un-nostalgischen Auge. Und ich muss sagen, dass Chandler und Lennart eine wesentliche Sache gemeinsam haben: sie fürchten sich davor, in ihrer Sexualität falsch wahrgenommen zu werden. Das hat nichts mit Homophobie zu tun. Und wenn ich bei Lennart bleiben darf: es ist auch keineswegs krankhaft, neurotisch oder wahnhaft. Es ist, im Gegenteil sogar, vollkommen natürlich, dass man auf das begehrte Geschlecht einen derartigen Eindruck machen möchte, wie es einem bei diesem Geschlecht die meisten Vorteile bringt. Ein Homosexueller fühlt sich ebenso unsicher, wenn ein anderer ihm entgegnet: Ach, das war ein flirten? Ich dachte, du wärst hetero!

An einer Edekakasse wollte Lennart mit einem Kumpel einkaufen gehen. Davor stehend, einen Blick auf die Summe werfend, witterte er die Chance, sein Kleingeld loszuwerden. Er griff also zum Geldbeuten, eben im selben Augenblick wie der Freund, dem die Dinge auf dem Laufband gehören sollten.

Lennart selbst kam auf die stattliche Summe von drei Cent. Und der Kumpel bediente mit einem Schein.

„Bei diesem Blick der Verkäuferin“, erzählte der Kumpel mir später, „War es eindeutig, dass sie Lennart und mich für schwul hielt.“

Für Lennart war es schockierend, dass so eine einfache Geste ihn direkt in ein falsches Licht zu rücken im Stande war. Er ereiferte sich, hakte ununterbrochen nach und ließ sich versichern, dass er doch nicht wirklich immer so wirkte. Und uns bereitete es Vergnügen, ihn hochzunehmen:

„Wolltest du etwa männlich und heterosexuell auf die Verkäuferin wirken?“, fragte ich ihn.

„Wer weiß!“, knurrte er. „Vielleicht treffe ich sie ja irgendwo in der Stadt wieder.“

„Und dann?“

„Dann geh ich auf sie zu und sage: ‚Guten Tag, ich bin der Lennart. Und ich bin nicht schwul.“

„Dafür müsstest du erst einmal wissen, wo du sie treffen kannst.“

„Du hast Recht, ich müsste ihr auflauern.“

Die eine Augenbraue hob sich und ich begriff, dass wir uns noch einen Spaß erlaubten, wo er schon längst wieder die Sache zu Ernst nahm.

„Ich werde ein Tagebuch führen. Hättest du eine Kladde für mich?“, fragte er. „Ich schreibe auf, wo sie überall hingeht. Dann mache ich noch kleine Skizzen von ihr. Und wenn ich weiß, wann der beste Augenblick ist, gehe ich auf sie zu und kann ihr sagen, wer ich bin.“, er wirkte zufrieden mit seiner Idee.

„Dir ist schon klar, wie man das nennt, wenn man jeden Tag der selben Frau hinterher läuft und sich Notizen macht?“

Er lächelte selig: „Sehnsucht!“

 

Frauen lassen sich in Lennarts Welt in eindeutige Kategorien einteilen. Und was das angeht, ist er zweifelsohne oberflächlich. Da wären zunächst die Lidl-Frauen. Da, wo Lennart herkommt, scheinen nur gescheiterte Existenzen in diesen Läden an der Kasse zu arbeiten. Er sagt dazu ‚Normaler Typ Mensch’: Frauen mit Dauerwellen und blonden Haaren mit sichtbar dunklem Haaransatz. Oder es sind osteuropäische Frauen mit ‚nicht bekömmlichem Aussehen’.

„Das ist furchtbar!“, sagte ich. „Du kannst doch nicht einfach so oberflächlich …“

„Ich bin noch nicht fertig.“

Ich seufzte und ließ ihn ausreden.

„Auch in Italien gibt es Lidl-Frauen. Das sind dann die ganz tollen, hübschen, mit denen man sich aber nicht unterhalten kann.“

„Nicht deine Liga?“

„Nein. Die reden nur Italienisch. Und ich halt nur Deutsch.“

Dagegen sind die Aldi-Frauen zwar ebenfalls unbekömmlicher Natur, dagegen fehlt hier der osteuropäische Touch. Aldi-Frauen sind nach amerikanischem Vorbild, sagt er. Aber dort sitzt immer nur der Inbegriff des deutschen Durchschnitts.

Und dann fügte er hinzu: „Allein dass wir einen deutschen Durchschnitt haben ist höchst bedauerlich.“

„Kann es sein, dass du zu viel in Kategorien denkst?“, fragte ich zurück.

„Ich fürchte, ich denke grundsätzlich zu viel.“

Kein Widerspruch meinerseits.

 

Nein, nein. Auch wenn diese Gespräche zuweilen etwas oberflächlich und versnobt wirken, so spürt man, dass er sie nicht böswillig führt. Es kommt einem vor wie die Erkenntnisse eines Forschers.

Ein Glück für ihn aber, dass es Frauen gibt, deren niedlicher Ausdruck einem katzenhaften Audrey-Hepburn-Blick gleichkommt. Ich wagte gerne das Spiel, etwas an Audreys Gesicht auszusetzen. Das fiel mir leicht, weil er ein überlebensgroßes Portrait von ihr im Zimmer hängen hatte. Ich stellte mich also davor und sagte: „Mir gefällt ihre Nase nicht.“, ganz lapidar.

„Wie kann man an der Nase etwas nicht schön finden?“, entrüstet er sich sofort.

„Sie passt nicht in ihr Gesicht.“, sagte ich.

„Was passt die?“, er kommt zu mir, stellt sich neben mich. Schulter an Schulter starren wir auf Audreys Nase.

„Hier!“, ich zeige drauf. „Siehst du?“

„Ja!“, macht er und dann ganz verträumt: „Schön!“, versonnener Gesichtsausdruck, sich wegstehlende Körperhaltung, er setzt sich und sieht mich triumphierend an.

Audrey ist auch an seinem Schreibtisch. Allerdings als Kalenderblatte. Sie sieht überall gleich aus: weltmännisch, souverän, stark und doch so zerbrechlich wie eine Rose im Eis.

An Lennarts Tür hängt eine kleine Zeichnung eines Lemurs. So wurde er lange Zeit von einer Freundin genannt, die ihn und seine empfindsame Art sofort ins Herz geschlossen hatte: Lenny-Lemur. Sie fand, er sähe aus wie eines dieser Nachtäffchen. Mit den großen, traurigen Augen. Sie hing an seinem Arm, lächelte selig und tröstete ihn: „Du wirst auch einmal erwachsen, mein Lenny-Lemur.“

 

Was gilt es bei Dates zu beachten?

Sollte man sie ausführen, dann in ein gemütliches Café. Sollte man sich gegenüber sitzen, dann sollte man die richtigen Gesprächsthemen finden. Mein Rat: „Stell Fragen! Sei interessiert. Behandele sie mit Respekt.“

Lennart äußerte sich, dass ihm das nicht sehr leicht viel. Es kämen so viele Pausen, die einen dazu zwängen, Unsinn anzustellen.

„Will ich wissen, was du dir hast einfallen lassen?“

Er schüttelte den Kopf.

„Ich habe sie versucht, zu beruhigen.“

„Beruhigen? Hast du ihr etwa Angst gemacht?“

„Quatsch. Die hatte schon von sich aus Angst. Sie hat Angst in der Dunkelheit durch die Großstadt zu gehen. Also vor einer Stadt in der Nacht. Nachts in der Stadt. Da geht sie nicht gern alleine durch die Straßen.“

„Lennart!“

„Ja?“

„Was hast du getan?“

„Ich hab gesagt, dass sie keine Angst zu haben braucht. Ich glaub nicht, dass hier viel passiert. Ich hab also gesagt, dass hier alles harmlos ist. Aber ich hätte nicht so viel trinken sollen.“

„Du warst besoffen?“

„Nein!“, er winkte ab. „Aber es war so schrecklich kalt. Man sollte keine Dates im Winter haben. Wir haben Cocktails getrunken. Glaubst du etwa, dass hier in dieser Stadt viel passiert?“

„Ich glaube nicht mal, dass das hier als echte Stadt durchgeht.“, erwiderte ich. „Aber je nachdem, wo man ist, kann es schon etwas unangenehm sein. Vor allem für eine Frau, wenn …“

„Warum?“

„Was warum? Warum wohl?!“

„Hm.“, er dachte nach.

„Es war so kalt.“, sagte er.

„Warum sagst du das dauernd?“

„Ich glaube, ich habe etwas Dummes gemacht.“

Die Augenbrauen sanken nachdenklich nach unten und Lennart selbst rutschte auch etwas im Sessel herab. Den Kopf lehnte er nach hinten ins Genick und er starrte an die Decke.

„Wir sind so durch die Stadt geschlendert. Und du sagst ja selbst, dass es keine richtige Stadt ist!“

„Wann?“

„Auf dem Nachhauseweg. Wir haben nicht den direkten Weg genommen. Irgendwann sind wir dann an die alte Eisenbahnbrücke gekommen …“

„Die Unterführung?“

„Ja, sie wohnt da oben in dem Ecken Richtung Fußballstadion.“

„Und?“

„Die Kälte und dann das viele Trinken. Ich musste halt aufs Klo! Also hab ich sie vor der Brücke verabschiedet und bin nach Hause gerannt.“

Ich starrte ihn an, versuchte mir ein Bild von der Geschichte zu machen.

„War ich unhöflich?“, fragte er.

„Was genau? Dass du ihr zuerst nicht glaubst, dass sie Nachts in der Stadt Angst hat, oder dass du sie dann hast alleine nach Hause gehen lassen?“

„Ich musste pinkeln.“, winselte er.

„Wie weit hatte sie denn noch zu gehen?“

„Och.“, machte er. „Bestimmt noch so fünfzehn Minuten.“

„Fünfzehn Minuten?“, fragte ich entsetzt.

„Aber bis zu mir war es nur noch Katzensprung.“

Ich versuchte mir immer wieder und wieder diese Szene im Kopf abspielen zu lassen. Und konnte nicht glauben, dass Lennart wirklich so unsensibel gewesen sein mochte.

„Sagen wir mal so: ich glaube nicht, dass sie dich noch mal anruft, wenn du wirklich ihren Ängsten kein Gehör schenkst, sie durch die Nacht führst, an der dunkelsten Stelle der Stadt alleine stehen lässt und sie dann fünfzehn Minuten alleine weiter gehen lässt, nur weil du auf die Toilette musstest. Übrigens auch noch durch die Kälte, wie du selbst so schön betonst.“

„So wie du das erzählst, klingt es echt gemein.“

„Was meinst du, wie würde sie es denn erzählen?“

Da überlegte er etwas länger.

„Meinst du, ich hätte bei ihr aufs Klo gehen können?“, fragte er.

„Gegenfrage: Hat sie dich seitdem wieder angerufen?“

Diesmal dachte er nicht weiter darüber nach. Er sagte spontan: „Nein“, aber er lächelte auch leicht. „Das heißt, dass ich mir jetzt aber auch keinen Unsinn mehr für die Gesprächspausen ausdenken muss.“

Da hatte er allerdings Recht, andererseits hatte er mir immer noch keine Beispiele für diesen Unsinn genannt. Mir schwante allerdings wirklich Böses.

„Ich hab ihre Angst übrigens Ernst genommen.“, erklärte er mir später, nachdem er dieses Kapitel gelesen hatte.

„Was hast du denn jetzt wirklich zu ihr gesagt? Wenn du willst, schreib ich das noch in deine Geschichte am Ende mit dazu.“

„Ich hab gesagt: Selbst wenn dir hier was passiert, glaub ich nicht, dass sie jemanden wie dich anfallen.“

Das verbuche ich dann mal als Sprechpausenunsinn, Lennart.

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