Sprache – Essay

Wir leben in vollkommen verrückten Zeiten.

Die deutsche Bahn beispielsweise gab bekannt, ihren neuesten ICE nach Anne Frank zu benennen und man muss dieser scheinbar pietätlosen Institution auch noch zu Gute halten, dass sie beste Absichten damit hatte. Man wollte die Namensgebung im Sinne des Gedenkens an eine tragische Person der Geistesgeschichte geschehen lassen. Aber ein Zug, um Himmels Willen, nach Anne Frank; das wäre, als würde Gilette einen Damenrasierer Marie Antoinette nennen. Oder als ob Diercke seinen Weltatlas nun in einer alternativen Edition für die Flat-Earth-Bewegung herausbringe.

Ich weiß nicht, die Menschheit ist dumm geworden.

Dass Journalisten, das eigentlich Sprachrohr des Volkes den Unterschied nicht mehr kennt zwischen „anscheinend“ und „scheinbar“ ist noch zu verschmerzen, aber es gibt ja kaum noch einen Artikel ohne den „das“-„dass“- Verwechsler, keinen Radiobericht mehr ohne „das macht Sinn“ oder „dastellen“ statt „darstellen“, „seit“ als konjugierte Form von „sein“ und „seid“ als Zeitwort. Man könnte dieses Torkeln durch sprachliche Ungewandtheiten und Unsicherheiten von Seitens der eigentlichen Sprach-Professionellen noch durchaus als lustig auffassen, wäre da nicht das konsequente Verteidigen der Fehler durch das missmutige Kleinreden des Fehlers und das Kleinmachen all derer, denen die Sprache noch wichtig ist.

Dabei steckt hinter jedem gesprochenen Wort ein gedachter Gedanke und hinter jedem Gedanke steckt ein durch Taten gewirktes Leben. Wer in seiner Sprache kein Wort für Frieden hat, der kann sich auch nichts unter einem friedlichen Leben vorstellen: Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meines Verstandes.

Wahrscheinlich geht uns mit der Sprachexaktheit auch die Lebensexaktheit flöten. Es ist ja ohnehin gleichgültig, ob ich von einem Flüchtling rede oder von einem Menschen, ob ich von einem Präsidenten rede oder von einem debilen Narzissten. Es ist gleichgültig, weil die Welt einfach geschieht und wir als Zuschauer einfach nur vor der großen Politbühne sitzen und die Show genießen.

Dann kann es uns auch gleichgültig sein, was wir unter Wahrheit verstehen, dann ist aus dem berühmten Subjektivismus ein bedrohliches Anything-goes geworden. Man erinnere sich an die drei Blinden, die sich darum streiten, was ein Elefant sei. Jener, der den Rüssel betastete, hält den Elefanten irrigerweise für einen Gartenschlauch und jener an den Beinen für einen Baumstamm, wogegen der letzte am Schwanz von einem pinselähnlichen Objekt redet. Und alle haben ja nicht so unrecht. Alle haben ja nur ihre eigene Perspektive auf die Welt.

Wenn ich also behaupte, die Erde sei eine Scheibe, dann ist das nur meine Perspektive und niemand darf mich dafür verurteilen und behaupten, ich irre mich, es sei alles falsch, mein Weltbild katastrophal der Wirklichkeit gegenüber konträr, etc.

Wir leben ja im subjektivistischen Zeitalter, das mal wieder niemand verstanden hat aber hauptsache, jeder darf jetzt behaupten, was er so meint, behaupten zu müssen.

Es ist ja nicht mal mehr unterscheidbar, ob mein Gegenüber mich veralbern möchte, wenn er behauptet, er sei sich nicht sicher, ob wir überhaupt in Deutschland lebten oder Teil einer gewaltigen Fabrik seien, oder ob er das innbrünstig ernst meint.

Vor ein paar Jahren hat das Wort „Postfaktisch“ die Runde gemacht. Es geisterte wie die Pointe eines schlechten Scherzes durch die Gassen und seither ist wieder jeder krampfhaft darum bemüht, dem eigenen Klischee des postfaktischen Zeitgenossen gerecht zu werden.

Wenn wir nicht mal mehr wissen, was der Unterschied ist zwischen faktischer Wahrheit und Meinung, wenn wir den Unterschied nicht mehr kennen zwischen dem wissenschaftlichen Wort „These“ und „Meinung“, dann kann ich auch behaupten, die Religion sei eine alternative, gleichwertige These zur Wissenschaft. Und wenn ich Religion für eine Sache des Glaubens halte, dann kann ich auch an den größten Nonsens glauben und es als Alternative zur Wissenschaft erachten.

Wir leben in fürwahr verrückten Zeiten.

Als haben wir kurz vor größten Errungen gestanden und die Katastrophe von Babel habe sich wiederholt eingestellt. Tragischerweise diesmal ohne fremdes Zutun. Es ist alles irgendwie ganz von alleine geschehen.

„Ich fürchte mich so vor des Menschen Wort“, sagte Rilke einst. „Sie sprechen alles so deutlich aus.“ Ach Rainer Maria, schau vorbei und sieh, wie poetisch es wäre, wenn alle lallen und lachen und nicht wissen worüber, wenn der große Abgesang auf Exaktheit Einkehr gefunden hat. Ich sag dir: Dieses heißt Hund und jenes heißt Haus. Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott, sie wissen nichts, was wird und war; jed Berg ist ihnen verschacherbar. Ihr Garten und Gut grenzt grad an Gott. Den Gott ihres eigenen, begrenzten Egos.

Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern von dieser Dunkelheit, die ihr euch über die Geister legt. Aus der Wahrheit die Dinge singen hör ich so gern!

Was sagt ihr dazu?