Marie Mallarmé – Kapitel 2 (1)

„Das nennen sie Götterspeise.“, sagte eine sehr leise Stimme von der Seite.

Marie Mallarmé sah sich um und blickte in das verschwörerisch lächelnde Gesicht eines Mädchens mit Haaren, die links und rechts, wie Vorhänge im Theater, das zierliche Gesicht umrahmten.

„Und mich nennen sie Claudine.“, sagte das Mädchen weiter und hielt ihr scheu die kleine Hand entgegen. Marie Mallarmé hörte auf, mit der Gabel mit den viel zu großen Zinken auf der wackligen, roten Oberfläche rumzupicken. Sie sah das Mädchen an, und deren Vorhanghaare, sie sah auf die kleine Hand hinunter und dann nahm sie die Hand und brachte mit diesem Händeschütteln Claudines Gesicht zum Strahlen.

„Du bist Marie, nicht wahr? Marie Mallarmé. Die mit den Albträumen.“

Auf ihren überraschten Gesichtsausdruck hin wurde das Lächeln von Claudine noch breiter. „Das wissen hier alle. Da schau, da hinten. Die Frau ganz in Weiß. Die hinter Dr. Zeller steht. Das ist Moineau Colombe. Ich weiß, ein ungewöhnlicher Name. Wir nennen sie Colli. Aber sie ist eine richtige Schnattertante. Sie nennt es: die Kinder auf das neue Kind vorbereiten. So macht sie, dass es ok ist, wenn man eigentlich nichts anderes tut, als Gerüchte verbreiten. Verstehst du? Sie schnattert hier und da. Ununterbrochen. Es ist total schwer, sie einmal beim Schweigen zu erwischen. Und sie hat uns eine ganze Woche lang von dem neuen Mädchen erzählt, das hier bei uns wohnen wird. Marie Mallarmé. So heißt das Mädchen, hat sie gesagt.“

„Und was noch?“

„Dass du Albträume hast. Und dass du wohl schüchtern sein wirst. Und dass wir dich nicht auf die Albträume ansprechen dürfen, oder auf deine Eltern und erst recht nicht auf deinen Papa.“

Marie Mallarmé spürte, wie sie errötete. Deshalb wandte sie sich ab und stocherte wieder in der sehr künstlich aussehenden Götterspeise herum.

„Es hat gar nichts mit Götterspeise zu tun.“, erklärte Claudine weiter. „Sie nennen es nur so. Aber ich erinnere mich, dass ich mal echte Götterspeise gegessen hatte. Und das schmeckte ganz anders.“

Ein Junge setzte sich einfach zu ihnen an den Tisch und fügte hinzu: „In der Welt da draußen schmeckt alles ganz anders als hier drin. Hier drin schmeckt eigentlich überhaupt nichts.“

Dann, als der Junge seinen Teller abgestellt hatte und sich die etwas mit Vanillesoße verschmierten Hände an der Hose abgewischt hatte, hielt er dem neuen Mädchen die Hand entgegen.

„Bernard.“, sagte er einfach nur.

Marie Mallarmé nahm auch seine Hand und als sie nun aufsah, erkannte sie ihn von dem Bild im Flur.

Ehe sie ihn darauf ansprechen konnte, meinte er zu Claudine: „Hast du ihr schon die Regeln erklärt?“

Claudine wirkte eingeschnappt, als sie antwortete: „Ich habe höflicherweise erst einmal versucht, mich mit ihr bekannt zu machen. Und das heißt ja noch lange nicht, dass sie uns überhaupt mag, Bernard. Vielleicht will sie gar nichts mit uns zu tun haben.“

Bernard seinerseits sah nun sehr gekränkt drein und bemühte sich von jetzt an, so zu tun, als kümmere er sich ausschließlich um sein Essen.

„Entschuldige bitte meinen Bruder.“, sagte Claudine nun an Marie Mallarmé gewandt. „Seine Manieren sind genauso struppig wie seine Kleider.“

Das brachte das neue Mädchen zum ersten Mal in diesem Haus zu einem echten, wenn auch kurzen Lachen. Und da beschloss Claudine, dass sie gerne mit diesem neuen Mädchen befreundet sein wollte.

Um genau zu sein, verhielt sich die Sache mit den Freundschaften unter den Kindern des Heiligen Geist sehr eigentümlich. Und um noch genauer zu sein, war das Collis Schuld. Sie war tatsächlich das, was Claudine eine Schnattertante bezeichnete. Gerne erzählte sie im Vorfeld allen Kindern, was bald für ein neues Kind im Heiligen Geist ein neues Zuhause bekommen sollte. Sie erzählte so viel, wohl um das Gefühl zu haben, dass sie die allen überlegene Alleswisserin sei, dass sie überhaupt keine Rücksicht darauf nahm, welche Wirkung ihre Worte bei den Zuhörern auslöste. In der Regel lösten ihre Worte nämlich sehr großes Unwohlsein aus. Keines der Kinder empfand die Kindern natürlicherweise eingegebene Neugierde, wenn es um Neuankömmlinge ging. Im Gegenteil: Als Marie Mallarmé sich dem Haus näherte, geführt von Charlesdos, da hatten sich viele die Nasen an den Fensterscheiben breitgedrückt, um einen ersten Blick auf das Mädchen erhaschen zu können, von dem sie schon so viel Ungeheuerliches gehört hatten, und mit dem sie alle gerade deshalb nichts zu tun haben wollten. Sie war das Mädchen, das in ihren Träumen die Monster eingepackt hatte, so wie man in Koffern seine Kleider transportiert. Und diese Monster, da waren sich alle sicher im Haus, diese Monster waren echt. Denn jedes Kind im Heiligen Geist hatte seine Erfahrungen mit Monstern schon gemacht gehabt. Auch Claudine und Bernard hatten ihre Monster, sonst wären sie ja auch nicht hier, nicht wahr? In der Obhut von Doktor Zeller, der alle Kinder von allen Monstern ja retten wollte.

Es war ein besonderer Umstand, der Marie Mallarmé zuteil wurde, ohne dass sie das auch nur ahnte: Dass sich Claudine und Bernard dem neuen Mädchen näherten, war nicht normal. Um genau zu sein, taten sie das nur, weil eine kurze Zeit vorher Claudine sich über die Maßen über Colli und deren Schnattermund geärgert hatte und deshalb nur zu bereit war, genau das Gegenteil von dem zu tun, was Colli sonst bei den Kindern mit ihren Geschichten bewirkte.

Als Claudine und Bernard die Mensa betreten hatten und sahen, dass das neue Mädchen schon an einem Tisch saß, da hatte Claudine zu Bernard nämlich gesagt: „Es ist mir egal, was die Colli so erzählt. Und es ist mir egal, was die anderen Kinder denken. Ich gehe jetzt da rüber, und ich spreche sie an.“

Bernard, der in vielen Situationen sich einfach auf das verließ, was seine große Schwester entschied, nickte jetzt einfach. Und dann stapfte Claudine stolz auf Marie Mallarmé zu. Aber sie machte natürlich einen Umweg, so dass sie direkt bei Colli vorbeikam, die neugierig aufschaute und alles mitverfolgte, was von da ab geschah.

Claudine genoss es, dass Marie Mallarmé und sie ins Gespräch kamen. Sie genoss es, weil sie wusste, dass Colli dort hinten stehen würde, alles beobachtete und dass es in ihrem Kopf rattern würde, was diese Freundschaft jetzt solle. Aber noch viel mehr genoss es Claudine, dass sie feststellte, dass sie Recht hatte: Marie Mallarmé war ein sehr nettes, ruhiges und liebens- und kennenswertes Mädchen. Und sie war keineswegs so, wie Colli sie geschildert hatte.

(…)

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