Treue Leser erinnern sich vielleicht an die Geschichte von Kapitän Borion. Im selben Zusammenhang wie diese Figur, entstand auch eine eigene Welt. Nun muss ich aber zunächst gestehen, dass die Idee dieser Welt auf einen sehr guten Freund mir zurückgeht, der mich vor langer, langer Zeit gebeten hatte, ob ich mit kleinen Geschichten, diese Welt sozusagen ‚zum Leben erwecken‘ könnte. Daraus ist ein Fantasy-Abenteuer-Roman entstanden, gespickt mit Legenden und Anekdoten, mit Göttergeschichten und allem, was das Herz begehrt. Die folgende Legende wird in dem Reich Cornea erzählt, um ein einzigartiges Naturphänomen im Herzen der Salzwüste zu erklären. Es ist die Legende der Ebenen von Anun.
Man erreicht die Ebenen von Anun ganz plötzlich. Mit einem Mal ist die Welt zu Ende und der Boden fällt kratertief ab. Es sind endlose Meter, die vor den Augen herabstürzen, ehe es in der Tiefe weiter geht.
Die Welt hat hier eine Stufe. Es ist eine der zehn Stufen, die Prinz Anuneh’adas in die Wüste hat schlagen lassen.
Einst war Anuneh’adas ein mächtiger Herrscher gewesen. Zu einer Zeit, da selbst die alten Götter noch nicht geboren waren. Er war kein Prinz über ein einfaches Reich, er der Prinz eines Imperiums. Auf sein Wort hörten alle Tiere der Luft, alle Tiere des Wassers und alle Lebewesen der Erde. Er befahl, dass das Salz zu wachsen habe, und das Salz wuchs und es bedeckte einen großteil des Reiches. So schuf er sich zur Geliebten die Herrin Salzwüste. Diese hatte aber einen eigenen Kopf. Und sie widerstand seiner Pracht und versagte ihm ihre Liebe.
Daraufhin befahl er der Begierde, diese habe von Herrin Salzwüste Besitz zu ergreifen. Doch hatte die Begierde keinen Zugang zum Reich des Salzes.
So befahl der Prinz Anuneh’Adas allen Tieren der Lüfte seines Reiches, die Begierde in das Herz der Herrin Salzwüste zu tragen. Als die Tiere zu fliegen begannen, ahnten sie nicht die Richtung, die ihnen die Reise auferlegen würde. Und so flogen sie in alle Richtungen zugleich, und brachten von Zeit zu Zeit die Kunde ihres Versagens, da sich das Herz der Herrin Salzwüste nicht so einfach finden ließ, wie der Prinz es sich gedacht hatte.
Als letztes nun ließ der Prinz an den Rand der großen Salzwüste einen Tempel errichten, der so groß und prunkvoll war wie noch kein Tempel zuvor und es auch seitdem kein Tempel mehr sein sollte.
Es war ein Palast mit neunhundertneunundneunzig Türmen und mit neunhundertneunundneunzig Brunnen. Es reihten sich neunhundertneunundneunzig Mauern hintereinander, und so dauerte es neunhundertneunundneunzig Jahre ehe das Bauwerk errichtet war, einzig zu einem ganz besonderen Zweck:
Es stand genau in der Mitte dieses Reiches eine Schar steinerner Elefanten, die auf ihren breiten Rücken eine Platte trugen. Auf dieser stand eine Schar Flamingos mit nach oben gereckten Flügeln, worauf eine zweite, kleinere Platte ruhte. Eine dritte Platte wurde darauf von einer Schar barhäuptiger Sklaven gehalten und eine vierte, deutlich kleinere von allen Kindern einer Generation.
Auf all diesen Platten standen alle Namen der Götter, die es bis zu jenem Zeitpunkt gegeben hatte und die es seitdem noch geben wird. Es standen darauf die Namen der Götter in allen Sprachen, die bis zu jenem Zeitpunkt gesprochen wurden und seitdem gesprochen werden und, lediglich auf der obersten, stand in der Schrift, die den Atem des Prinzen gleichkam, ein geheimnisvolles Wort. Es war jenes eine Wort, das nicht zu sprechen ist, nie zu sprechen sein wird und nie gesprochen wird. Es ist das Wort, das den Ursprung des Lebens bezeichnet und das Ende der Welt.
Nachdem der Prinz dieses eindrucksvolle Bauwerk errichtet hatte, begab er sich auf die Reise zum Mittelpunkt seines Palastes. Und als er nach neunhundertneunundneunzig Jahren dort ankam, bestieg er einen auf ihn wartenden Vogel, der ihn zur Spitze jener lebenden Pyramide trug. Dort wagte er es, jenes geheimnisvolle und überaus mächtige Wort zu sprechen, in der Absicht, mit diesem Wort das Herz der Herrin Salzwüste zu erwecken, auf dass all jene Tiere der Lüfte, die er ausgesandt hatte, es zu finden in der Lage waren, und darin die Begierde fallen zu lassen, auf dass Herrin Salzwüste, sich seiner erbarmte und sich mit ihm vermählte.
Doch was geschah, kaum dass er das Wort gesprochen hatte, war ein gewaltiges Beben.
Die Palaststadt, die er in all den Jahren geschaffen hatte, wurde von der Welt, die sie umgab, verschlungen. Ein Krater tat sich auf und zerrte an den Mauern. Der Palast senkte sich, Klafter für Klafter, Meter für Meter. Und es vergingen Jahrhunderte ehe das Beben endete und der Palast tief in der Finsternis zur Ruhe kam.
Da überkam den Prinzen Anuneh’adas eine allumfassende Wut. Er richtete seinen Zorn gegen die Götter seiner Zeit und wagte es, diese mit einem Streich zu vernichten, weil er glaubte, dass diese es schuld waren, dass ihm nicht gelang, was er begehrte.
Daraufhin verfluchte und verdammte er die Stadt, weil er sah, wie nutzlos ihm sein Plan geworden war.
Und zuletzt richtete er seinen Zorn auf die, deren Zuneigung er nicht hatte gewinnen können.
Doch er verfluchte oder vernichtete Herrin Salzwüste nicht, so wie er es mit den Göttern oder der Palaststadt getan hatte.
Stattdessen schlug er die Stufen in sie hinein: zehn an der Zahl. Jede Stufe brachte Herrin Salzwüste eine Ebene, so weit, dass man einen Tag und eine Nacht bedurfte, sie zu durchqueren. Und eine jede von ihnen war an Schrecken und Elend groß. Jede Stufe war eine Wunde, die der Herrin Salzwüste zugefügt wurde. Jede Stufe war getränkt mit Blut und dürstete nach demselben.
Auf jeder Ebene sollte Herrin Salzwüste eine Qual erleiden.
Und an jeder dieser Qualen erfreute sich das Herz des Prinzen.
Es heißt: der Prinz habe am Ende, nachdem die zehnte Qual der Herrin Salzwüste zugefügt worden ist, zu Lachen begonnen. Und es war ein Lachen, das so laut und so tief und so ehrlich war, dass ihm das Zwerchfell unter der Brust zerriss, und ihm das Leben aus dem Leib fuhr.
Herrin Salzwüste indes lebt noch heute. Ihr blieben die zehn Zeichen des Elends und der Qual, was ihr zugefügt worden ist: die zehn Ebenen von Anun genannt.