Virtuelle Staaten – Essay

„Das Internet ist das größte Anarchismusexperiment aller Zeiten.“, sagen Eric Schmidt und Jared Cohen, ehemaliger CEO und Gründer von Google, in ihrem Buch „Die Vernetzung der Welt“.

Ich mag diese Vorstellung irgendwie. Dass das alles nur ein Experiment ist. Ein Spielhof, auf dem man zuschauen kann, wie der Mensch so funktioniert.

Dezentralisiert, dieses Wort kommt sehr oft in diesem Buch vor. Und es wird voller Stolz gebracht, obwohl es sonst ein sehr amerikanisches Buch ist. Die Utopie, die gezeichnet wird, kommt vor allem in diesem Wort zum Ausdruck. Das Internet ist dezentral. Es handelt sich um ein Netzwerk aus individuellen Vorstellungen und es wird dadurch gestaltet, dass es benutzt wird. Der Mensch ist der vollkommen freie Mensch im Internet. Der Staat ist der „Torhüter“, der aufpasst, dass es wenigstens an der Schnittstelle zwischen Virtualität und Realität nicht zu verheerenden Zusammenstößen kommt.

Die Vorstellung dahinter ist die, dass es keinen Schaden anrichten kann, wenn man sich in der Virtualität austobt, der Schaden entsteht erst dadurch, dass im Gebrauch Handlungsauswirkungen im Internet sich auf die Realität übertragen. Und umgekehrt: Dass der in der Realität stattfindende Gebrauch des Internets ausgenutzt wird.

Das klingt wie das berühmte Argument: „Pistolen töten keine Menschen. Menschen töten Menschen.“ Eine Waffe ist ein ziemlich harmloser Gegenstand, der erst gefährlich wird, wenn ein Zeigefinger den Abzug betätigt.

So in etwa das Internet.

Faszinierend ist die Vorstellung, dass sich virtuelle Realitäten bilden können.

Das Beispiel, das gebracht wird ist politisch:

„Heute gibt es in aller Welt Hunderte gewaltbereite oder pazifistische Separationsbewegungen, und daran wird sich in Zukunft kaum etwas ändern. Viele dieser Bewegungen kämpfen gegen ethnische oder religiöse Diskriminierungen (…) Staatenlose Gruppen, die in der virtuellen und physischen Welt verfolgt werden, könnten ihren Staat online gründen. Dieser hätte zwar nicht dieselbe Legitimität und Funktion wie ein physischer Staat, doch die Ausrufung der virtuellen Souveränität könnte im besten Fall ein erster Schritt in Richtung eines eigenen Staates sein und im schlimmsten Fall eine Eskalation des physischen Konflikts bedeuten.“

Man muss betonen, dass das Kapitel „virtuelle Staaten“ 2013 veröffentlicht wurde. Also lange bevor Katalonien sich darum bemühte, sich von Spanien derart aktiv zu separieren und der treibende Politiker von Belgien aus versucht, via Skype ins Amt gesetzt zu werden und sich der Diskussion zu stellen.

Es ist eine unheimliche Vorstellung, dass die physische Grenze verschwimmt, aber eine folgelogische, wenn man generell den Begriff der „Nation“ als etwas Ideelles wahrnimmt.

Wagen wir ein Gedankenexperiment: sagen wir, es hätte vor über Tausend Jahren bereits ein Internet gegeben. Stellen wir uns die Diaspora des Judentums einmal vor, wenn es eine Möglichkeit des Virtuellen gegeben hätte. Es beginnt banal mit Websites, auf denen sich die dem Judentum zugehörigen Menschen wiederfinden und austauschen können. Aber die Konsequenz: überall auf der Welt verteilt lebende Menschen, verbunden und strukturiert und organisiert über ein virtuelles Netzwerk. Vielleicht sogar reglementiert?

Sofern die virtuellen Gesetze in Übereinstimmung mit den jeweils realen Gesetzen wäre, ließe sich das denken. Wo es aber zu Zusammenstößen kommt, wäre ein offen auszutragender Diskurs unumgänglich.

Stellen wir uns ein virtuellen Kurdistan vor. Mit einer digitalen Währung und Kurden, die damit einverstanden wären, virtuell zu Hause zu sein und in der Realität einen Kompromiss einzugehen.

Stellen wir uns die koptischen Christen vor, die im Alltag sich an das Land angepasst verhielten, in einem freien, internationalen Internet aber sich ihren Vorstellungen gemäß entfalteten. Stellen wir uns die Rohingya vor. Buddhisten in China.

Sicher, eine Eskalation könnte provoziert werden, weil es den unmittelbaren Zusammenstoß gäbe. Stellen wir uns radikal salafistische Muslime in Europa vor. Stellen wir uns IS-Anhänger in Amerika vor.

Nehmen wir die Sache erst einmal neutral konstruktiv vor: Es gäbe einen offenen Diskurs, denn mit kulturellen Konflikten käme eine notwendigerweise provozierte Synthese. Wer als Moslem in Deutschland das Zuckerfest feiern möchte, muss sich bewusst sein, dass Arbeitszeiten sich nicht an diesem Feiertag orientieren. Er muss also entweder Urlaub nehmen oder mit dem Chef reden, ob er aus religiösen Gründen freigestellt werden könnte. Oder er arbeitet ohnehin in einem muslimischen Betrieb, wo alle zu dieser Zeit frei haben und feiern.

Unter dem Gesichtspunkt der Toleranz entsteht nur ein scheinbarer Nachteil für den Betrieb. Es gibt in Deutschland Städte, da haben muslimische Bäckereien an Feiertagen geöffnet, an denen deutsche Bäckereien geschlossen haben und umgekehrt.

Wer hier mit dem Gesetz wedelt, verkennt die Absicht des Gesetzes und übersieht die wirtschaftlichen Mehrwert eines respektvollen Systems des Miteinander.

Virtuelle Nationalitäten könnten diesen kulturellen Ausgleich fördern.

Andererseits könnte eine noch stärker wirkende Verfremdung, wie sie Karl Marx beim Menschen in Bezug auf seine Arbeit wahrgenommen hat, nun auch in der National-Identifikation auftreten. Wie stark fühle ich mich einem Land verbunden, das real um mich herum existiert, wenn ich in Wahrheit virtuell gebunden bin.

Und wie kann hier der Türhüter-Staat tatsächlich aktiv sein?

Was ist von einem Menschen zu halten, der eine virtuelle Staatsbürgerschaft hat und virtuell mit zwei Frauen verheiratet ist, reell sogar mit beiden zusammenlebt in einem Land in Europa, welches die Monogamie gesetzlich regelt.

Wir können uns vorstellen, dass unser Virtualänder seine virtuelle Rente im virtuellen Raum bezieht, dass er virtuell versichert ist, virtuelle Währungen einnimmt und virtuell Bestellungen tätigt, etc.

Ich bin mir unsicher, ob dieses Utopia wirklich so überzeugend ist und sehe das Gegenteil von Nationalismus im Kosmopoliten und nicht im virtuellen Nationalismus.

Die Aufsplitterung mag eine kurzfristige Genugtuung hervorrufen. Es mag uns mit einem Identitätsgefühl füttern und nähren, aber es wird den Menschen nicht zum „ewigen Frieden“ führen. Im Gegenteil: eine Welt, die an sich zersplittert ist, kann meines Erachtens nicht durch eine weitere Zersplitterung inklusive vereinfachter Identifikation mit den Splittern geheilt werden.

Virtuelle Akzeptanz kann wie ein Schwert in die reale Toleranz stoßen.

Wir sind eben Menschen und keine Avatare und es ist schon etwas abstrus, diese Worte jetzt online zu posten.

Virtuelle Philosophie mag die virtuelle Feder sein, die mächtiger ist als das virtuelle Schwert.

Was sagt ihr dazu?