Marie Mallarmé – Kapitel 3 (3)

Ganz sicher war Marie Mallarmé nicht jemand, die auf dieser Welt anderer Leute Sachen zerstörte. Obwohl ganz sicher in dieser Welt andere Leute mit ihren Sachen Marie Mallarmé zerstört hatten.

Als Marie Mallarmé dieses rot-weiß-blaue Modell in der Hand gehalten hatte, wusste sie natürlich bereits noch bevor Dr. Zeller ihr mit seiner falschen, väterlichen Art erklärte, dass dies ein Molekülmodell sei, was sie da in der Hand hielt.

Ganz automatisch hatten ihre Hände danach gegriffen und genauso automatisch hatte sie daran gedreht und das Geräusch war in sie eingedrungen, dieses Krrrrk kräääk, das nicht richtig war.

Das war nur das Geräusch eines Modells. Moleküle klangen anders, wenn sie verschoben wurden.

Ein wohlig warmes Kribbeln ging von diesem Kugelgebilde aus, das groß in ihren kleinen Händen lag. Es fühlte sich an, als ob ihre Hände einschlafen würden, angefangen bei den Fingerspitzen. Und dieses Kribbeln wanderte langsam von den Fingerspitzen zu den Handgelenken. Und von dort die Arme hinauf.

Marie Mallarmés Kopf legte sich leicht schräg.

Die Worte von Dr. Zeller waren ruhig und monoton. Er hatte eine sehr tiefe Stimme, die sie mehr mit dem Knochen im Brustkorb aufnahm als mit den Ohren. Eine Stimme, die sich über ihre Augen legte und sich mit dem Kribbeln verband, das von dem sich drehenden Ding in ihren Händen nach oben bewegt hatte und sich über die Schultern dieses kleinen Mädchens wölbte.

Wenn Marie Mallarmé das Wort gekannt hätte, dann hätte sie vielleicht an dieser Stelle gedacht, dass das, was mit ihr geschah, eine Art Hypnose war.

So aber dachte sie: wir sinken.

Keine Panik, keine Angst wallte in ihr, nur Neugierde.

Sie sank. Gemeinsam mit diesem sich drehenden, krächzenden Modell in den Händen. In eine Wolke aus dunklem Staub, der leider nach etwas Vertrautem roch.

Von Dr. Zellers Worten bekam sie gar nichts mehr mit. Was er redete, das waren nur Schallwellen, die diese dunkle, sich immer weiter verdichtende Staubwolke ab und zu zum Zittern und Wabern brachte.

Was sie mitbekam, war ein Blick in diese Staubwolke hinein, in die sie versunken war.

Tief, tief drinnen in ihr, konnte sie sie sehen. Jedes einzelne konnte sie sehen. Mit diesem vertrauten Geruch. Mit diesen vertrauten, weit, weit entfernten Geräuschen.

Sie sah die Moleküle dieser Welt. Sah, wie tausende von winzig kleinen Punkten hin und her schwebten, zitternd. Einige waren mit einander verbunden, hingen aneinander, blieben in ihrer Konstellation. So wie Sternbilder. Und Marie Mallarmé wusste, dass es auf die Perspektive ankam. Wenn sie zurücktreten würde, dann würde sie sehen, dass einige Sternbilder mit anderen Sternbildern zusammenhingen. So als würde eine Kraft, wie Magie, die Moleküle alle aneinander drängen. Und wenn sie noch weiter zurück träte, dann würde sie, Schritt für Schritt, immer mehr Konturen und immer weniger Moleküle sehen, bis sich Elemente zeigten, und dann Körper. Bis es die Welt zeigte.

Aber sie trat nicht zurück. Im Gegenteil. Sie trat vor. Denn da war etwas, das ihre Aufmerksamkeit sofort auf sich gezogen hatte.

Sie hatte es beim ersten Mal schon gesehen, damals in ihrem Elternhaus. Auf der Treppe. Und deshalb wusste ihr Unterbewusstsein, wonach man Ausschau halten musste.

Die Welt, schoss es ihr durch den Kopf, ist falsch zusammengesetzt. Die Moleküle sitzen nicht richtig auf ihren Plätzen. Alles ist falsch. Alles ist aus den Fugen geraten.

Die Aufmerksamkeit war von einem kleinen Molekül ausgegangen, das nicht so will zuckte und zitterte, wie die andern. Und so trat sie vor, ohne überrascht zu sein, dass tatsächlich dieser Teil der schwarzen Wolke größer wurde, bis eine Kugel dieser Konstellation so groß war wie ihre kleine Faust. Sie sah sich das Gebilde ganz genau an. Und das Gebilde spiegelte sich in ihren Augen.

Sanft hob sie die Hand.

Es war eine Sphäre, eine Kugel, ja, aber durchsichtig, ohne echte Hülle, ohne, dass es einen festen Mantel gegeben hätte. Stattdessen wirbelten um ein silbrig leuchtendes Lichtfleckchen zahllose Dinge herum. Und weil die so schnell waren und so klein und so zahlreich, sah alles so aus, wie ein faustgroßer, halbdurchsichtiger Planet.

Das silbrige Licht im Zentrum flackerte und es spie kleine blaue Flammen aus, die das Bedürfnis weckten, sie einmal anzufassen.

Marie Mallarmés Hände legten sich sachte von außen um diese Sphäre und jetzt strömte das Licht wie ein von flüssigen Blitzen umspielter Arm um ihre Hände. Die Flammen jagten in dünnen, pflanzenähnlichen Linien aus der Sphäre heraus und wickelten sich um sie. Wärme durchströmte das Mädchen. Ein unfassbar schönes Gefühl, wie es nur in ihrer Erinnerung existierte und sie verstand, dass sie sich geirrt hatte und sie verstand in nur einem Sekundenbruchteil die Tragweite ihres Irrtums.

Mit einem Schlag verschwand das Trugbild. Sie hörte das Ding in ihrer Hand brechen und erschrak.

Sie sah Dr. Zeller, der erschrocken auf sie zukam.

Völlig von der eigenen Panik überrascht, drückte sie dem Mann das in drei Teile zerbrochene Modell in die Arme und stürzte davon.

Sie rannte aus dem Büro auf den Flur, stürzte ins Treppenhaus und war keine Minute später in ihrem Zimmer.

Ein Schrei wollte sich in ihr Bahnbrechen, aber es fehlte ihr eine Stimme.

Es tobte in ihr, riss ihren Körper haltlos gegen die Innenseite der Tür, sodass diese endgültig ins Schloss fiel. Sie stürzte gegen die Wände, warf sich hierhin und dahin. Ihr kleiner Körper stieß gegen das Bett, den Tisch. Es war, als hätte ein unfassbarer Wahnsinn Besitz von ihrem Körper ergriffen. So warm und schön es sich eben in der Wolke noch angefühlt hatte, so kalt und stumpf war die Welt jetzt.

Marie Mallarmé kämpfte und rang mit dem Schrecken, den nur eine schreckliche Erkenntnis auslösen konnte:

Die Welt war wahrlich durcheinander geraten, als der Fremde damals vor seinem Vater die Bombe gezündet hatte und die ganze Welt war in Rauch aufgegangen. Die Moleküle hatten sich zerstreut und waren nicht alle wieder an ihre richtigen Plätze zurückgesprungen.

Aber hier, dieser Teil der Welt, dieses Gebäude, das alle den „Heiligen Geist“ nannten, war so durcheinander gewirbelt, dass kein Molekül an seinen rechten Platz geraten war. Bis auf das eine.

Marie Mallarmé hätte es nicht besser denken können als so: Wenn die Welt aus den Fugen geraten war, dann befand sie sich hier genau im Innern der Fuge. Nichts war hier, wie es in Wirklichkeit sein sollte.

Der großartige Thomeo, der zu diesem Zeitpunkt gerade das zerbrochene Modell aus dem Papierkorb klaubte, um es in seine Kammer zu bringen, hatte das auch schon längst begriffen. Er hatte auch eine Vorstellung davon, dass diese Welt nicht so richtig war, wie die Welt vor ein paar Jahren.

Er hatte im Unterschied zu Marie Mallarmé keine Ahnung, was diese Fehler auf unterster Stufe der Realität ausgelöst hatte. Aber er hatte einen Sinn dafür, schon immer gehabt. Und der großartige Thomeo hätte Marie Mallarmé in dieser Nacht einen Namen dafür nennen können: er nannte es die Falschwelt.

„Und deshalb“, hätte er ihr sagen können, wenn er nur bei ihr gewesen wäre, „gelten hier im Heiligen Geist ganz, ganz andere Gesetze als die Naturgesetze.“

Und er hätte abenteuerlustig gezwinkert und ihr versprochen: Du wirst schon sehen!

Womit er, wenn er es gesagt hätte, Recht gehabt hätte.

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