Es gibt Besuche, die sind mir so lieb, dass ich mich sogar mit größter Migräne aus der schützenden Dunkelheit des Schlafzimmers quäle. Bemüht langsam bewege ich mich und versichere mich alle paar Schritte, dass mein Kopf noch gerade sitzt. Es fühlt sich so an, als wäre mein Gehirn schmerzhaft zusammengetrocknet worden, dass es jetzt haltlos immer wieder gegen die Schädelwände prallt, wenn die Bewegung zu heftig wird. Aber ich bleibe tapfer und bereite das Essen vor, quäle mich mit Sonnenbrille durchs Haus und kämpfe gegen jeglichen Würgreflex. Noch ist sich mein Körper nicht sicher, ob es reine Migräne ist oder noch eine zusätzlich aufgebürdete Erkältung. Ist mir aber auch egal. Ich wiederhole: Es gibt Besuche, die sind mir so lieb, dass ich dafür sogar im Haus die Sonnenbrille weg lasse.
Es ist der erste Mai, der Tag der Arbeit, und ich fühle mich, als ob die größte Gewerkschaft der Viren heute in meinem Immunsystem tête-à-tête mit den weißen Blutkörperchen auf die Straße geht.
Der mir so liebe Besuch ist nur unser und der Kinder wegen aus Frankfurt angereist. Er ist ein Ungar. Das bringt schon den exotischen Klang dieser außergewöhnlichen Sprache ins Haus. Und diesmal ist er sogar mit seiner und der kleinen Kindergeige seines kleinen Sohns angereist. Voller Stolz präsentiert der kleine, blonde Strahlemann, dass er endlich die Geige halten kann und dem Holz die herrlichst schrägsten Laute zu entlocken vermag. Geigen haben keinen Schalldämpfer. Und ich brülle meine Migräne an, dass ich kein Spielverderber sein werde.
Kurzerhand zaubern unsere Kinder das Xylophon und die Zimbeln hervor, ein paar Orffsche Instrumente, eine inzwischen schon lädierte Bongotrommel und das Ungarn-Lärm-Jazz-Orchester beginnt die erste Vorstellung. Alle applaudieren, mein Schädel frohlockt und im Innern werden Purzelbäume der Freude geschlagen.
Wenn es eine Sache gibt, die ich hasse, dann sind es Klischees, also kämpfe ich gegen jeglichen Impuls, etwas zu sagen und darf mir ein paar Minuten später doch anhören, wie meine Frau darüber spöttelt, dass ich die Männergrippe habe.
So läuft das eben mit Klischees. Wenn sie einmal etabliert sind, gibt es keine Möglichkeit mehr, sich ihnen zur Wehr zu setzen. „Ich will damit nicht sagen“, erkläre ich, „dass die Kopfschmerzen extrem wären“, was sie waren, „aber mal angenommen, ich hätte jetzt einen Hirntumor, nur mal angenommen. Wie soll ich bitte verständlich machen, was das für Schmerzen sind, wenn ihr nur darüber lächelt und von einer Männergrippe faselt?“
„Papa ist den ganzen Tag schon stinkig.“, erklärt meine Tochter. Und mein Sohn stimmt natürlich zu: „Ja, ganz stinkelig schon.“
„Ich bin überhaupt nicht stinkig.“, gebe ich zurück. „Es geht mir einfach nur nicht so gut wie sonst.“
Von der Männergrippe wechselt das Thema auf Klischees grundsätzlicher Natur und die Kinder verschwinden lachend und brüllend im Garten.
Jetzt sitzen zwei Familien am Tisch, die jeweils zwei Kinder haben, jeweils ein älteres Mädchen und ein jüngerer Sohn. Es ist Zeit, dass der Austausch beginnt. Wir sind uns alle vier einig, dass jedes Kind anders ist. „Obwohl sie doch aus dem selben Förmchen kommen.“, ergänzt meine Frau schmunzelnd. „Da will man doch meinen, es kommt auch was ähnliches raus.“
„Ist halt nicht so wie Kuchen backen.“, sagt die Freundin. Und der Ungar meint:
„Also ich muss sagen, dass ich nie gedacht hätte, wie umgänglich die Jungs sind. Wir haben ja alle vier, die wir hier am Tisch sitzen, nie sonderlich Wert auf diese geschlechterdifferenzierte Erziehung gelegt.“ – er hat tatsächlich einen sehr distinguierten Sprachstil. Jemand wie ich gerät bei seiner Sprechweise geradezu zwangsweise ins Schwärmen. – „Aber Jungs sind doch Jungs und Mädchen sind Mädchen.“
„Was willst du denn damit sagen?“, gibt sie zurück und meine Frau und ich wechseln einen kurzen Blick.
Es gibt diese Sätze, die, wenn sie von Frauen einem entgegengebracht werden, kombiniert mit dieser gewissen Stimmlage, es einem Mann unmöglich macht, heil aus der Sache wieder heraus zu kommen. Dies war ein solcher Satz.
„Dass unser Sohn viel angenehmer zu ertragen ist, als unsere Tochter je war.“, dann begreift er, was er soeben gesagt hat, wie man es falsch verstehen könnte und verdreht sogleich die Augen, um dem Vorwurf entgegen zu treten. „Da kann man sagen, was man will, unsere Tochter ist nun mal ein echtes Mädchen und die letzten Monaten waren unglaublich anstrengend.“
Ich sprang ihm solidarisch schnell bei Seite:
„Wir haben auch so eine Phase durchgemacht. Ich sag schon immer, dass unsere Tochter in der Vorpubertät angelangt ist. So mit Türenknallen, alles besser wissen, das letzte Wort haben.“
„Wo sie das wohl her hat?“, kontert meine Frau, die sich offenbar genötigt fühlt, ihrerseits ihrer Freundin beizustehen.
Vollkommen klischeefrei haben sich zwei Geschlechterlager aufgetan in einer Runde, die sich selbst eigentlich und grundsätzlich weltoffen, libertär und tolerant einschätzt.
„Entweder aus dem Teig oder aus dem Förmchen.“, schmunzele ich und versuche die Sache aufzulockern.
„Unser Sohn“, fährt ungehindert unser ungarischer Freund fort, „ist in vielerlei Hinsicht genauso, wie das von dir eben genannte ‚Klischee’“, er macht Gänsefüßchen mit den Fingern und der Stimme. „es beschreibt. Er sieht ein Problem, er beäugt es und dann macht er sich ganz objektiv und vernünftig daran, die Sache zu lösen. Er geht hin und macht. Und wenn es nicht klappt, tritt er einen Schritt zurück, man kann richtig sehen, wie er darüber nachdenkt, und er denkt sehr viel über die Dinge nach, und dann versucht er einen zweiten Ansatz. Ich bin über diese Art des Denkens von ihm überhaupt sehr fasziniert. Er hat sehr außergewöhnliche Denkstrukturen, wenn man so sagen kann, an denen er sich orientiert. Sehr faszinierend.“
„Und eure Tochter?“
„Tja.“, er seufzt. „Sie ist klug, sie ist wirklich klug. Und sie kann schon sehr viel, was andere in ihrem Alter noch nicht können. Wir spielen Schach und sie spielt gerne Geige und sie kann fließend deutsch und ungarisch. Aber es ist doch so, dass sie nur eine sehr geringe Frustrationsschwelle hat. Wenn etwas nicht gelingt oder nur nach einem Problem aussieht, dann will sie mit der Sache gar nichts mehr zu tun haben. Aber kategorisch. Verstehst du? Kategorisch. Sie schiebt das weg. Es existiert nicht mehr in ihrer Welt. Das macht mir vor der Einschulung jetzt doch ein wenig Sorgen. Aber eigentlich nicht. Eigentlich gar nicht. Eigentlich ist sie sehr klug.“
„Jetzt müsste man ein drittes Kind machen, um die Experimentreihe ordnungsgemäß durchzuführen und deine Ergebnisse zu validieren.“, ich zwinkere ihm zu.
„Um Himmels Willen.“, machen er und sie gleichzeitig und schlagen die Hände überm Kopf zusammen.
Ich glaube ehrlich gesagt selbst nicht an die Geschlechterklischees. Ich glaube nur daran, dass es grundsätzliche Verhaltensmuster gibt, die tatsächlich hormonell bedingt sind, beziehungsweise sonst wie biologisch geprägt sind. Aber ich bevorzuge das Wort Disposition, also Verhaltenstendenz. Es kommt nicht von ungefähr, denke ich mir, dass man von männlichen und weiblichen Hormonen spricht.
Vor fünf Jahren hat meine Frau in einem Anflug von schwangerschaftsbedingtem Nestbautrieb einen Kilosack Frauen- und Schwangerschaftstee bestellt. Um ihr zu helfen, den guten Kräutertee los zu werden, haben wir einen netten Teeabend damals verbracht, der sehr angenehm und romantisch begann – es war ja noch die Zeit ohne Kinder – und katastrophal endete. Ich weiß, dass es mir niemand glauben wird, aber ich schwöre bei allem, was mir heilig ist, dass ich ein Wechselbad der Gefühle durchmachte. Ein Schwindel überfiel mich, ich spürte, wie mir der Kreislauf kippte, mein Herz begann zu rasen und auf der ganzen Haut bildeten sich Schweißtropfen. Ich stand auf, torkelte in die Küche und landete völlig bleich auf dem Fußboden. Natürlich dachte meine Frau damals, dass ich so übertreiben würde wie Männer nun einmal immer übertreiben, wenn es ihnen ein wenig schlecht geht. Aber als es nach einer Stunde nicht besser geworden war, machte sie sich dann doch Sorgen.
Von der damaligen Hebamme erfuhren wir, dass sie das zwar noch nie gehört habe, sich aber durchaus vorstellen könne: „Das ist Frauentee“, mir klingen ihre Worte noch immer in den Ohren. „Welcher Mann kommt denn auf die Idee, Frauentee zu trinken? Der ist doch extra für Frauen. Bestimmt haben sie sich da mal ne Stunde wie ein Frau gefühlt, weil der Tee alle guten Frauenhormone in Wallungen gebracht hat, die so in ihnen schlummern.“
„Frauentee.“, gab ich gekränkt zurück. „Wer kann den so was ahnen? Stille Harmonie-Tee funktioniert ja auch nicht!“
„Wisst ihr eigentlich schon, was euer drittes Kind wird?“, fragte die Freundin.
„Ein Junge!“, sagte ich schnell, ehe meine Frau etwas sagen konnte.
„Wir wissen es noch nicht.“, sagte sie trotzdem.
„Es wird ein Junge.“
Mein ungarischer Freund lachte. „Willst du, dass es ein Junge wird, weil Jungs so viel weniger zickig sind?“
„Nein. Wenn meine Hormon-Theorie stimmt, dann befinden sich in meiner Frau derzeit unglaublich viele Hormone von dem Kind. Wenn es ein Mädchen im Bauch wäre, dann wäre sie ruhig und ausgeglichen, selig, verträumt und hätte unbezähmbare Lust auf Mandarinen. Mitten in der Nacht.“, ich gab ihr einen finsteren Seitenblick, weil es die Mandarinengeschichte tatsächlich gab. „Sie ist aber aggressiv, unbeherrscht, völlig unlogisch in ihrem Verhalten und unstrukturiert und macht viele Fehler. Das muss ein Überschuss an männlichen Hormonen sein.“
Mein Freund reagiert jetzt eingeschnappt, weil ich ein Bild gezeichnet habe, dass ihm weniger gefällt. Die Lebensgefährtin kichert dagegen.
In diesem Moment kommen unsere Töchter herein, weil sie auf dem Weg zur Toilette sind. Ich halte sie kurz für einen Moment an.
„Wir brauchen eure Expertise.“, sage ich mit übertriebener Stimme. „Ihr müsst unsere Fachleute sein. Wir sind uns da nämlich gar nicht so einig. Was ist denn das bessere Geschlecht, die Jungs oder das Mädchen? Wer ist besser?“
Beide überlegen sehr ernsthaft, dann sagen sie beide „Mädchen.“ Meine Tochter fügt sogar hinzu: „Sogar ziemlich eindeutig, Papa.“
„Ach und wieso?“, will ich wissen.
„Na siehst du: Jungs sind so“, sie pumpt die Backen auf, tut so, als wäre sie ein Luftballon, der voll Luft strömt und kurz davor ist in die Luft zu schweben, dann platzt sie, zappelt und sagt: „Verstehst du? Völlig viel Luft und dann aufgeplatzt und losgelassen, wild durch die Luft sausend und hin und her und zack, zack, zackzack, pfuiiiii.“
„Ok. Verstanden.“, bremse ich sie. „Und Mädchen?“
„Die sind so.“, macht sie und pumpt die Wangen wieder auf. „Verstehst du? Mädchen sind einfach nur aufgeblasen.“
Ok, das musste man dann mal so stehen lassen.
Kam ja von der Expertin.