Zugegeben, die erste Soiree im ODEON war inoffiziell. Es hingen keine Plakate in der Stadt, die Schaukästen am Eingang waren erst am eigentlichen Premierentag geöffnet, gereinigt und neu behängt worden. Wir dachten, dass wir unter uns sein wollten, wenn zum ersten Mal seit Jahren wieder im Staub der letzten hundert Jahre etwas auf der Bühne mit Theatermagie zum Leben erweckt werden würde. Es saßen also zunächst einmal nur wenige auf den roten Sesseln, auf deren Rückenlehnen mit gold die Sitznummern aufgestickt sind. Die ersten Künstler, wir nennen sie liebevoll die „Hauskünstler“ oder die „Stammgäste“, betraten die Bühne, zogen sogar eigenhändig die Vorhänge zur Seite und erfüllten das Spotlight mit neuem Leben.
Überraschend blieben wir aber nicht allein. Es verirrten sich echte Gäste zu uns. Wir hatten sie sozusagen aus Versehen angelockt, weil wir bei den Temperaturen natürlich die Türen offen gelassen hatten und weil die Mikrophone erst noch geliefert werden, sprachen alle Beteiligten mit sehr lauten Theaterstimmen, die also bis auf die Straße drangen. Es waren nur eine Handvoll Gäste, aber der Zauber des Theaters braucht noch keine Hundertschaften.
Hereinspaziert! Hereinspaziert!
Die Bühne wurde eröffnet. Dem Nachtleben wurde eine neue Location hinzugefügt.
Mögen die Spiele beginnen.
…
Die Gesetzeslage der Theaterlandschaft veränderte sich.
Die Zeiten sind anders geworden für die kunstschaffende Szene.
Wo früher Bühnen standen, wird jetzt Raum geschaffen für Neues. Hausbesetzer. Die Plebejer proben den Aufstand. Es ist, als ob ein merkwürdiger Geist das Odeon heimsucht. Was wir bereits als Bretterbruchbude übernommen hatten, was wir mit neuem Atem versehen hatten, drohte auf ein Neues Einzug zu halten.
Aber wir wehrten uns, wir änderten die Schilder, strichen nicht die Segel, wir fanden den Weg, die Bühne zu retten. Und jetzt stehen wir hier. Unaufgeräumt. Aber stolz. Mit erhobenen Köpfen und hoffend, dass das alte Publikum uns auch unter der neuen Adresse finden wird. Und dass uns hier so viel Glück blüht als am Ort zuvor.
Wir fegen die Zweifel beiseite. Wir richten die Spotlights neu aus und verkünden:
„DENN STEINERNE GRENZEN KÖNNEN LIEBE NICHT FERNHALTEN.
UND WAS LIEBE KANN, DAS WAGT LIEBE ZU VERSUCHEN!“
(Shakespeare: Romeo und Julia)