Marie Mallarmé – Kapitel 4 (1)

Man darf ruhig glauben, dass schon von Anfang an, Marie Mallarmé nicht von Ehrfurcht ergriffen war, sondern von dem Gefühl, grenzenlos überfordert zu sein. Sie stand vor all den vielen Kleinigkeiten, die von nun an ihr Leben bestimmen sollten, fremd und scheu und ohne Bezug zu den Dingen, die da geschahen.

Die Kinder im Heiligen Geist pflegten allmorgendlich in dem großen Vorraum zu den Duschen ihre Kleider abzulegen und das kleine, fremde Mädchen wurde von allumfassender Scham ergriffen. Natürlich war ordentlich zwischen den Geschlechtern die Zeit geteilt worden. Zuerst durften die Jungen sich sauber machen und anschließend die Mädchen. Aber noch nie zuvor hatte die arme Marie Mallarmé vor so vielen fremden Mädchen sich seiner Kleider entledigt, oder auch nur mitangesehen, wie andere dies vor ihr taten.

Als Claudine neben ihr an einem hölzernen Gefach ihre Kleider verstaute, tat Marie es ihr nach, wohl darauf bedacht, das große, schlanke Mädchen ja sehr genau aus den Augenwinkeln zu beobachten und jede noch so kleine Bewegung nachzuahmen. Doch als Claudine sich die Schlafbluse über den Kopf streifte und sogleich mit nacktem Oberkörper neben ihr stand, senkte Marie Mallarmé scheu die Blicke.

Sie konnte nichts sehen als ihre kleinen, nackten Zehen auf dem feuchten, dunkelroten Fliesenboden. Und um sie herum hörte sie das Abstreifen von Kleidern, das Kichern und Schwatzen von unzähligen Stimmchen und das plitschplatsch, zupp-schlupp der Kinderfüße über den Boden. Sie hörte wie die ersten Duschen ihr Wasser nach unten spien und die Stimmen die vor Schreck kreischten, weil die Jungs am Ende alle ihre Duschen auf eiskalt gestellt hatten, um die Mädchen damit zu ärgern und zu erschrecken. Ein Streich, der ihnen fast immerzu gelang.

Claudine hatte wohl ein sehr feines Gefühl für die Gedanken und die Scham, die durch Marie Mallarmés kleinen Brustkorb wälzten. Eine Weile dachte sie darüber nach, wie man da wohl am besten reagieren musste.

Dann kam ihr der Gedanke, dass Marie Mallarmé ihr Leben lang keine solche Duschräume gesehen oder gar genutzt hatte. Es ist nämlich etwas ganz anderes, ob man unter einer gläsernen Duschkabine steht oder in einem großen Raum, von deren wenigen Wänden sehr viele Duschköpfe hervorragen und das Wasser nur so durch den ganzen Raum spritzt. Eine einzelne, gläserne Duschkabine in einem weißen Raum, das kam Claudine jetzt wie eine weit entfernte Erinnerung vor und zwar eine, an der noch so viele ganz andere Erinnerungen klebten, wie die Tautropfen in einem Spinnennetz.

Eben weil Claudine beim Anblick des gesenkten Kopfes des kleinen Mädchens so viel verstand, sagte sie etwas vollkommen unerwartetes. Sie sagte nämlich nicht: „Ist schon gut“ oder „Sei nicht traurig“, sondern sie sagte:

„Es ist nicht zu Hause.“, und es war keine Frage, sondern eine Bestätigung.

Daher sah Marie Mallarmé auch auf.

„Es wird auch nie ein zu Hause sein.“, fuhr Claudine fort. Es war die Art von harten Worten, die selbst Erwachsene unter einander nicht zu sagen wagten, und ist es einem noch so ernst und ehrlich zu Mute. Aber Claudine war so ehrlich, wie man nur sein konnte. Sie kniete sich neben ihre neue Freundin und war so auf Augenhöhe mit ihr, als sie weitersprach:

„Es ist nicht schön. Es ist nicht warm und gemütlich. Nicht geborgen oder sonst was, was ein zu Hause sein sollte. Es gibt Erwachsene hier und es gibt Kinder. Es gibt Essen und Trinken, ein Bett zum Schlafen und ein Dach überm Kopf. Und es gibt die Duschen, die jeden Morgen und jeden Abend warmes Wasser für uns haben. Und das ist wichtig. Weil es da noch etwas gibt. Es gibt Tage. Immer wieder und wieder und wieder. Sie kommen durch die Fenster rein und wecken uns auf und es geht los. Ob es das Dach gibt oder nicht. Ob es die Betten gibt oder nicht. Das ist den Tagen egal, weißt du. Sie kommen und du wachst auf, stehst auf und bewegst dich, bis zum Abend, wenn du zu müde zum Stehen bist. Es geht immer weiter, Marie Mallarmé. Es hört nie auf. Es ist schlimm. Aber es wäre schlimmer, wenn es das Essen, das Trinken, das Dach, das Bett und die Duschen nicht gäbe. Verstehst du?“

Natürlich verstand sie.

Marie Mallermé nickte.

„Komm. Wir ziehen uns fertig aus und duschen uns.“

Sie nickte wieder.

Als sie später unter der Dusche standen und die anderen Mädchen um sie herum damit aufgehört hatten, zu duschen und statt dessen lieber mit dem Wasser spritzten und zankten, da sagte Marie Mallarmé zu Claudine:

„Und es gibt Freunde.“

„Ohne die, wär alles nichts.“, antwortete Claudine erst geheimnisvoll, dann musste sie aber lachen und Marie Mallarmé fiel in das Lachen ein.

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