„Wir haben das Lob der Grenze nicht gelernt“, sagte Sloterdijk. In Deutschland glaube man immer noch, „eine Grenze sei nur dazu da, um sie zu überschreiten“. Innerhalb Europas schere Deutschland damit aus. „Die Europäer werden früher oder später eine effiziente gemeinsame Grenzpolitik entwickeln. Auf die Dauer setzt der territoriale Imperativ sich durch. Es gibt schließlich keine moralische Pflicht zur Selbstzerstörung.“ (Cicero 31.01.16)
Eine Grenze ist ein wundervolles Dilemma. Wir neigen tatsächlich dazu, sie als Trennelement wahrzunehmen, nicht wahr? Wir wissen um unsere Grundstücksgrenze und vergleichen gern den Nachbarsgarten mit unserem – meist mit verheerend entsetzlicher Gewissheit, dass wir das schönere Stückchen Welt im wahrsten Sinne des Wortes „ergattert“ haben. Wir ziehen eine Grenze um das herum, was wir Ich nennen und behaupten uns durch die gesundeste Form von Abgrenzung von den Anderen.
Ich erinnere mich daran, wie in der Schule so viele Lehrer mich immer mit meinem Banknachbarn verwechselten. Wir hätten, so entschuldigten oder erklärten sie die Verwechslung, wir hätten den selben Typ. Ich sah vor allem aber der siebten Klasse wie unterschiedlich wir waren und beharrte darauf, dass die Lehrer mich und nicht ihn in mir wahrnahmen. So oft sie mich mit seinem Namen ansprachen, verweigerte ich die Mitarbeit und als es mir wahrhaft zu dumm wurde und auch schon Mitschüler scherzhafterweise begannen, mich mit dem falschen Namen zu rufen, begann ich, den Spieß umzudrehen. Und so antwortete ich Herrn Müller auf die falsche Anrede mit: „Ja, Herr Speicher? Was gibt’s?“ oder Frau Sievers antwortete ich mit: „Frau Liebknecht, hier sind doch meine Hausaufgaben.“, wohlwissend, dass Herr Müller auf einen athletischen Körper bedacht und Herr Speicher eine überaus übergewichtige Erscheinung war und Frau Sievers von Frau Liebknecht den begehrten Lieblingsparkplatz abgeluchst bekommen hatte. Es dauerte keine zwei Wochen und die bittere Medizin tat ihre Wunder. Herr Müller sagte zum Beispiel eines Tages zu mir, dass er jetzt, da ich einen derart bissigen Humor bekommen habe, viel deutlicher die Unterschiede zu dem ach so ruhigen Banknachbarn wahrnehme.
Ich bedankte mich dafür.
Eine Grenze ist stets wichtig, dass wir sie achten und ehren. Sie zu überschreiten, wo kämen wir da hin. Dieser Akt der Revolution hätte mich ja dazu genötigt, die Ähnlichkeiten, die ich mit meinem Banknachbarn hatte, genauer in Augenschein zu nehmen, nicht wahr? Ein Grenze ist, und hier kippt das Bild ins Dilemma, stets das Gemeinsame, das die beiden Seiten, die auseinanderhält, verbündet. Der Türrahmen ist mir hier das Lieblingsbeispiel: wer darin steht, genau auf der Grenze zwischen Esszimmer und Küche beispielsweise, der steht an exakt der Stelle, die beide Räume gemeinsam haben. Er ist weder hier noch dort, weder jenseits noch diesseits. Der antike Schutzpatron alle Ein- und Ausgänge war der berühmte Janus. Wunderbar doppelköpfig, doppelgesichtig prunkt er über den Torbögen der Antike und blickt ich weißnichtwie in beide Richtungen gleichzeitig, halb Mann, halb Frau, halb hier, halb da. Ein Gott des Irgendwo.
Wer immerzu auf seine Grenze beharrt und sie nicht überwinden will, der beharrt auch darauf, keine Gemeinsamkeiten wahrzunehmen mit dem, was sich von ihm unterscheidet. Wer aber umgekehrt immer darum bemüht ist, seinen Kampf gegen Janus auszufechten und gegen die Grenze ankämpft, der eliminiert Identität.
Wir sind so herrlich gegenläufig programmiert, als wären wir alle Janus-Kinder. So gern wollen wir sein, wie niemand sonst und die Grenze hochhalten, die unsere Identität beschützt. Doch ebenso gern stürmen wir gegen alles an, was uns begrenzt und uns dazu zwingt, in unserem eigenem Garten ganz allein zu sitzen wie der Riese aus der schönen Fabel des englischen Dandys Oscar Wilde.
Das erinnert mich aber ein anderes, was ich Sloterdijk gerne empfehlen würde:
Lassen Sie uns doch ehrliche Stoiker sein, mein Herr. Solche, mit denen man auch im Dunkeln Gerade-Ungerade hätte spielen können. Wie wär’s?