Humanismus oder humanistische Religion – Essay

Erich Fromm schrieb, es gäbe keinen Menschen, der nicht ein religiöses Bedürfnis hätte, „ein Bedürfnis nach einem Rahmen der Orientierung und einem Objekt der Hingabe.“ (Psychoanalyse und Religion, S. 243, Z. 248).

Allein diesen Satz zu schreiben, irritiert mich. Wieso weiß ich denn so etwas, wenn ich mich selbst doch als a-religiös bezeichne?

Auf die Frage, welche Religion ich habe, antworte ich meistens: „Ich bin nicht gläubig, wäre es aber gern.“

Und im Laufe der Gespräche, die dadurch entstehen, dass mein Gesprächspartner diese Einstellung zu verstehen sucht, erkläre ich meist, dass Religion für mich in der Regel eine Art von Antwort sei. Und ich, erkläre ich weiter, ich bin ein Mensch der Fragen liebt und Antworten grundsätzlich misstrauisch gegenübersteht. Ich habe das schon immer so gehandhabt. Immer schon habe ich alles hinterfragt und nach alternativen Antworten gesucht, dabei aber die Vielfalt der Antworten mehr zu schätzen gewusst, als ihren Wahrheitswert mir zu eigen gemacht. Ich habe die Pansophie studiert und die Mystiker, weil ich diese Denkweisen spannend fand. Ich mag Cagliostro und seinen Streit mit Don Juan. Ich mag das Voynich Manuskript. Aber ich glaube nicht an Magie, an Übersinnliches oder an Auren, Wunder oder Alchemie. Genauso habe ich die Gödel-Zahlen-Theorie fasziniert in mich eingesogen. Und das, obwohl ich nicht einmal in Versuchung gerate, mit diesen Zahlen zu jonglieren. Zu guter letzt: in meinem Bücherregal stehen zahlreiche Abhandlungen über Religion, die Theodizee, den Islam, das Christentum und das Judentum. Alles höchst spannend. Aber alles immer sehr endgültig. Wenn ich, so mein Argument, das selbst in meinen Ohren nicht perfekt klingt, eines Tages von einer Religion und ihren Überzeugungen übermannt werde, dann gäbe es für mich ja gar keinen Grund mehr, weitere Fragen zu stellen. Die Antwort läge ja jedes Mal in meinem Glauben und dem Objekt meiner Religiosität. Ich müsste nur das richtige Buch aufschlagen und mich mit der Antwort befriedigt geben.

Und die Frage selbst hätte für mich ihren wunderschönen Sinn verloren.

Ich habe Philosophie studiert, weil ich nicht wusste, was es war. Und Germanistik, weil ich die Welt hinter den Büchern und zwischen den Zeilen faszinierend anziehend fand. Am Ende fand ich in der Philosophie genau das, was ich in der Literatur immer gesucht hatte. Und umgekehrt begriff ich endlich die Gedankenwelt von den Worten zu lösen und Literatur und Philosophie als miteinander verschmolzenen Einheiten zu lieben. Von Anfang an löste die Literatur in mir die Fragen aus, indem sie immer so getan hatte, als liefere sie mir die Antworten. Von Aramis lernte ich zum Beispiel, was Liebe bedeutete. Von d’Artagnan lernte ich, wohin einen Stolz bringt. Aber ich war immer skeptisch, fragte mich, ob Aramis wirklich die richtige Liebe empfand – immerhin war er die meiste Zeit seines Lebens todunglücklich. Naja, zumindest, bis er sich entschloss, die Liebe Gott zu widmen. Und d’Artagnans Biografie ist nicht gerade ein Musterbeispiel für ein gelungenes Leben. War Stolz aber dadurch immer etwas Verwerfliches? So bahnte ich mir meinen Weg durch die Schätze der Literatur. Ich schrieb mich selbst in sie hinein und warf die Gedanken kreuz und quer in die aufgetürmten Gedankengebirge.

Aber Gott fand ich dabei nie. Und wenn überhaupt, dann brachte es mich höchstens fort von der Religion, weil ich sie nur als eine farbenreiche Antwort von vielen empfand.

Das religiöse Bedürfnis von dem Erich Fromm spricht, habe ich trotzdem. Ich suche auch Orientierung, einen Rahmen. Mein Objekt der Hingabe bin aber allerhöchstens ich selbst, auf eine Art, die mir nicht halb so egoistisch vorkommt, als wie es klingt. Und das ist so, dass ich mit vierzehn einmal auf einen Schulordner geschrieben hatte: „Wenn ich sterbe, dann bitte mit einem Lächeln auf den Lippen und auf keinen Fall mit Reue.“

Nur mal angenommen, ich hätte es: die für mich wahre Religion. In meiner letzten Sekunde, würde ich mich da nicht fragen: war es denn die richtige? Und wäre diese Frage nichts anderes als Reue? Wenn ich auf meinem Weg bleibe, und wenn ich davon überzeugt bleibe, dass Fragen mehr Wert sind als Antworten, dann kann mich die Unwissenheit am Ende nicht treffen. Dann kann ich die Augen doch schließen, oder?

Erich Fromm unterscheidet zwischen autoritärer und humanistischer Religion. Die erste ist die traditionelle, die Gehorsam fordert und völlige Unterwerfung Stärke verspricht. Humanistisch wäre eine Religion, wenn nicht ein Gott sondern ein Mensch im Mittelpunkt stünde. Das gefällt mir besser. Aber für mich ist es nichts Religiöses, wenn der Mensch sich um sich selbst dreht. „Der Mensch“, schreibt er, „muss seine Kraft der Vernunft entwickeln, um sich selbst, seine Beziehung zum Mitmenschen und seine Stellung im Universum zu verstehen. Er muss die Wahrheit erkennen, sowohl hinsichtlich seiner Grenzen, als auch seiner Möglichkeiten. Er muss seine Kräfte der Liebe für andere, aber auch für sich selbst, zum Wachsen bringen und muss die Solidarität mit allen menschlichen Wesen erfahren. (…) Das Ziel des Menschen in einer humanistischen Religion besteht darin, seine größte Stärke, nicht seine äußerste Ohnmacht zu erreichen; Selbstverwirklichung ist Tugend, nicht Gehorsam. Glaube bedeutet Sicherheit der Überzeugung, die auf jemandes Erfahrung im Denken und Fühlen aufbaut, nicht aber die Annahme von Lehrsätzen, aufgrund der Achtung vor dem, der sie vorgibt.“

Ich bin der, der diese Sicherheit nicht will. Alles andere unterschreibe ich. Aber der Glaube am Ende geht mir ab. Ich bin der, der auf Unsicherheit wandelt. Mag sein, dass es wie ein Taumeln aussieht, wenn die Erde unter mir bebt. Aber die Erde bebt ständig. Sie verändert sich. Die Menschheit verändert sich. Die Unsicherheit zu akzeptieren ist mein erster Schritt in Richtung Wahrheit. Von da ab kam Staunen.

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