Marie Mallarmé – Kapitel 7

Das erste, was Bernard dachte, war natürlich: Nicht der schon wieder. Und noch bevor er Marie darauf aufmerksam machte, dass Thomeo die Halle betrat, verdrehte er bereits die Augen. Und er spürte einen merkwürdigen Klumpen in seinem Hals.

„Und den da unten kennen wir ja.“, sagte er.

Marie Mallarmé hatte eine ganz sanfte Art zu sprechen. Aber als sie „Thomeo“ sagte, klang das für Bernard viel zu verträumt.

„Ja genau. Wer hat den denn hierher gezeichnet?“

Marie zuckte unter diesen Worten zusammen. Erst da begriff Bernard, was er gesagt hatte.

Er wollte sich entschuldigen, aber sein Hals war jetzt völlig zugeschnürt und die Stimmbänder unbrauchbar. Stattdessen machte sein Mund jetzt nur die nutzlosen Sprechbewegungen.

Ihr Vater war Maler oder so etwas in der Art, hatte Colli eine Woche vor Marie Mallarmés Ankunft verraten. Bernards Herz hatte heftiger geschlagen. Und dann kam die Ernüchterung: Also redet in ihrer Gegenwart besser nicht von solchen Sachen.

Bernard liebte das Zeichnen. Er hatte schon früh mit dem Malen und dem Skizzieren begonnen. Und als es ihn und Claudine in den Heiligen Geist verschlagen hatte, als alles so ausgesehen hatte, als ob die Welt nie wieder in Ordnung sein würde, hatte es nur zwei Dinge gegeben, für die er noch Dankbarkeit empfand. Das eine war seine Schwester gewesen. Aber sie war einfach immer schon da gewesen. Und sie war eben auch ein anderer Mensch. Es dauert keinen Tag, dann begreifst du im Heiligen Geist, dass du dich nicht auf andere Menschen verlassen kannst. Andere Menschen sind Tatsachen in deinem Leben, die einfach auch mal wegfallen können. Von jetzt auf gleich.

Aber das Zeichnen, das Konstruieren und Entwerfen, das Entstehen lassen auf Papier, das konnte ihm nur weggenommen werden, wenn man ihm auch die Hände wegnahm.

Was würdest du tun, wenn du kein Papier oder keine Stifte von mir bekommen würdest?

Die merkwürdigen Fragen von Doktor Zeller in seinen Therapiesitzungen.

Was würdest du tun, wenn du keine Schwester mehr hättest?

Was fühlst du dich, jetzt, wo du hier bist?

Wie würdest du dich fühlen, wenn ich dir sagen würde, dass du deine Bilder nicht aufhängen dürftest. Nicht an die Tür.

Was würdest du fühlen, wenn ich dir sagen würde, was Colli über deine Bilder denkt.

Möchtest du auch einmal hören, ob du überhaupt gut malen kannst, Bernard?

Das waren Fragen, die er nie beantwortete.

In Zellers Akte stand bestimmt: „Aufmüpfig“ hinter Bernard. Da würde er jede Wette drauf ablegen. „Aufmüpfig und verworren. Bleibt nicht bei der Sache. Konzentriert sich nicht. Fahrig.“

Als er gehört hatte, dass Maries Vater etwas mit Malen zu tun hatte, – keine Ahnung wieso – da hatte er es nicht erwarten können, dass sie endlich bei ihnen ankam. Dass das Malen in ihr die schlechten Erinnerungen wachrufen würde, das hatte ihn beschäftigt. Für ihn war das Malen immer eine Zuflucht gewesen. Sie würde wohl, ganz anders als er, davon abgestoßen sein.

Thomeo sah die beiden oben in ihrem Beobachtungsversteck. Und natürlich machte er sich sofort auf den Weg nach oben.

Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, brachte es ihn völlig aus der Puste.

„Da seid ihr ja.“, schnaufte er, als ob er sie überall gesucht hätte.

„Da sind wir. Und weißt du was“, sagte Bernard. „Da bist du.“

Thomeo hatte keine Zeit für solche Spielchen. Er kam sofort zur Sache:

„Auf einer Skala von 1 bis 10: Wie mutig seid ihr?“

„Was ist 1? Besonders mutig oder besonders feige?“, knurrte Bernard.

Aber Marie trat noch während er redete einen Schritt vor und sagte: „10.“, ganz selbstverständlich und irritierend heftig.

Bernard konnte sehen, dass ihre Wangen rot aufglühten.

Sie ist eigentlich nicht mutig, dachte Bernard. Sie will es sein.

Kurzerhand sagte Bernard: „10. Klar doch.“

Thomeo strahlte übers ganze Gesicht, aber nur für einen kurzen Augenblick. Dann wurde er wieder ernst und er sagt: „Die andere.“

„Du meinst meine Schwester.“, sagte Bernard angesäuert.

„Wo ist sie?“

„Sie hat einen Namen. Sie heißt Claudine.“

„Es wäre gut, wenn sie auch dabei wäre, … schätze ich.“

„Sie hat eine Sitzung.“, erklärte Marie Mallarmé.

„Dann müssen wir warten.“, Thomeo zuckte die Schultern. „Treffen wir uns heute Abend? Sagen wir, gegen zehn? Gegen zehn.“

„Du kennst aber schon die Hausregeln, oder?“, gab Bernard zurück.

„Ja.“, sagte Thomeo. „Wenn du nicht erwischt wirst, darfst du alles. Wenn du erwischt wurdest, war es garantiert verboten.“

Als Thomeo schon die ersten Stufen nach unten gehüpft war, hielt Marie ihn noch einmal auf.

„Du hast was vergessen.“, sagte sie.

„Was denn?“, er sah gedankenverloren aus. So als ob er schon längst einen neuen Gedanken gefangen hätte. Und wenn Thomeo einen neuen Gedanken hatte, dann war es, als ob die alten nie existiert hätten.

„Wo.“

„Wo was?“

„Wo sollen wir uns heute Nacht treffen?“, flüsterte sie.

„Na, im Heizungskeller.“, sagte er, als ob das eine Selbstverständlichkeit wäre. Wo hätte man sich sonst treffen sollen? „Direkt vor der roten Tür.“, dann ging er endgültig weiter.

Bernard schüttelte den Kopf.

„Freak.“, sagte er. „Du willst da nicht wirklich hin, oder?“

„Doch.“

„Das ist nicht dein Ernst, Marie Mallarmé. Ein Spinner kommt und will, dass du mitten in der Nacht … warte – vielleicht sollte ich dir mal erzählen, wie das hier so mit den Hausregeln läuft und wie das ist, wenn man erwischt wird.“

„Später.“, sagte Marie und sah ihn ernst an. „Zuerst müssen wir Claudine fragen, ob sie auch 10 mutig ist.“

Was sagt ihr dazu?