Ich habe dieses Buch von Konfuzius gefunden. Viele kleine Aphorismen, die einem zu Denken geben sollen. Und da heißt es an einer Stelle: „Der Meister sagte: ‚Es kommt vor, dass der Halm sprießt, und die Pflanze dennoch nicht blüht. Es kommt vor, dass sie blüht und dann doch keine Frucht ansetzt.’“ (Buch IX: Tze Han) Mehr nicht.
Und ich frage mich, ob es da um Resignation geht oder um eine einfache Beschreibung. Natürlich wird nicht von Pflanzen geredet, sondern von Menschen. Das ist wenigstens offensichtlich. Und dann heißt es: Es kommt vor, dass sich Menschen nicht vollständig entwickeln, sondern dass ein Individuum auf einer Entwicklungsstufe stehenbleibt, während die Anlage zur Perfektion unangetastet in einem ruht.
In einem ruht? In Form von einem Genpool?
Als ich noch zur Schule ging, hatte ich einen mir so dermaßen verhassten Französischlehrer. Ich hatte ihn so gehasst, dass ich mir alles merkte, was er so von sich gab, in der Hoffnung, dass einmal etwas sagen würde, was mir nicht nur nicht gefiel, sondern was ich auch ganz leicht widerlegen konnte. Ich hasste ihn so sehr, dass ich zu Hause über ihn und seine Gedanken schrieb. Einmal sagte er zum Beispiel: Kinder hätten in ihren Köpfen so etwas wie Wassergläser. Am Anfang seien die Gläser leer und die Lehrer und die Eltern und die Welt schütteten Bildung wie Wasser in diese Gläser hinein. Manche haben einen 10 Liter Eimer Intelligenz im Kopf. Und andere eben nur Schnapsgläser. Da kann man schütten, was man wolle. Der kleine Kopf könne es nicht behalten. Es läuft einfach über und jede Mühe ist Verschwendung.
Ich schrieb gegen seine Einstellung an, Seite um Seite. Dass es so etwas nicht gäbe. Und ich versuchte es so zu machen, dass ich ihm erst zustimmte und Beispiel nahm, die ganz eindeutig seien, wie zum Beispiel von Geburt an geistig eingeschränkte Menschen. Und dann versuchte ich aus seiner Meinung Fehler herauszufinden. Und das gelang mir zwar, aber meine Gegenargumente liefen nicht auf eine eindeutig formulierbare Gegenthese, also gab ich irgendwann auf. Und er lieferte in der nächsten Stunde dankbarerweise eine neue provokante Meinung zu einem anderen Thema, über das ich mich eine Woche lang hermachen konnte.
Aber von all den Thesen ist die Wasserglastheorie am lebhaftesten hängen geblieben. Ich hoffte viel zu inständig, dass er unrecht hatte.
Ich denke immer wieder darüber nach. Und vor allem über eins: Was, wenn keiner da ist, der Wasser einfüllt. Oder wenn da ein 10 Liter Eimer Intelligenz im Kopf ist. Aber das Fassungsvermögen nicht ausgenutzt wird. Wenn die Welt ihm nur die Menge von Schnapsgläsern hineinschüttet.
Da hat einer die Disposition zum Genie und sie verkümmert. Der menschliche Körper ist doch unfassbar flexibel, oder? Wenn wir ein Körperteil zum Beispiel sehr wenig nutzen, verkümmern doch darin die Muskeln, nicht wahr? Sollte es mit dem Eimer genauso sein? Die Energie, diesen unnützen Eimer aufrecht zu erhalten, kann doch besser verwendet werden. Also schrumpft der Eimer zum Schnapsglas, genauso wie die Muskeln sich zurückbilden, wenn ich sie nicht regelmäßig nutze. Wenn ich die Disposition in meinen Genen für bestimmte Aspekte nicht auspräge, … kann es sein, dass unsere Erfahrungen und unser Leben unsere Gene genauso „steuern“?
Bruce H. Lipton, PH. D., verfasste provokante Bücher darüber. In seinem Buch „Intelligente Zellen“ schreibt er gegen das an, was ich noch aus dem regulären Biologieunterricht wusste. Auf der traditionellen Seite heißt es doch immer, wir sind, was unsere Gene uns erlauben zu sein. Aber wie unnötig wäre das, wenn da ein Kind eine unfassbar musikalische Disposition hätte und diese nicht verwirklichen könne, weil es zum Beispiel in einer radikalen Kriegszeit geboren wird, in der es keine Musikinstrumente braucht, sondern Muskelprotze. Es kostet unser Musikgenie viel mehr Anstrengung die Kraft auszubilden als die Musik, keine Frage. Aber es wäre eine Energieverschwendung, wenn dieser zum Blühen ausgebildete Halm in ihm, ununterbrochen auf Wartestellung stünde und nicht, verkümmere, zurückgehe, absterbe, bis es ihm schließlich so leicht fällt, Muskeln aufzubauen, wie es ihm noch vor Jahren ergangen wäre, wenn er sich an ein Klavier gesetzt hätte.
Es kann sein, dass ein Halm sprießt, und die Pflanze trotzdem nicht blüht.
Das ist die Grundvoraussetzung für Depression, denke ich. Da sein, aus sich selbst heraus wachsen und an ein Limit stoßen, das einem das Gefühl gibt, nicht aus sich heraus sich entwickeln zu können. Von der Vollkommenheit, die von einem erwartet wird, stecken zu bleiben.
Und wie frustrierend es sein muss, wenn man die Blüte ausbildet und die Frucht ausbleibt. Wie sehr es einen limitiert zurücklässt.
Wenn es aber stimmt, was Lipton ausspricht, dass der evolutionäre Druck des Überlebens uns dazu veranlagt, unsere eigenen Gene zu beeinflussen, dann haben wir ein Argument gegen das auf uns selbst zurückgeworfene Schuldgefühl, des „Ich bin nicht gut genug“-Gedankens. Wenn wir die äußere Welt verändern, den berühmten Tapetenwechsel vollziehen, sind wir dazu im Stande, auch unsere innere Begrenztheit zu verändern: „Wenn du sein könntest, wer du willst – wer möchtest du dann sein?“
Sicher, der Junge mit Schnapsglas im Kopf muss sich deutlich mehr anstrengen, um das Gefäß zu dehnen und vielleicht wird nie ein 10 Liter Eimer daraus, aber wenn er sich den Umständen aussetzt, die es von ihm verlangen, dann kann er genetisch über sich hinauswachsen. Limits sind da. Sie existieren. Aber wir sind flüssige Identitäten und keine in Stein gemeißelten.
Mein Französischlehrer sagte einmal auch etwas anderes. Er sagte: „Wir alle haben einen göttlichen Funken in uns. Deshalb hat jeder eine zweite Chance verdient. Aber nicht jeder funkt an jedem Ort. Manche gehören nicht hierher. Die können woanders besser blühen.“
Damit hatte er sich eigentlich darauf bezogen, dass nicht jeder in unserer Klasse aufs Gymnasium gehörte. Aber ich bin der Meinung, hätte er seine eigenen Worte ein ganz klein wenig anders verstanden, dann hätte ich ihm zustimmen können.
Er war so kurz davor, meiner Meinung nach Recht zu haben.