Im Stockwerk über mir wohnt Gott – zehnter Teil: Wie Woziak manchmal gestrickt ist

Meine liebe Haerzenswort, gemeinsam verfolgen wir die nicht wirklich ernst zu nehmenden Gespräche mit unserem bizarren Hausgenossen nun schon seit 8 Runden. Noch lange ist kein Ende in Sicht. Hoffentlich bereiten seine Dialoge der getreuen Leserschaft genau so viel Vergnügen wie uns. Wohlan, eine neue Runde, eine neue Wahnsinnsfahrt, denn … 

… im Stockwerk über mir wohnt Gott. Er heißt Woziak. Eigentlich sieht er gar nicht wie Gott aus, sondern wie eine abgemagerte Version von Karl Marx. Die meiste Zeit trägt er grobe Rippunterhemden und dunkelblaue Jogginghosen. Er hat eine brummige Stimme und riecht wie ein Schnapsladen.

Wir treffen uns eigentlich immer nur im Treppenhaus. Meistens in der Kehrwoche. Ich habe schon versucht, ihm auszuweichen. Das würde ich als eine natürliche Reaktion bezeichnen. Aber wenn einer es drauf anlegt, dir über den Weg zu laufen, dann schafft der das auch.

Es ist so verflucht kalt, dass man den Februar in den Stirnhöhlen brennen spüren kann. Wenn ich tief einatme, nähre ich nur das Feuer da oben. Und die Augen kann man auch nicht richtig öffnen, so grell und weiß ist es heute im Hof.

Und dann sah ich Woziak. Oben auf der Mauer drauf sitzend. So ähnlich wie Humpty Dumpty oder die kleine Wanze im Kinderlied.

Was er da tut? Wenn mich nicht alles täuscht, hat er eins dieser bunten Mützenstricksets für Jugendliche und Hipster von vor vier Jahren und kämpft mit dem wechselfarbigen Wollknäuel.

„Ich stricke mir den Patriotismus zurecht.“, johlt er, als er meinen Blick wahrnimmt.

„Sehr patriotisch.“, sage ich. Dann kann ich nicht anders und ich ergänze: „Patriotismus ist die letzte Zuflucht des Schuftes.“

„Schön zitiert.“, lobt er und applaudiert mir mit den Stricknadeln wie Edward es mit seinen Scherenhänden tun würde.

„Ich hab auch eins“, prahlt Woziak. „Wenn man mir alles nimmt, Familie, Geld, Ehre, dann ist das letzte, was mir bleibt mein Vaterland.“

„Wer hat das denn gesagt?“

„Ist dir schon mal aufgefallen“, ignoriert er meine Frage, „dass die patriotischsten Menschen in den bemitleidenswertesten Zuständen leben? Wer vom Volk unterdrückt und geknechtet, ausgebeutet und ausgehungert und ausgemergelt und ausgesaugt wird, der ist am Ende immer eins.“, er macht eine dramatische Pause und ich nutze sie und rufe selbstbewusst:

„Selbstmordgefährdet!“

„Quatsch. Patriotisch.“

„Ist das selbe.“, kontere ich blitzschnell. „Und außerdem stimmt es nicht. Wir haben heutzutage doch auch einen wachsenden Patriotismus und eine Debatte um unsere ‚Heimat’, dabei geht es uns so gut, wie schon lange nicht mehr.“

„Gut gehen?“, er wischt mit der Hand mit Schwung über die Mauernkrone und lässt so eine breite Fläche Schnee auf mich herabregnen. „In Europa sind die Menschen so unzufrieden wie schon lange nicht mehr. Deshalb suchen sie sich ja alle das, was sie gemeinsam haben: ihr Vaterland, ihre Kultur, ihre Ethnie, ihre Sprache, …“

„Jaja.“, murre ich und beginne zu Schneeschnippen. Nach einiger Zeit frage ich dann aber doch nach: „Und was soll das mit der Mütze?“

„Das wird keine Mütze.“, widerspricht er.

„Das ist eine verdammte Mütze.“, ich habe die Schachtel eben schon auf dem Boden liegen sehen. Jetzt hebe ich sie auf und halte sie ihm unter die Nase. „Mütze. Da steht’s.“, sage ich und dann lese ich sogar vor: „Müt – ze.“

„Nur weil eine Mützenanleitung und ein Mützenknäuel in der Schachtel ist, heißt das noch lange nicht, dass auch eine Mütze dabei rauskommt, wenn ich mich an die Arbeit mache.“

„Das ist allerdings wahr.“, sage ich und grinse blöd. Ich hatte auch einmal so etwas versucht. Es war damals keine Mütze, sondern ein Häkelmännchen. Es hätte eigentlich ein total niedliches Kerlchen mit Rose in der Hand sein sollen, was ich meiner Frau zum Valentinstag geschenkt hätte. Leider sah das Ergebnis eher nach Halloween und die Rose eher wie ein blutiges Steakmesser aus.

„Ich bin auch mal an einem Häkelmännchen gescheitert“, will ich die Geschichte zu erzählen beginnen, aber er unterbricht mich mit einem bitteren Gröhlen.

„Ich scheitere nicht.“, sagt er stolz.

„Natürlich nicht.“

„Und erst Recht scheitere ich nicht an einer Mütze. Ich stricke nämlich keine Mütze, sondern ein Zelt. Und zwar nicht seit grad eben erst, sondern schon von Anfang an.“

„Ein Zelt?“, immer, wenn ich denke, es geht nicht irrer, … „Ein patriotisches Zelt?“

„Für die schnelle Eingreifstruppe der Bundeswehr.“

„Für die Nato?“

„Du liest auch keine Zeitung, oder? Die Familienministerin hat doch gemisswirtschaftet.“

„Ich glaube, du meinst die ehemalige Familien-“

„Die hat ihre Familie nicht richtig im Griff. Die hat alle Soldatenkinder in Vereine geschickt, damit sie zu Hause etwas Ruhe hat und dabei übersehen, dass da Vereinsgebühren anfallen. Jetzt hat sie der Nato versprochen, dass die deutsche Bundeswehr eine führende Rolle im internationalen Schachverein spielen soll. Und dabei gibt es nicht mal genug Zelte im Bundeswehrbestand.“, ihm fällt vor lauter Lamentieren der Wollknäueln nach unten in den Schnee und ich unterbreche die Arbeit, um ihm das verlustig gegangene Ende des Fadens wieder aufzuheben.

„Zehntausend Unterbringungseinheiten – so heißen die Zelte glaub ich im Militärjargon – zehntausend Unterbringungseinheiten müssen her. Und zwar Zackzack, noch so ein Wort aus der Fachsprache.“

„Du strickst zehntausend Zelte aus einer Wollmützschachtel?“, das Wort, das ich seit Wochen für Woziak suche, taucht endlich in meinem aktiven Wortschatz auf: Plemplem.

„Die Jungs müssen noch schneller, wendiger und handlungsfähiger werden. Und sie müssen gut ausgerüstet sein, wenn sie in den Frieden ziehen.“

„Das heißt ‚in den Krieg ziehen’.“

Er ignoriert das.

„An die Nadeln, Genossinnen und Genossen! Strickt für eure Kinder. Wir brauchen Pullover, Zelte, Socken und Kondome. – Am besten im Leopard-look.“

„Heiliger Strohsack. Woziak, komm da runter!“, sage ich jetzt. Er wird mir viel zu laut und ich an seiner Stelle würde mich in Grund und Boden schämen. Auf der anderen Seite der Mauer grenzt, soweit ich weiß, ein zweiter Hof mit einem kleinen Kinderspielplatz an. Bei dem Wetter wird keiner draußen sein, aber man weiß ja nie.

„Strickt Socken für eure Söhne, damit wir etwas gegen die ‚Grabenfüße’ bewirken können! Strickt Kondome gegen die Syphilis! Strickt Zelte für den Frieden!“

„Herr Woziak, du kommst mir sofort da runter!“, zische ich.

„Wir sind ein stolzes Volk, wir Europäer. Und auch wenn wir innerlich zerrissen sind, der Patriotismus wird’s schon richten. Er ist die Nahtstelle zwischen unseren Kulturen. Er ist der Kleister zwischen unseren Emotionen. Wir Patrouillieren an den Grenzen mit selbstgestricktem Patriotismus! Und wenn die Mama Oberin meint, wir müssen schnell und einsatzfähig sein, dann müssen die Kinder unseres Volkes besockt und bezeltet werden, wie es sich gehört. Das lassen wir uns nicht nachsagen, dass wir, da wir jetzt extra ein Heimatministerium eingerichtet haben, da wir jetzt die rechtesten Flügeltüren der Geschichte in den Regierungssälen wieder geöffnet haben, dass ausgerechnet wir nicht bereit sein sollen mit unserem auf allen Straßen und Gassen rausgebrüllten Patriotismus!“

„Herr Woziak! Verdammt noch eins!“, fluche und zische und husche ich ihn unaufhörlich an. Endlich nimmt er mich wahr.

„Verzeihung. Ich hab mich vergessen.“, meint er und sackt mit einem Mal ganz in sich zusammen.

„Wie wär’s, wenn du jetzt einfach runter kommst und für meine Tochter ein paar Babysocken strickst?“

„Mit dem Patriotismus ist es immer dasselbe. Erst wird’s einem ganz warm ums Herz, und dann fängt’s plötzlich an zu brennen.“

„Ja.“, ich helfe ihm tatsächlich von der Mauer wieder runter. Für einen Augenblick halte ich diesen Irren an meiner Hand, als wär er ein kleiner Junge und ich ein hilflos überforderter Vater.

„Ich glaub, ich sollt mir lieber was anderes stricken.“, stimmt er mir jetzt zu.

„Ja, das denk ich auch.“

„Vielleicht ein Whiskey-Wärmer.“, murmelt er. Und er torkelt über den nur spärlich geschippten Hof zurück ins Haus. „Ein Zigarettenschächtelchen vielleicht. Oder ein Schalldämpfer. Dass die Kinder in den Häusern nicht wach werden, vom vielen Krieg. Das wär vielleicht noch was.“

Und dann geht die Tür hinter ihm zu und der Irre vom Stockwerk über mir ist verschwunden.

Ein Teil verpasst? Kein Problem. Mehr Woziak gibt es hier:
Erster Teil: Warum Frauen immer kalte Füße haben 
Zweiter Teil: Warum der Regen heutzutage trocken ist
Dritter Teil : Spartaner und Barbaren
Vierter Teil: Bonobos rechtfertigen sich auch nicht
Fünfter Teil: Für mehr fußgängerfreie Zonen
Sechster Teil: Mission Impossible

Siebter Teil: Warum Woziak trinkt
Achter Teil: Frauentausch
Neunter Teil: Warum die Eiskappen schmelzen sollten

2 thoughts on “Im Stockwerk über mir wohnt Gott – zehnter Teil: Wie Woziak manchmal gestrickt ist

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