Erster Advent – Neuanfang

Wer an der Vergangenheit leidet, ist handlungsunfähig.

Das hatte Helge ihm auf die erste Seite des Buches geschrieben. Überreicht hatte er es mit den einfachen Worten: „Herzlichen Glückwunsch“.

Nolte blätterte etwas unschlüssig darin. Es war ein Buch, wie er es garantiert nie selbst gekauft hätte. Aber er wusste, wie das Geschenk gemeint war. Helge und er waren dabei, sich von der Zeit in zwei verschiedene Richtungen trennen zu lassen.

Als ob das Leben ein Fluss wäre und ein großer Strom zog mit Helge gemeinsam freiwillig in eine ganz andere Richtung.

Das Buch hieß „Stabile Moderne“. Und der Untertitel: „Warum alles ganz einfach ist und alles andere eine Lüge“.

Bis zum gemeinsamen Abendessen unterhielten die beiden Brüder sich nicht miteinander. Jeder suchte das Gespräch mit anderen Familienmitgliedern. Helge redete mit Noltes Frau Barbara über die grässliche Hitze in diesem Sommer, Nolte spielte mit Helges Tochter Schwarzer Peter. Beim Kaffee und Kuchen sprach man über die Schulnoten der Kinder, über Fußball und über neue Autos, die man sich nächstes Jahr würde kaufen müssen.

Dabei war jedes einzelne Thema ungemein substanzlos und oberflächlich.

Weil sie alle immer Wesentliche vermeiden mussten, sprach man am besten mit denen, die das jeweilige Thema am besten gar nicht betraf.

Man wollte nicht über die neuen Anforderungen der Unterrichtszeiten reden, nicht über das Spielen von leeren Stadions und nicht über Klimawandel, Elektroautos und Umweltschutz.

Am Ende sprach man besser von nichts. Man ließ reden.

Charlotte, die inzwischen Teenager geworden war, erzählte von ihrer lieblings-Netflixserie. Da es darin nur um Liebe ging und nicht um Geld, erzählte Nolte wie er und Barbara sich damals kennen gelernt hatten.

„Damals war das alles viel komplizierter als heute“, hörte er sich sagen und konnte das selbst kaum glauben. „Man wusste nie, woran man eigentlich war. Und für diese Ungewissheit ist man eine Stunde lang mit der Bahn oder zwei Stunden mit dem Fahrrad gefahren.“

Barbara sah ihn mit ihrem nostalgischen Blick an, der wie so oft zu fragen schien, wo die Zeit hin verschwunden war.

„Ach, Liebe ist heute immer noch kompliziert“, versprach ihm Charlotte. „Das wird bestimmt immer kompliziert bleiben.“

„Hoffen wir es“, lachte Barbara.

Aber zum Abendessen ließ sich das Schweigen nicht aufrecht erhalten.

Helge sagte: „Advent ist eigentlich Neuanfang, nicht wahr?“

Die beiden Brüder sahen sich vielleicht zum ersten Mal seit zwei Jahren wieder in die Augen. Aber es war kein Blick wie früher, bei dem man das Gefühl hatte, dass man von einer heimlichen Mitte angezogen wurde. Es war eher, als ob darin ein Letztes enthalten sein mochte.

„Adventus bedeutet Ankunft“, wagte Nolte zu verbessern. Helge mochte es nicht, wenn er von seinem studierten Bruder korrigiert wurde. Aber diesmal nahm er es hin.

„Ankunft des Herrn, nicht wahr? Aber die Erneuerung des Kirchenjahres.“

„Ja. Eine Vorbereitung auf das Neue“, gestand Nolte.

Helges Blick war genauso ein Flehen wie seiner.

„Ich hasse das alte Jahr“, gestand Helge.

„Da sind wir uns einig.“ Und wie um diese eine Gemeinsamkeit zu besiegeln, wie um sie festzuhalten, schenkte Nolte ihnen beide ein Glas Rotwein aus. So wie früher. Bevor aus der Zeit ein Altes und ein Neues geworden war. Bevor die Flüsse sich teilten.

„Früher war alles komplizierter“, wiederholte Nolte den Satz, der ihm die ganze Zeit schon in der Brust gebrannt hatte. „Warum sollte es heutzutage einfacher sein?“

„Manche Dinge waren schon immer ganz einfach und eindeutig. Schwarz war immer schon einfach nur schwarz. Weiß war weiß. Lügen waren Lügen. Und Politiker waren immer schon -“

„- Menschen.“, beendete Nolte schnell den Satz. Er wollte es einfach nicht zulassen, dass sich die Trennung heute wieder zwischen sie schob.

„Menschen“, lenkte Helge ein. Aber wie er dieses eine Wort aussprach – so ganz anders als Nolte.

„Wirst du es lesen?“

„Werde ich“, versprach Nolte.

„Immerhin.“

Zum Abendessen gab es zwei verschiedene Gerichte. Charlotte war strenge Veganerin. Sie gab Nolte einen Kuss auf die Wange und sagte, dass Helge ihr zu Hause kein separates Essen kochen würde.

„Du willst ja mein Essen nicht. Also darfst du dir dein eigenes Essen machen“, verteidigte Helge sich.

„Es macht mir keine Umstände“, log Barbara von Herzen. „Die Soße ist auch in einem separaten Topf gemacht. Ganz ohne alles. Ganz, wie du es magst.“

„Danke. Vielen, vielen Dank.“

Charlotte hätte es ihnen zu Liebe bestimmt auch gegessen, wenn auch nur eine einzige Zutat falsch gewesen wäre.

Charlotte war anders als Helge.

Sie war auch ein Teil des Neuanfangs, nicht wahr?

Ehe sie anfangen konnten, stand Nolte auf und hob sein Glas.

„Bitte“, sagte er zu Helge gerichtet, „lasst mich einen Toast aussprechehn.“

„Schatz!“, warnte Barbara. Sie wusste, dass Helge eine Szene machen würde, wenn nur ein Wort falsch gesagt wäre.

„Ich will nur Martin Buber zitieren, keine Angst“

„Einen Juden“, stellte Helge fest.

„Als Menschen sind wir nicht, wir werden erst. Das ist ein ganz einfacher Satz voller Hoffnung. Ich will euch sagen, dass ich geworden bin, weil ihr in meinem Leben seid. Jeder von Euch. Und weil ihr seid, wer ihr seid, liebe ich Euch. Danke, dass ihr heute hier seid.“

Alle Gläser klangen.

Dann sagte Helge: „Frohen ersten Advent“ und Barbara bat mit hastigen Rufen um einen kurzen Augenblick. Sie beeilte sich, Kerzen aus dem Schrank zu holen und erzählte dabei, dass sie als Kind immer die Adventskerze abends angezündet hätten. Wenn alle Lichter gelöscht waren, wenn man nicht mal mehr sehen konnte, wer da am Tisch bei einem zusammensaß. Und so tat sie dann auch, löschte das Esszimmerlicht, zündete eine Kerze am Kranz an und dann saßen sie alle da. Jeder für sich wie eine einzelne Kerze am Kranz. Sie hörten sich gegenseitig atmen. Bis plötzlich eine ganz feine Stimme sang: „Wir sagen euch an, den lieben Advent“. Dankbar legte Nolte die Hand auf den Handrücken Barbaras.

Der Neuanfang hatte begonnen. Was auch immer aus der Dunkelheit in das neue Jahr herübertrat, langsam würde sich alles mit Licht füllen. Langsam wurde die Zukunft sichtbar.

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert