Hotel Delphin (2)

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Tarek sah erleichtert aus, als Tobi kam.

„Weißt du, was hier abgeht?“, fragte Tarek.

„Klar. Ich hab immerhin alles organisiert.“

Wenn es eine Sache gab, die Tarek nicht ausstehen konnte, dann war es das selbstgerechte Grinsen, das Tobi an den Tag legte, wann immer er sich überlegen fühlte.

„Mira hat mir schon gesagt, dass sie dich mit allem hier … sagen wir mal: überraschen will. Ist sie auch schon hier?“

„Eben nicht.“, knurrte Tarek. „Ich steh mir hier schon seit einer halben Stunde die Beine in den Bauch. Und hab keinen Plan von nichts. Wollt ihr noch fünf Minuten geben. Dann geh ich wieder.“

„Dann sei mal froh, dass es nicht auch noch geregnet hat.“ Tobis Handy klingelte. Er sprach kurz ein paar Sätze, wahrscheinlich mit Nour. Das meiste davon schien um das gleiche zu gehen, weshalb auch Tarek hier war. Aber trotzdem verstand er von dem Ganzen kein Wort. Und am Ende des Telefonats war er kein bisschen klüger.

„Nour verspätet sich. Aber das macht nichts. Sie bringt dafür die andern mit. Wir können ruhig schon rein gehen. Ich zeig dir alles.“

Tarek hasste das Wochenende jetzt schon. „Wo rein?“

Tobi wies auf das alte Hotel hinter ihm. Die Bruchbude mit dem schrägen Delphin über dem Eingang.

„Was soll der Scheiß, Tobi? Ich will das jetzt sofort wissen, sonst -“

„Sonst was? Willst du einfach gehen und mich dazu zwingen, Mira zu sagen, dass du keine Lust auf ihre Überraschung hattest?“

„Ach scheiß doch auf dich, Tobi.“

Tobis Selbstgefälligkeit wurde eine gewaltige Spur unerträglicher.

Tarek folgte ihm trotzdem.

Und er staunte nicht schlecht, dass Tobi tatsächlich einen Schlüssel für die alte Bruchbude hatte. Und außerdem hatte er noch jede Menge Wissen, was er in der Art eines Touristenguides zu präsentieren gedachte:

„Das Delphin steht schon seit den 60ern völlig leer. Die Stadt hat damals einen absurden Touristenboom erlebt. Und es sind damals sieben Hotels in der Stadt aus dem Boden gewachsen. Das Interior, das Metropol, ein Continental, das Globetrotter – heute ist es ein Asylantenheim oder so was in der Art – und dann noch das Intercity, das Olymp und schließlich das Delphin. Aber im Unterschied zu den anderen ist das Delphin einfach nur fertig gebaut worden und damit hatte sich die Sache. Es kam nie zu einer Eröffnung. Dabei ist es auf dem absolut besten Stand der damaligen Zeit gewesen. Es gibt sogar einen gigantischen Pool im Keller, eine Saunalandschaft und eine Spielhölle.“

„Das interessiert mich kein bisschen“, beschwerte sich Tarek. „Warum bin ich hier, Tobias?“

Tobi antwortete nicht. Er ließ Tarek den Vortritt ins Foyer. Es dauerte kurz, bis sich seine Augen an das miefige Licht gewöhnt hatten. Vor allem: die Luft stand hier seit Jahrzehnten förmlich still. Alles war voller Staub, es roch nicht nach Moder aber so stark nach Vergangenheit, dass Tarek sich unwillkürlich fragte, ob Luft auch sterben konnte.

Sie betraten eine Zeitkapsel. Alles war vollkommen unberührt geblieben. Kein Vandalismus, kein Verfall. Von der Decke hingen futuristische, gelbe Lampen, die entfernt an UFOs aus billigen Science-Fiction Filmen erinnerten. Links vom Eingang war eine kleine Sitzecke mit wild geschwungenen Tischen und Sesseln, die aussahen, als ob jemand orangefarbene Wolken zerknüllt hätte.

Tobi steuerte aber auf den Empfangstresen zu: die Frontseite war ein aus Mahagoniholz getäfeltes Rippenmuster, das sich mit gelben Plastikstreifen abwechselte.

Es sollte wohl ein Scherz sein, aber Tarek fand überhaupt keine Pointe dabei, als Tobi auf dem Tresen mit Wucht auf eine Tischglocke schlug und lachend „Service!“ rief.

„Tobi. Im Ernst jetzt. Wo ist Mira?“

„Ich hab keine Ahnung, wo deine Mira ist. Alles, was ich weiß: dass sie besser bald hier auftaucht. Weil ich keine Lust habe, mir mein Liebes-Abenteuer-Wochenende von einem unzufriedenen Großstadttürken zu versauen.“

Man hätte fast stolz darauf sein können, dass Tarek in diesem Augenblick genug Beherrschung hatte, seinem Kumpel nicht das Grinsen aus dem Gesicht zu prügeln.

„Wo hast du den Schlüssel für den Palast her?“

„Sagen wir, ich hab ihn gefunden, ok?“

„Sagen wir, du hast ihn geklaut.“

Tobi tat entsetzt: „Wo bitte klaut man den Schlüssel zu einem Luxushotel aus den 60ern?“

„Luxushotel.“, schnaubte Tarek.

„Jetzt komm schon!“ Tobi breitete die Arme aus, während er auf die rückwärtige Seite des Empfangstresens ging. „Sieh dich mal um. Das hier war in den 60ern absolute Luxusklasse. Und wenn es heute ein Hotel in der Art geben würde, dann wären die Zimmerpreise bestimmt auch nicht grad billig.“

„Gibt wohl keinen Hausmeister, der den Luxus in Schuss hält, wie?“, er zeigte Tobi, wie man mit dem Finger einen tiefen Strich in den Staub auf dem Tresen malen konnte. „Und hier willst du ein Liebesabenteuer erleben?“

„Wir alle, du Idiot. Eine Nacht oder ein Wochenende, mal sehen wie es läuft. Kostenlos in einem voll eingerichteten Hotelzimmer. Hättest du gerne das Penthouse oder die Honeymoon Suite?“

„Hier gibt es ein Penthouse?“

„Zugang zur Dachterasse.“, er reichte Tarek einen uralten Flyer rüber.

Das Hotel sah auf den Bildern natürlich deutlich besser aus als heute. Aber man musste zugeben, dass der Bruchbudeneindruck einem nur von außen in den Sinn kam. Je genauer man hinsah, um so mehr erkannte man eine im Dornröschenschlaf versunkene Würde. Tarek beugte sich ein Stück zur Seite, um durch eine Glastür in das angrenzende Restaurant blicken zu können.

„Mann, Alter.“, entfuhr es ihm. „Das sind die Dinger aus Clockwork Orange.“

„Die was aus was?“

Aber Tarek war bereits auf dem Weg. Tatsächlich: von der Decke hingen große Glaseier, in die man sich setzen konnte.

„Das ist wie in einer Filmkulisse hier.“, rief er zu Tobi rüber.

„Na, wenn du meinst. Geh mal zur Theke rüber. Die Theke am anderen Ende des Restaurants.“

Tarek ging zwischen den hängenden Sitzeiern hindurch, die immer so angeordnet waren, dass sich kleine Sitzgruppen ergaben. Als Tische dienten schlanke Stehtische, die ihn an den kippligen Stuhl bei seinem Vater im Friseursalon erinnerten. Die Lampen hier waren alle verkupfert oder verspiegelt. Wenn man das Licht hätte einschalten können, dass würde es hier wahrscheinlich strahlen und glänzen als ob man ein paar Tausend Sonnen an die Decke montiert bekommen hätte. Genug Fantasie hatte Tarek, um sich vorzustellen, wie man in den 60ern hier richtig edel hätte feiern können.

„Wusste gar nicht, dass es so ne krasse Zeit gegeben hat. Da können unsere Möbel von heute nicht mithalten. Ich mein: stell dir mal vor, man würde heutzutage so ein Hotel bauen und es einfach am Stadtrand vergessen. Wenn dann in fünfzig Jahren jemand hinkommt, würde der bestimmt einfach nur denken: Ja, ganz nett. Aber das hier ist -“, er brach ab. Der Anblick der Restauranttheke hatte ihn buchstäblich erstarren lassen.

Außerdem hatte er nicht bemerkt, dass Tobi inzwischen wieder direkt hinter ihm stand.

„Das Hotel ist nie eröffnet worden. Nichts hier ist je geöffnet worden.“

Und mit „nichts hier“ meinte er die unzählbar große Menge an Spirituosen, die die komplette Wand hinter dem Tresen zierte.

„Das muss allein ein Vermögen sein. Und hier ist nie jemand rein und hat sich bedient. Das ist doch purer Wahnsinn.“

„Es hat bis heute nie jemand einen Schlüssel gehabt.“, meinte Tobi im gewohnten ‚ich-bin-so-toll’-Ton.

„Das ist so unwahrscheinlich wie ein 6er im Lotto, Alter.“, sagte Tarek baff. „Ich meine: jetzt mal im Ernst. Die Bauarbeiter, der Besitzer, die Familie des Besitzers. Der Bürgermeister. Irgendwelche randalierenden Jugendlichen. Gossenpenner! Verdammt: Irgend jemand muss doch mal hier drin gewesen sein.“

„Nein. Schau auf den Boden. Die Staubschicht ist völlig unberührt.“

„Mann.“, mehr sagte Tarek nicht. Er drehte sich jetzt einmal im Kreis und egal worauf sein Blick sich richtete, alles gab ihm das Gefühl, dass er gerade so etwas ähnliches war wie der erste Mensch auf einem fremden Planeten, der erste in den perfekt erhaltenen Überbleibseln einer untergegangenen Zivilisation.

„Du kippst mir nicht gleich um, oder?“

„Und die Zimmer sind genauso?“

Tobi zuckte mit den Schultern. Überzeug dich selbst.“

„Wo hast du diesen verdammten Schlüssel her?“

Aber auf diese Frage, das spürte er, würde er keine Antwort erhalten.

 

Lana war mindestens genauso beeindruckt von dem Ambiente des Hotels. Nour dagegen ließ sich, wenn sie denn beeindruckt war, nichts anmerken. Benji dagegen war einfach nur aufgeregt. Und wie immer, wenn er nervös war, redete er viel und sagte dabei nichts. Er war erst damit beschäftigt, die Koffer der anderen herein zu tragen, dann über die gute Liste zu reden, die Lana erstellt hatte und um seine Beweisführung abzuschließen, erklärte er lange und ausdauernd, mit Hilfe von drei banalen Beispielen, was sie alles Kluges eingepackt hatten.

Niemand hörte ihm zu.

Er merkte es selbst, gab aber zunächst nicht auf. Erst als Tarek Nour und Lana ins Restaurant führte und er mit Tobi allein zurück blieb, verstummte er.

„Ist alles ok?“, fragte Tobi. Aber er wartete natürlich keine Antwort ab. Statt dessen lobte er ihn: „Ich bin stolz drauf, dass du sie hast überreden können.“

„Sie war schnell einverstanden.“, nuschelte er.

„Was war denn dein Argument?“

„Dass wir uns nicht im selben Stockwerk wie du einquartieren werden.“

Darüber musste Tobi tatsächlich laut lachen.

„Keine Angst, ich hab mir gedacht, dass jeder von uns sogar ein anderes Stockwerk nimmt.“

Nour war wieder zurück und hatte es gehört. Sie sah über diese Idee nicht glücklich aus: „Ich weiß, dass es hier wirklich Hammer aussieht, aber sind wir mal ehrlich: je besser es aussieht, umso mehr macht mir das Delphin Angst.

„Ich glaub nicht, dass Lana so scharf darauf ist, mit mir im selben Stock zu schlafen, hab ich Recht?“

Tobis Offenheit war das einzig Positive, das Lana mit ihm in Verbindung brachte. Sie legte immer viel Wert darauf, dass Tobi Benjis Freund war. Nicht ihrer.

„Aber wenn Nour möchte, dann nehmen wir beide gern ein gemeinsames Zimmer.“, schlug Lana vor.

„Soweit kommt’s noch. Das Wochenende soll für Pärchen sein, verstehst du? Ein wenig Romantik. Und wenn du mit Nour romantisch werden willst, dann werde ich zumindest in Sichtweite sein.“

„Wie gut, dass es Worte für Menschen wie dich gibt:“, Lana lächelte ihr zuckersüßestes Lächeln zu ihrer Auflösung: „Schwein.“

„Oh, es gibt auch Worte für Menschen wie dich: …“, aber Benji unterbrach den Schlagabtausch lieber rechtzeitig, bevor die Dinge frühzeitig eskalierten.

„Du hast gesagt, es gibt hier einen Pool im Keller?“

„Da wird wohl kein Wasser drin sein, Benji.“, sagte Tarek. „Und wenn: dann ist es gekippt und du würdest nicht mal den Raum betreten wollen.“

„Ganz im Gegenteil.“, verkündete Tobi stolz. „Ich hab eine Überraschung für euch. Ich hab den Schlüssel nämlich nicht erst seit heute Morgen. Kommt mal mit.“

 

Das merkwürdigste Gefühl war, dass sie sich spontan auf die Fahrstühle verließen. Erst als die Türen geschlossen waren, kam ihnen allen – außer Tobi natürlich – der Gedanke, dass die Technik seit über vierzig Jahren nicht genutzt und nicht gewartet worden war. Ein grässliches Quietschen verriet den Mangel an Schmiermittel am Fahrstuhlseil und wie gläubig Lana tief in ihrem Inneren war.

„Heilige Mutter Gottes!“, stieß sie hervor als der Fahrstuhl sich träge und laut ächzend nach unten bewegte.

Tobi grinste und sagte zum Glück nichts.

Sie kamen problemlos im Kellergeschoss an. Ein Schild verriet ihnen den Weg zum Pool. Schon nach wenigen Metern stieg ihnen streng der Geruch von Chlor in die Nasen.

„Nicht dein Ernst.“, flüsterte Tarek ehrfurchtsvoll.

„Ich gebe es ja zu“, die Stimme klang zumindest demütig. „Ich wollte euch so sehr beeindrucken, dass euch nie wieder ein schlechtes Wort über meine Ideen einfallen wird.“

Er stieß die Tür zum Poolraum auf und im selben Moment klatschte er mit der flachen Hand auf einen Lichtschalter neben dem Türrahmen.

Das Licht sprang an.

Die Decke war mit großen Kreisen durchlöchert. In jedem dieser Kreise steckte ein aufleuchtender Ball: abwechselnd rot und blau. Die gegenüberliegende Wand wurde gleißend rot beleuchtet. Im Schein dieser harten Farben erstrahlte das Wasser überraschend klar und intensiv blau. Man sah, dass Pumpen das Wasser bewegten: An mehreren Stellen der Oberfläche kräuselte es sich.

„Ich habe zweimal Wasser eingelassen. Einmal, um den Staub raus zu kriegen und einmal um – naja – Eindruck zu schinden.“

„Wie?“, fragte Benji einfach nur.

„Die Wasserleitungen sind alle noch aktiv. Das Hotel hängt auch noch am Stromkreis. Das Lager da hinten ist voller Chlorkapseln. Das Schaltpult ist außerdem verdammt gut beschriftet. Läuft alles voll automatisch. Achso: habt ihr überhaupt Badeanzüge dabei?“

Sprachlos schüttelten Nour und Lana den Kopf.

„Kein Problem. So geht es vielen Gästen. Wir haben ein paar Badeanzüge zum Verkauf da.

„Wie lange hat es gedauert, das Becken voll Wasser zu kriegen?“, fragte Benji.

Jetzt konnte Tarek endlich seinen Blick lösen. Vollkommen irritiert starrte er Benji an: „Wieso zur Hölle kommst du ausgerechnet auf diese Frage?“

„Keine Ahnung. Hab einfach irgendetwas fragen wollen.“

 

 

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