In der Fotografie-Ausstellung

Horaz schrieb einmal: An einem guten Muster werden immer, das Leichteste, die Fehler nachgeahmt.

Ich war auf einer Ausstellung. Fotografien von Landschaften. Und der Fotograf erzählte kleine Anekdoten; nur an einer Stelle zeigte er auf einen kaum sichtbaren schwarzen Flecken am Bildrand. Und er meinte, das würde keinem auffallen, jemals. Aber hier, da wo der Flecken sichtbar ist, das sei ein Schatten und der gehöre zu einer ganz anderen Geschichte. Der gehöre zu dem Stativ seiner Ex-Freundin. Und er sei so dankbar, dass beim Entwickeln nur dieser hauchdünne Abklatsch von ihr sichtbar wurde. Man hörte seine Verbitterung in der Stimme, die sogleich Umschwung in diesen großartigen Unterton, wenn man weiß, dass man etwas ganz Wichtiges sagt. Er meinte: Du entscheidest als Künstler, was zu sehen ist. Damit aber auch immer, was dem Bild abhanden kommt. Du zeigst nicht nur, du schweigst auch von Sachen. Von Ihnen abgesehen wird niemand auf diesem Bild jetzt meine Ex-Freundin sehen können.

Ja, dachte ich. Und während er weiterging, näherte ich mich dem Bild, weil ich es ganz genau anschauen wollte. Dieses Bild, dieser eine Blickwinkel, den der Künstler auf die Welt hatte. Und ich dachte, dass so eine Kamera in zwei Richtungen funktioniert. Der Künstler sieht durch das Objektiv nur diesen einen Ausschnitt von der Welt. Das Objektiv sieht umgekehrt aber auch nur diesen einen Ausschnitt von dem Fotografen.

Eine Person ist immer ein Blickwinkel, nicht wahr?

Wir bilden Muster von uns selbst.

Wir legen die Muster in unsere Schubladen wie Vergangenheitsfotos, die nicht immer nur zeigen, sondern immer auch mit jedem Einblenden ausblenden.

In den stillen Momenten kehren wir in unsere Galerie zurück und betrachten unsere musterhaften Bilder immer wieder aufs Neue, aufs Neue, aufs Neue.

Ich mag diese Galerie nicht.

Sie ist mir zu statisch. Ich wäre mir selbst fließend am liebsten.

Warum, frage ich mich, und wende mich ab von diesem jetzt durch die Anekdote so matt gewordenen Bild. Warum gefällt mir das stehende Muster von mir so wenig. Warum?

Horaz schrieb einmal: Die Gewohnheit ist ein Tyrann.

Ein schrecklicher Herrscher.

3 thoughts on “In der Fotografie-Ausstellung

  1. Es lohnt auf jeden Fall mal über diese Blickwinkel-Sache nachzudenken, und die Spur der Exfreundin in der Fotografie als Anlass dazu zu nehmen find ich sehr interessant. Dazu musste ich auch direkt an ein Gedicht denken, das ich vor vielen Jahren mal geschrieben habe:

    So nicht
    Verrück dich doch mal ein Stück
    Vielleicht siehst du von dort etwas, das dich zum Lächeln bringt
    Vielleicht sogar mich?

    Oder warte
    Ich werde mich verrücken
    Denn ich bin sicher, es gibt diesen einen Punkt
    Von dem aus sieht man dich lächeln

    Etwas hakelig, aber weils zum Thema passt wollt ichs mal dazuschreiben.. 😉

    • Danke, ich hab leider keine Ahnung mehr, wo ich mit Blickwinkel-Gedanken in der Kunst konfrontiert wurde. Dunkel assoziiere ich das tatsächlich mit einer Fotografin, aber nicht mal ein konkretes Bild ist mir in Erinnerung.
      Als ich Horaz las, imponierte mir dieser eine Satz, der hier auch als gefährlicher Einstieg dient.
      Dein Gedicht passt richtig gut auf den Blickwinkelgedanken! Hakelig ist das doch gar nicht. 😄
      Interessant ist: welchen Blickwinkel hat man von sich selbst? Stellt man sich selbst immer an „diesen einen Punkt / von dem aus sieht man [m]ich lächeln“? Was blende ich von mir aus? Und welches fehlerhafte Muster reproduziert man sich dann an sich selbst?!
      🤓😘

  2. Oh, alles interessante Fragen! Da liegt sicher sehr viel außerhalb unserer Wahrnehmung (und unseres Bewusstseins), ganz besonders was uns selbst betrifft. Dort setzen wahrscheinlich auch Affirmationen an, indem man sich durch Verinnerlichen bestimmter Dinge ein neues Bewusstsein schafft, beeinflusst das dann wiederum wie wir die Dinge wahrnehmen – und somit unser Leben. Das ist aber eine Arbeit, die nie zu Ende ist, und manchmal frage ich mich, ob das überhaupt irgendwo hinführt…aber zumindest nimmt man dann vielleicht öfter mal ein Lächeln wahr, das einem sonst entgangen wäre.. 😉

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