Paris je t’aime: Die Irrwege des Charles Leroy (4)

Dies ist das vierte Kapitel einer Fortsetzungsgeschichte, die abwechslungsweise hier im Odeon Theater und auf Härzenswort erscheinen wird. 

Der erste Teil findet sich hier
der zweite Teil hier
der dritte hier

und jetzt geht es weiter:

Nach einer gefühlten Ewigkeit blickte Goudrain zu ihm hoch und dankte ihm. „Merci, mon ami,“ sagte er. Diese Anerkennung erfüllte Charlot mit Stolz und der Schmerz, den er eben noch mit Goudrain geteilt hatte, wich einem Gefühl von Wärme und grenzenloser Loyalität. Keiner der beiden brauchte mehr etwas zu sagen, denn es war auch ohne Worte klar, dass sie einander durch diese Geschichte für immer verbunden sein würden. Charlot schwor Goudrain innerlich ewige Treue, während Goudrain ihn zu seinem ganz besonderen Protégé erklärte.

Charlot wohnte in der Rue Gascogne. In einem windschiefen Haus mit Schindeln, die vom Dach zu rutschen drohten und Fenster, die nicht mehr richtig schlossen. Er wohnte mit seinem Vater und seiner Schwester Suzette in der dritten Etage. Im Erdgeschoss lebten Handwerker, die groben Schmuck herstellten. Darüber lebte die kinderlose Familie Tondeur, eine junge Frau, kaum hübsch genug, um mit einem echten Menschen verwechselt werden zu können. Und ein älterer Mann mit grobschlächtigen Gesichtszügen. Wenigstens einmal im Monat waren die Tondeurs gezwungen, die Stadt für eine Woche zu verlassen. Wenn in dieser Zeit das Appartement unter dem der Familie Leroy leer war, hatte Charlot die Erlaubnis, dort unten für sich alleine zu leben.

Jeder Mensch kann richtig sterben, hatte ihm Goudrain einmal beigebracht. Das richtige Leben dagegen muss erlernt werden.

Charlot war unter Goudrains Diensten zu einem fabelhaften Boten geworden. Ein Bote der besonderen Art, einer, der nicht nur Dinge zu bringen verstand, sondern auch einer, der sie zu beschaffen wusste.

Wenn Charlot also in jenen Tagen auf dem Esstisch der Familie Tondeur lag und die Sonne durch die breiten Fenster des Esszimmers ihr weißes Licht in einem breiten Band auf ihn scheinen ließ, so als wäre er ein Heiliger von einem Altargemälde, dann war es nicht so, dass er die Zeit nutzlos an sich vorbeirauschen ließ, wie es etwa sein Vater von ihm dachte. Statt dessen trainierte er seine Finger, so wie es Goudrain es ihm gezeigt hatte.

Du musst üben, darfst nie die Finger ruhen lassen. Am besten übst du deine Finger auch im Schlaf.

Und die Finger übten.

Charlot war ein fleißiger Schüler. Er konnte schon nach einer Woche alle Schlösser in ihrem Haus ohne Schlüssel öffnen. Am Ende eines Monats verstand er sich auf das Öffnen von allen fremden Häusern im benachbarten Quartier. Goudrain besorgte ihm Kästchen, jedes mit feinen Schlössern versehen.

Eine falsche Bewegung, Charlot, und das Schloss ist kaputt. Das Kästchen samt Inhalt wertlos. Du musst es öffnen können, ohne, dass auch nur ein Kratzer das Schloss beschädigt.

Charlots Finger spielten mit Knoten, während er auf Tondeurs Tisch lag, die unter der Tischplatte auf ihn warteten.

Eine einfache Übung, hatte Goudrain erklärt. Wirf ein Seil um den Tisch und verknote die Enden auf der Unterseite. Leg dich mit dem Rücken auf die Tischplatte und öffne ohne hinzusehen die Knoten unter dir.

Stell dir vor, du wärst gefesselt. Und dein Leben hinge davon ab. Ich kannte mal einen, der wurde gefesselt in die Seine geworfen. Er hatte nicht viel Zeit, denn die Strömung drückte ihn nach unten. Verstehst du? Blind. Und unter Druck. Du musst die Knoten wie im Schlaf beherrschen!

Goudrain brachte ihm alle unterschiedliche Arten von Dietrichen bei und wie man sich aus kleinem Metallschmuck schnell selbst welchen drehen konnte.

Mit geschlossenen Augen lag Charlot bei Tondeur und drehte aus allen möglichen Schmuckstücken Dietriche.

Du musst schleichen können! Die Nacht wird dein Freund sein. Denn die Dunkelheit ist die Zeit des Diebes.

Nachts lag Charlot auf der Tischplatte und horschte durch das Haus. Er achtete auf jede einzelne Bewegung. Er ließ die Augen geschlossen, damit er sich besser konzentrieren konnte und die Nacht floss in ihm hinein, er atmete sie, machte sich sie vertraut, bis sie ihm mit ihrer Dunkelheit so bekannt und angenehm war wie der Tag.

Siehst du diesen Vorhang da, Charlot! Sieh genau hin. Wie er sich bewegt, wenn der Wind durch das offene Fenster kommt. So musst du dich in der Nacht bewegen. So musst du gleiten. Als wärst du der Vorhang der Mitternacht, der von der Finsternis durch die Stadt getragen wird.

Charlot setzte sich auf der Tischplatte auf. Es war so dunkel, dass kaum eine Eule sich darin zurecht gefunden hätte. Aber kaum hatten seine Augen sich an die Dunkelheitsverhältnisse gewöhnt, sprang Charlot aus dem Fenster hinaus in die kalte Nachtluft.

Kenne die Dächer, so wie die Gendarmerie die Straßen kennt. Je besser sie rennen, umso besser musst du fliegen können.

Es war ihm so leicht geworden, über die Dächer von Paris zu rennen, dass ihm das Geräusch der klickernden Schindeln unter seinen Füßen vertraut und beruhigend vorkam.

Mit Charlots Talenten traten mit der Zeit immer mehr die körperlichen Veränderungen zu Tage. Er verlor sein unschuldiges, kindliches Aussehen. Seine Gesichtszüge wurden härter. Er wurde schmaler, fast hager, bis aus ihm fast nur noch ein Gespenst mit einer großen, gezackten Nase geworden war und tiefliegenden, feurig blitzenden Augen. Seine Bewegungen wurden drahtig und elegant. Sein Training machte ihn stark, ohne dass man es ihm zugetraut hätte. Und wenn jemand es gewagt hätte, Goudrain auf Charlot anzusprechen, Goudrain hätte verraten: Charlot ist perfekt.

Und obgleich Charlot immer perfekter wurde, er sich wie die Nacht zu bewegen verstand, es ihm möglich war in wirklich jedem Haus in Paris einzubrechen und jeden Schatz unbemerkt zu entwenden, so hatte er bis dahin noch nicht ein einziges Mal etwas wirklich wertvolles zu stehen gehabt.

„Wenn du groß werden willst“, sagte Goudrain, „dann muss zuerst etwas da sein, was groß werden kann.“ Und dann packte Goudrain ihn an den Armen und er drückte an den Muskeln ganz fest zu und bestaunte das Werk, das da vor ihm stand, ehe er zu dem Schluss kam: „Und jetzt ist da etwas. Noch vor einem Jahr stand ein kleiner Junge vor mir. Jetzt steht da ein Dieb. Ach, was sag ich, ein Meisterdieb.“

„Ich bin kein Dieb.“, sagte Charlot in der ihm eigen gewordenen Stimme, die halb ewin Flüstern war, halb ein Lachen. „Ich hab noch nie etwas gestohlen.“

„Dann wird es Zeit!“, sagte Goudrain.

Und doch dauerte es noch ein paar Monate bis eines Abends auf der Petit Pont Mademoiselle Josefine Sazou sich in die Arme ihres Liebhabers nehmen ließ. Ein junges, wunderschönes Mädchen mit kastanienbraunen Haaren und einem von blutroten vollen Lippen verwöhnten Mund, der immerzu geküsst werden wollte, wenn man ihn nur von der Seite ansah.

Sie trug ein strahlendes Lächeln über die Petit Pont und erhellte mit ihrem Lachen die schmutzigsten Nächte über Paris. Sie schmiegte ihren Kopf an die Seite des Mannes und sang ihm ihre Einladung ins Ohr. Dann rannten sie über das Kopfsteinpflaster der Stadt, wären fast von einer hastenden Droschke überrannt worden, wenn er nicht im letzten Moment ihr das Leben gerettet hätte. Und sie schlang als Dank ihre Arme um seinen Hals und zog ihn zu sich herab, um ihm das größte Glück dieser Erde zu gönnen: sie presste ihm die Lippen so weich und fest gleichermaßen auf den eigenen Mund, dass es ihm vorkam, diese Lippen könnten ihn verschlingen. Er taumelte mit ihr ganz eng an sich gepresst durch Seitenstraßen, kichernd an den letzten Blumenverkäufermädchen vorbei, über die schmalen Treppen, die windschief die Gassen nach oben führten. Zwischendurch hielten sie inne, wobei sie ein lautes Lachen nicht unterdrücken konnte, und er drückte ihre Arme gegen die Hauswand, über ihren Kopf, so dass die Hände dort oben überkreuzt waren. Er beugte sich über sie, um ihr ganz tief in die Augen zu sehen. Doch als er im Gegenzug nun sie zu küssen gedachte, rutschte sie mit dem Rücken an der Hauswand herab und glitt geschmeidig wie eine Katze aus seinem dann doch viel zu sanften Griff heraus.

Ihm war, als würde sie ihm neckend aus der Drehung heraus eine Haarsträhne absichtlich am Ohr vorbeistreichen lassen. Und schon rannte sie den weiteren Weg entlang und er hatte Mühe ihr zu folgen. Zwar wusste er, wohin sie ihn führte, aber zwischendurch hatte er doch Angst, er könne sie oder den Weg verlieren.

Schließlich hatte er sie dann doch verloren. Ratlos stand er in der Dunkelheit eines Viertels, das noch von keiner Laterne erleuchtet wurde. Er versuchte durch die Dunkelheit hindurch etwas zu erkennen.

Und dann schlang sie sich auf einmal von hinten um ihn und zog ihn mit einem von Leidenschaft erfüllten Zischen in den nächsten Hauseingang.

Jetzt gelang es ihr nicht mehr, sich ihm zu entziehen. Er presste umso inniger und heißer seine Küsse in ihren Mund. Seine Hände waren mit einem Mal stark und obgleich es fast einem Werfen gleichkam, legte er sie doch behutsam auf den Esstisch. Ihre Hände dagegen packten sein Gesicht. Sie hielt ihn zwischen den Handflächen und biss ihm zum Zeichen in die Unterlippe. Gleichzeitig bog sie ihre Hüfte nach oben und presste sich an ihn. Sie lächelte und verdrehte vor nicht mehr auszuhaltender Erwartung die Augen, als er endlich mit seinen Händen die nackte Haut unter all den Stoffbahnen berührte.

Er sah, wie das Mondlicht langsam durch die Wolkendecke brach und sich zwischen den Hausfluchten hindurch zu ihnen ins Haus zwängte. Das bleiche Licht schien auf ihren freigelegten Bauchnabel und den weichen, blonden Flaum auf der zarten Haut.

Es wirkte fast, als könne er gar nicht genug von diesem Anblick haben. Immer wieder kreisten seine Hände von den Beckenknochen die Hüften empor, nach einer Drehung mit den Daumen sanft Wirbel abwärts zum Bauchnabel, wo sich sein Kopf für einen zärtlichen Kuss senkte. Immer tiefer und immer höher rutschten bei diesen sanften Bewegungen die Hände. Und schließlich berührte er die warme Haut ihrer Brüste.

Die Erregung durchfuhr ihn in unbekannten Maßen. Er spürte die Hitze in sich aufsteigen, spürte, wie ihm die Gedanken wild und wilder werdend durch den Kopf jagten. Die Küsse wurden leidenschaftlicher. Immer hastiger und erregter wurde ihr Atmen. Sie verbiss sich in seiner Schulter und die Nägel zogen Spuren über seinen Rücken.

Als sie „Hör auf“, sagte, hervorgepresst durch das Gefühl, dass sie keine Luft mehr zu bekommen schien, war es nur ein kurzer Augenblick, wo er auf sie hörte. Dann sagte er: „Niemals“ in ihr Ohr und drehte sie um. Sie schrie kurz und spitz auf. Aber wenn, dann nur aus Überraschung und wenn sie still wurde, dann weil sie nun begann, in einem in der Nähe liegenden Kissen ihre Zähne zu versenken.

Er hatte das Gefühl, dass alle Bedeutung aus der Welt verschwand. Kälte und Hitze, Lust und Schmerz, Begierde und Erfüllung wechselten sich in einem Sturm ab.

Er küsste sie zwischen die Schulterblätter. Und dann stieß sie endlich die Geräusche aus, die ihr im Leib herangewachsen waren. Sie packte seine Hand und drückte sie sich selbst auf die Brüste. Er verlor fast das Gleichgewicht. Aber immer tiefer und schneller wurden die Bewegungen. Sein Puls raste. Die Sterne tanzten vor seinen Augen.

Er spürte seine eigenen Muskeln nicht mehr.

Und dann stieß sie ihn von sich, drehte sich wieder zu ihm um und sprang ihm zurück an die Lippen.

Sie küsste ihn ununterbrochen und beschwor ihre Liebe.

Und er hatte endlich die Gnade und trug sie ins benachbarte Zimmer ins Bett.

„Ein letztes Mal! Dann muss aber Schluss sein!“, drohte er ihr.

„Niemals!“, zischte sie.

Und er schloss die Tür hinter ihnen.

 

Charlot hatte nicht wirklich geschlafen. Er hatte nur so getan.

Josefine dagegen schlief tief und fest. Und sie lächelte selig im Schlaf.

Vorsichtig stand er auf und legte eine Decke über ihren nackten, verschwitzten Körper. Das Zimmer war von einem fremdartigen Geruch erfüllt, den er sein Lebtag nicht mehr vergessen wollte.

Im Nebenzimmer sammelte er seine Kleider zusammen und zog sich an. Dann lauschte er wieder und als alles still blieb, öffnete er die Luke, die am Kopfende der Treppe war und stieg auf den Dachboden des Hauses.

Es war das Atelier von Josefine Sazou und ihrem Bruder Antoine.

Genau wie Goudrain es ihm beschrieben hatte, lag die Geige auf dem Chaiselongue unter dem Dachfirstfenster. Charlot war nicht dumm. Sicherheitshalber öffnete er den Geigenkasten und sie lag darin. Er hatte erwartet, dass der Anblick der Geige ihn beeindrucken würde. Aber der schmale Holzcorpus sah entsetzlich elend und miserabel gepflegt aus. Er hatte keine Ahnung, was Goudrain sich von diesen Objekt erhoffte. Aber derartige Gedanken waren auch nicht seine Aufgabe. Seine Aufgabe bestand nur darin, diesen Geigenkoffer zu nehmen, das Gebäude zu verlassen und die Tür für immer hinter sich zu schließen.

Obwohl es nicht zu seiner Aufgabe gehörte, machte er noch einmal den Umweg zu Josefines Schlafzimmer. Er sah sich noch einmal ihren schlafenden Körper ganz genau an und er fragte sich, was sich jeder an seiner Stelle fragen würde. Es war die Frage, die begann mit „In einem anderen Leben …“

Dann flüsterte er sein „Leb wohl, Geliebte.“, schickte ihr einen tatsächlich ehrlich empfundenen Handkuss und rang mit den Tränen als er das Haus tatsächlich verließ.

Goudrain war ein guter Protégé gewesen. Ein guter „Vater“, wenn man so wollte. Und doch sagte ihm jede Faser seines Leibs, dass es besser wäre, umzudrehen, die Geige wieder zurückzulegen und sich zurück zu Josefine unter die Decke zu begeben.

Am Ende der Gasse löste sich ein dunkler Schemen und trat den Weg an, zu ihm entgegenzugehen.

Charlot ließ sich die Erinnerung an die letzten Stunden wieder durch den Kopf gehen. Und deshalb war seine Reaktion viel zu träge und wäre fast zu spät gekommen.

Es war Antoine selbst, der ihm da entgegen gekommen war und nun nicht nur vor ihm stand, sondern zuschlug. Hätte Antoine nicht im gleichen Augenblick „Verräter!“ gebrüllt, hätte Charlot vielleicht überhaupt nicht oder viel zu spät reagiert. So aber zuckte er sogleich zurück und die Faust streifte ihn nur.

„Hola! Nicht so hastig.“, lachte Charlot.

Aber das Lachen erstarb, als Antoine eine Pistole zog.

„Gib mir den Geigenkasten zurück, du elender Dieb.“

Charlot trat einen Schritt zurück.

„Ich warne dich, ich habe kein Mitleid mit Dieben und Verrätern und …“, er zögerte. Antoines Hand begann zu zittern.

Charlot folgte Antoines Blick an sich herab und sah nun beim an sich Herabschauen, dass er sein Hemd falsch herum angezogen hatte.

Als sich ihre Blicke wieder trafen, konnte Charlot die Erkenntnis in Antoines Augen ablesen.

„Tut mir leid, mon frère.“, sagte Charlot und rannte los.

Er stürzte einfach voraus auf Antoine zu, der von der abrupten Bewegung so überrascht wurde, dass er tatsächlich zur Seite sprang. Der Schuss, der sich löste, zerschnitt lediglich den Nachthimmel.

Charlot stürzte die Gassen und Treppen nach unten zur Seine. Als er am Place de Jeanne d’Arc ankam, hörte er Antoine hinter sich: „Haltet ihn auf, Francois, Alain!“, rufen.

Es waren aber deutlich mehr als nur zwei Leute, die auf diesen Ruf reagierten.

Auf der anderen Straßenseite machte sich eine Clique von wenigstens fünf Mann auf die Beine. Einer schrie wie eine Hyäne und war mit unfassbar wendischer Geschwindigkeit vor Charlot gestürzt. Der Angreifer machte sich bereit, mit Charlot zusammenzustoßen, doch der sprang kurzerhand in eine winklige Seitengasse und schlitterte über einen schmierigen Kanal in die Parallelstraße hinein.

Hier waren die Straßen deutlich belebter und direkt vor ihm parkte eine Droschke, die ihm den Weg abschnitt. Ohne zu zögern riss er die Tür auf, ignorierte das Kreischen einer vollbusigen Frau und deren auf ihn niederfahrenden Fächer und sprang durch die Droschkenkabine hindurch, um auf der anderen Seite wieder auf die Straße zu kommen. Beim Überqueren wäre er beinahe schon wieder von einem Pferd überrannt worden. Es stieg jaulend auf die Hinterbeine und Charlot sah zu, dass er das Weite gewann.

Die Verfolger waren leider nicht so einfach abzuschütteln.

Auf dem Weg bergab in Richtung Seine kamen sie hinter ihm wieder ins Sichtfeld.

„Au revoir, mes amis!“, rief er spöttisch als er wieder einmal unerwartet abbog. Diesmal stürzte er sich so fest gegen eine Haustür, dass er diese mit sich aus den Angeln hob. Er hastete die Treppen nach oben und kletterte aus einem Dachfenster zum grellen Mondlicht hinauf. Kaum war ihm der Sprung auf das benachbarte Dach geglückt, pfiffen die nächsten Kugeln ihm auch schon um die Ohren.

Die Schindeln des nächsten Hauses lösten sich unter seinen hastigen Schritten und er rutschte ab.

Sein Sturz wurde von einem Wagen gebremst, der voller Obst geladen war. Der Geigenkoffer war aufgesprungen. Fluchend schlug er ihn zu und kletterte mühsam aus dem Streuobst heraus auf den Boden.

Aber diesmal war das Glück nicht auf seiner Seite.

Antoine stand mit einem Mal vor ihm und diesmal traf ihn der Schlag direkt in den Magen.

Doch anstatt ein zweites Mal einen Treffer zu landen und sich davon zu überzeugen, dass Charlot nichts mehr tun konnte, machte Antoine seinen zweiten Fehler an diesem Abend und er versuchte Charlot den Koffer aus der Hand zu reißen. Es begann ein nur kurzes Ringen um das Instrument.

Charlot nutzte den Moment. Er packte Antoine am Arm und zerrte ihn an sich heran. Die Köpfe der beiden Männer trafen aufeinander, dass es donnerte.

Antoine, der nicht damit gerechnet hatte, verlor das Gleichgewicht und ließ den Koffer nun los. Im gleichen Zug verlor Antoine den Inhalt seiner Taschen.

Charlot packte kurzerhand den Kontrahenten, zerrte ihn auf die Füße und warf ihn über die Hüfte in die Obstladung.

Obwohl die anderen, die Freunde Antoines, jeden Augenblick hier sein durften, nahm sich Charlot die Zeit, ein paar Sachen vom Boden aufzuraffen, die Antoine verloren hatte: ein paar Münzen und eine weiße Fahrkarte für eins der Boote am Hafen.

„Richte deiner Schwester schöne Grüße von mir aus. Ich empfehle mich.“, verabschiedete er sich und rannte den Verfolgern nun endgültig davon.

 

Charlot hatte gelernt, niemals nach einem misslungenen Diebstahl sofort zu Goudrain zurückzukehren.

Die Spur darf niemals zu mir führen. Niemals. Nur dann kann ich dich irgendwo raushauen, wenn ich nicht auch irgendwo mit drin stecke. Verstehst du?

Und wenn Charlot bei dieser Nummer nicht gescheitert war, dann wusste er es auch nicht. Natürlich: es war ihm gelungen, den schäbigen Geigenkoffer mit der noch schäbigeren Geige zu entwenden. Aber von einer reibungslosen Nummer konnte hier definitiv keine Rede sein. Deshalb nahm Charlot bei nächster Gelegenheit eine Droschke und fuhr geradewegs in die falsche Richtung. Er zahlte mit einem Großteil von Antoines Münzen, als er dem Fahrer zufällig bekanntgab, dass es nun gut sei, man könne ihn nun rauslassen. Den Rest gehe er zu Fuß.

Paris konnte wahrlich eine schöne Stadt sein, wenn man von dem vielen Unrat absah. Aber nirgendwo war es schöner als das Seine. Das Wasser beruhigte ihn. Daher schlug der junge Dieb den Weg zum Hafen ein.

Ein widerwärtiger Gestank nach trockenen Algen, nach Fisch und Alkohol, Urin und Blut belebte diesen Ort. Die Schatten hier unten waren dunkler und schwärzer als sonst wo. Wo im Hafen die Schiffe angelegt hatten, standen an Land große Türme von Kisten und Fässern. Und Seemänner drückten sich in der Nähe jeder Lichtquelle herum, als wären sie zu Mensch gewordene Ableger von Motten. Es gab ein paar Spelunken, die hier unten ihr spärliches Geld verdienten. Spiel- und Trinkhallen.

Charlot zog es fort aus dem Licht und er drückte sich lieber in jenem Teil herum, wo die alten Taue und Fischreußen lieb- und achtlos hingeworfen waren.

Bei dem Anblick dieser ausrangierten Sachen, legte sich ein bleiernes Gefühl und Müdigkeit und Elend über Charlot.

Das Meer gluckerte gegen die Hafenmauer und tat sein übriges, um Charlot langsam wieder zurück zu bringen zu dem Gefühl, wieder er zu sein. Zum ersten Mal seit Stunden, so kam es ihm vor, wälzten sich wieder Gedanken in ihm an die Oberfläche. Doch gerade als er einen von ihnen greifen wollte, hörte er eine dunkle Stimme fragen:

„Das ist doch nicht etwa ein Geigenkoffer, Genosse?“

Und als er ganz spontan mit „Doch!“, antwortete, schlug ihm die unbekannte Gestalt mit einem Holzknüppel gezielt über den Schädel, dass Charlot das Bewusstsein und damit jeden Gedanken verlor.

 

Ein paar Stunden später legte die „Bajonette“ in Paris vom Hafen ab.

An Bord ein Dieb aus Paris, ein Geigenkoffer samt Geige und eine Flagge des russischen Kaiserreiches, die langsam gehisst wurde und die Vorfreude der Besatzung weckte, endlich wieder zurück in die geliebte Heimat kehren zu können.

Als Charlot erwachte, befand man sich längst auf offenem Gewässer.

(…)

Fortsetzung folgt bei Haerzenswort.

 

 

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