Marie Mallarmé – Kapitel 8

Ein Bild, das nur aus bunten Flecken bestand. Links größere Flecken, halbrund: blau, gelb, violett, ein klein wenig grün: konzentrisch um einen rosa-weißen Flecken herum angeordnet. Rechts: sehr viel rot. Sehr viel gelb. Warme Farben.

Claudine erschauerte.

Sie konzentrierte sich auf das Bild daneben. Nur Buchstaben.

„Das Problem der Liebe gehört zu den großen Leiden der Menschheit, und niemand sollte sich der Tatsache schämen, dass er seinen Tribut daran zu zahlen hat. – C. G. Jung.“

Sie versuchte einen Zusammenhang herzustellen.

Zwischen den Farben und den Worten.

Sie versuchte die Worte irgendwie zu verstehen. Leiden der Menschheit. Das verstand sie.

Sie atmete tief durch.

Schämen, das war auch leicht.

Zahlen.

Claudine schloss die Augen. Zahlen war ein furchtbares Wort. Es war eins der Wörter aus ihren Träumen.

„Wir haben eigentlich keinen Termin, oder irre ich mich?“

Sie sah auf.

Dr. Zeller stand vor ihr. Er hatte den weißen Mantel aufgeknöpft und die Arme so in die Seite gestemmt, dass er links und rechts wie zwei bauschige Flügel zur Seite hing. So wie er sie ansah, war er ihr unheimlich. Er hatte diese Art von dunklem Gesicht, dass sie nicht mochte. Schon als kleines Kind hatte sie diese Gesichter gefürchtet, die ihr aus einem Märchenbuch bekannt geworden waren. Die Augen, mandelförmig und zur Nase hin spitz gebogen. Die Augenbrauen dünne, geschwungene Linien.

Dr. Zeller sah müde aus. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen.

Das Gesicht eines Mannes, der nur schnell in den Feierabend wollte.

„Ich habe wieder Träume.“, sagte Claudine und er ahnte gar nicht, wie sehr sie gegen ihren Widerwillen ankämpfte.

Du kannst immer mit mir reden, das hatte Dr. Zeller am Anfang ganz oft zu ihr gesagt. Wann immer dir etwas auf der Seele brennt, du kannst immer mit mir reden.

Reden, über das, was einem gerade ‚auf der Seele brannte’, das war etwas, womit man sich schwach machte. Schweigen schützte einen und machte einen stark. Sie hatte ihren Bruder, mit dem konnte sie über alles reden. Aber Dr. Zeller war ein ewiger Fremder. Es war eigentlich egal, wie lange man ihn kannte, wie lange man hier im Heiligen Geist lebte. Er würde immer ein Fremder bleiben und egal, was er einem versprach, wie er einen bezirzte und sich um einen bemühte: sie würde nicht mit ihm reden wollen.

Und doch saß sie jetzt hier, nicht wahr?

Sie saß da, mit übereinander geschlagenen Beinen und Händen, die sich gegenseitig kneteten und einem dünnen Film aus Angst geborenem Schweiß zwischen den Schulterblättern und einem Traum im Gepäck, der voll von Zahlen war, die sich um sie herumdrehten und wie Messerstiche in ihrem kleinen, kindlichen Leben steckten.

„Können wir vielleicht morgen darüber reden?“, fragte Dr. Zeller. Er rieb sich mit dem Handrücken über das linke Auge und suchte mit der anderen Hand nach dem Schlüssel zu seinem Büro.

Er drehte ihr den Rücken zu als er ihn endlich hatte und schloss die Tür auf.

Es war ganz einfach, dachte Claudine. Sie musste nur still da sitzen und nichts sagen, und dann würde der gute Herr Doktor in seinem Büro verschwunden sein und alles wäre gut.

Der Flur wäre in Dunkelheit getaucht.

Der Traum wäre allein ihr Traum, allein ihr Problem.

Und alles wäre gut.

Alles wäre Schweigen und Stärke und Schutz.

Ich habe aber Angst, schoss es ihr durch den Kopf. Und so sagte sie:

„Ich habe den Jungen getötet.“ Und Zeller blieb in der Bewegung erstarrt. Die Tür in der Hand, den einen Fuß bereits im Büro.

Geh hinein! Na los, geh schon. Lass mich hier in der Dunkelheit und im Schweigen zurück! Lass mich in Ruhe! Es geht dich eigentlich überhaupt nichts an!

Er drehte sich um.

Lass das!

„Was hast du da gesagt?“

„Mit dem Messer.“, sie zeigte es ihm.

Kaum fiel sein Blick auf das Metall, machte er einen Satz vor und nahm ihr die Waffe ab.

„Du sollst kein Messer mit dir rumtragen!“, meinte er scharf. Dann stieß er die Tür hastig auf.

„Komm rein.“

Sie setzte sich auf den Therapiestuhl und schloss die Augen. Sie sagte:

„Es ist der Sturm. Ich habe schon lange gespürt, dass er kommen wird. So etwas ähnliches wie Migräne. Ein Schmerz da vorne.“, sie tippte auf die Stirn. „Und die Träume natürlich.“

Er öffnete den Rollschrank und nahm ihre Akte.

„Mein Gott, Claudine.“, sagte er.

„Ich habe schon lange nicht mehr geträumt, Dr. Zeller!“, sagte sie hastig. Das klang wie eine Entschuldigung, aber es sollte ein Hilferuf sein. Er sollte ihr sagen, dass sie eigentlich alles gut gemacht hatte. Dass sie stark gewesen sei im letzten Jahr.

So lange wie du hat noch keine bis jetzt ausgehalten. Du warst sehr tapfer und stark. Und wir haben Fortschritte gemacht. Und du hast deine Träume in den Griff bekommen

(Deine Zahlen)

Und jetzt ist das ein kleiner Rückschlag, aber nicht schlimm. Das passiert jedem Mal.

Wichtig ist, dass du jetzt hier bei mir sitzt und dass wir darüber reden und herausfinden, was du Gutes getan hast und wie wir das wieder tun können, damit die Träume dort bleiben, wo sie hingehören. Ins Reich des Vergessens.

Sowas sollte er sagen.

Sag es!

„Willst du mir von deinem Traum erzählen?“, fragte er

Nein!

„Ja.“

„Dann los.“ Und als sie nicht anfing: „War es wieder in der Schule?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Es war hier.“

„Hier im Haus?“

„Im Keller.“

Er zuckte zusammen.

„Das ist … neu.“, sagte er.

„Jeder Sturm ist anders.“, antwortete sie.

„Ok. Dann erzähl mir vom Sturm. Du hast gesagt, du hast ihn kommen gespürt?“

„Ein paar Nächte.“, sagte sie.

Wochen, dachte sie.

„Die Träume haben langsam angefangen. Zuerst … zuerst nur eine Zahl.“

„Welche?“

„Vier.“

„Natürlich.“, er schrieb etwas auf. Die Akte muss schließlich dicker werden. Angefüttert mit Details aus ihrer Seele. Er widerte sie an. Warum konnte er nicht einfach nur … keine Ahnung … zuhören? Vielleicht sogar helfen?

„Sie tauchte in normalen Träumen auf. Träume von hier. Ich sitze in der Mensa und esse etwas, plötzlich ist da die Vier. Es ist vier Uhr. Es sind vier Leute noch im Raum. Am Fenster kleben vier Blätter.“

„Da kleben Blätter?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Vom Wind dagegen geweht. Sie sind dagegengeklatscht und hängen geblieben. Vier Blätter. Sehen sogar fast gleich aus. So als wären es viermal das gleiche Blatt. Ich stehe auf, gehe zum Fenster und sehe nach draußen. Und da weiß ich, dass der Sturm kommen wird.“

„Ist es jedes Mal der gleiche Traum gewesen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich liege im Bett und habe das Nachtlicht eingeschaltet. Es ist dunkel draußen. Aber ich glaube, dass ich etwas hören kann, wie es über den Flur schleicht. Erst denke ich, dass es der Junge von unterm Dach ist. Aber dann höre ich genauer hin und da ist wieder die Vier. Ich höre einen Wasserhahn: viermal tropfen. Jemand klopft viermal gegen die Tür. Solche Dinge.“

„Hast du nachgeschaut, wer es ist? Der auf dem Flur?“

Claudine ignorierte das.

„Der wichtige Traum.“, sagte sie. „Das ist der Große Traum. Der mit dem toten Jungen.“

„Mit dem Messer.“

„Ja.“

„Kommt da auch die Vier vor?“

„Die Vier ist überall.“, sagte sie. „Vier Messerstiche in der Brust. Er hat nur vier Finger an der einen Hand.“, sagte sie plötzlich, so als käme die Erinnerung jetzt auf einen Schlag. In Wahrheit war das die Sache, die sie am meisten irritiert hatte und die am längsten hängen geblieben war. Sie war wach geworden und hätte sogar fast den Traum vergessen gehabt. Wenn da nicht der letzte Anhauch einer Erinnerung an diese vier Fingerhand gewesen wäre. Sie setzte sich aufrecht aufs Bett und besah ihre eigene Hand. Sie zählte ihre eigenen Finger und der Gedanke kam wie von außerhalb in ihren Kopf gelegt: Er hatte aber nur vier Finger.

Und dann war es, als wäre dieser Gedanke ein Blitz gewesen und der Donner kam keine Sekunde hinterher: Der Donner war die Erinnerung an den kompletten Traum.

Wie der Junge in die Mensa stürmte und mit dem Messer über dem Kopf allen drohte. Aber alle, das war eigentlich nur Claudine.

Wie sie aufsprang und schrie und davon rannte. An dem Fenster mit den vier Blättern vorbei.

Wie sie in den Flur rannte, alles war dunkel. Und sie konnte hören, wie der Junge hinter ihr her kam. Sie rannte zu den Türen – es waren vier – und sie klopfte dagegen. Einmal gegen jede Tür. Und am Ende des Flures zuckte das Bild und sie sah, dass in einem dieser Zimmer sie selbst lang und lauschte und die Claudine auf dem Flur dachte nur: „Warum macht sie mir nicht auf? Warum hilft sie mir nicht?“

Weil der Wasserhahn viermal tropft, deshalb!

In ihrem Traum sind die Wege im Heiligen Geist anders.

Ganz anders.

Sie erinnerten sie an einen anderen Ort. Einen, an dem man hätte glücklich werden können und alles normal hätte laufen können, wenn nicht –

Wenn nicht an den Wänden die Bilder von dem Jungen mit den vier Fingern und dem Messer gehangen hätten.

Claudine stürzte die Treppe nach unten und in den Keller.

Sie stand in einem großen Raum wo jede Wand gleich aussah. Überall waren Tafeln. Große, grüne Tafeln mit ungelösten Rechnungen

Die Antwort lautet 4! Was sonst?

Und auf dem Boden war Blut und Bernard stand an einem Holztisch und stürzte rücklings über einen Stuhl. Sie konnte das sehen, weil seine Bewegung wie eingefroren war. So als habe jemand dem Traum die Pausetaste gedrückt. Dem Traum schon, aber nicht dem Jungen mit dem Messer und nicht Claudine.

Er kam auf sie zu.

So wie er auf andere zugegangen war.

„Jetzt du!“, flüsterte er.

Und das Bild flackerte und zuckte.

Und dann hatte sie auf einmal das Messer und er hatte die Messerstiche – vier Stück, kreuz und quer in der Brust – und er lag auf dem Boden und sie stand an der Tafel und dachte absurderweise: „Wenn ich Zeit zum Überlegen gehabt hätte, dann hätte ich die Antwort gewusst.“

Und zu Dr. Zeller sagte sie:

„Mir ist schlecht. Ich fühle mich ganz schlecht.“

„Das ist normal.“, beruhigte er sie. Und auf einmal dachte sie, hätte Dr. Zeller ein guter Mann sein können. Er hätte derjenige sein können, der einem wirklich helfen konnte. Eine Vaterfigur. Einer, der die Dinge löste

Vier!

Der Probleme wieder gerade rückte und alles, was in einem Kind kaputt gegangen war wieder reparieren konnte.

Und dann auf einmal erinnerte sie sich an das Wort auf dem Bild auf dem Flur:

… und niemand sollte sich der Tatsache schämen, dass er seinen Tribut daran zu zahlen hat.

Und dann übergab sie sich in Dr. Zellers Papiermülleimer.

Und er war kein guter Mann.

Er wich angewidert zurück und nahm den Telefonhörer und rief nach der Krankenschwester.

Er rief, anstatt zu schweigen.

Schweigen bedeutete Stärke.

Stärke und Schutz.

Zitternd und schweigend brachten sie Claudine in den Krankenhausflügel zu den Schwestern.

Was sagt ihr dazu?