Ich habe die merkwürdige Eigentümlichkeit bei mir selbst entdeckt und bin mir jetzt unsicher, ob das noch normal ist: Wann immer ich mich auf der Suche nach einer Sache befinde, die ich gerade verloren habe, wechselt beim Suchen meine Fantasie in die Perspektive der verlorenen Sache. Zum Beispiel hatte ich mich heute morgen richtig dämlich angestellt. Es war einfach nur ein Loch zu bohren gewesen, ein kleines Loch in eine Metallplatte einer Lampe, damit man da ein Kabel durchziehen konnte. Es war keine Hexerei und klappte auch einigermaßen gut. Beim anschließenden Aufräumen hatte ich mich nur leider viel zu sicher gefühlt und der kleine 3er Bohraufsatz fiel mir aus den vollbeladenen Händen selbstverständlich nicht auf den Boden. Nein, natürlich fiel er in eine Rumpelkiste voller Bastelmaterialien. Als ich wenig später darin wühlte, die ganze Pappe, jede Menge Plastiktüten voller Holzkeile, Metallstäbchen, Holzkügelchen, Styroporplatten, Plexiglasscheibchen, Kistchen mit Lineal, langsam an den Rändern zerfleddernden Pappseiten Größe viermal DIN A0, machte es in meinem Kopf auf einmal Klick und ich stellte mir automatisch vor, wie der kleine Bohraufsatz in den Zwischenräumen dieses Zeugs friedlich wartete, von mir gefunden zu werden.
Ich wühlte mit der Hand zwischen den Linealen herum und schob Tüte für Tüte zur Seite und sah dabei mit mikroskopischer Genauigkeit, wie die Falten um den Bohraufsatz sich herum bewegten und er langsam von meiner Hand weg rutschte und schlitterte, sich an einem Holzstück verfing, also alles mögliche tat, um nicht gefunden zu werden.
Eine Freundin von mir hatte mir mal erzählt, dass sie sich immer vorstellte, wenn sie eine Treppe mit einer Wasserflasche in der Hand nach unten ging, wie die Flasche ihr aus der Hand fiel und auf den Steinstufen zersplitterte. Sie wisse auch nicht wieso, das Bild sei einfach immer da. Und eine andere Freundin erzählte, ihr komme immer der Gedanke, wenn sie auf einer Rolltreppe im Kaufhof die Etage wechselte, dass das Band plötzlich ruckartig stehen bliebe und sie nach vorne kippte.
Bislang hatte ich immer darüber gelacht. Und ich hatte immer gesagt, dass das schon irgendwie krankhaft ist. Aber jetzt, wo ich diesen dämlichen Aufsatz suche und nach jedem noch so kleinen Geräusch lausche, lache ich nicht mehr.
Auf einmal kann ich mir vorstellen, dass wir alle solche merkwürdigen Fantasien mit uns rumtragen. Merkwürdig nur, dass sie an bestimmte Handlungen geknüpft sind.
Ich rede aber auch heimlich mit meinen verlorenen Gegenständen. Ich rufe sie. Frage: „Wo steckst du, du dämlicher Bohraufsatz?“ Und ich verfluche sie, unterstelle ihnen böse Absicht, Fluchtintentionen. Hauptsache weg von diesem handwerklich ungeschickten Hausmeister. Wahrscheinlich sind die Werkzeuge mit meinem Dilettantismus so frustriert, dass sie sich die Fluchtpläne aus dem Gefängnis meines Werkzeugkellers auf die nackte Haut tätowiert haben. Von Berufs wegen handwerklich geschickt, wird es meinem Werkzeug ein Leichtes sein, den perfekten Ausbruch durchzuführen. Und wenn es für sie irgendwo auf dieser Welt ein Paradies gibt, dann garantiert bei meinem Nachbarn. Dort muss es aus ihrer Perspektive wie im Schlaraffenland zugehen. Ist sogar egal, welcher Nachbar. Ich bin umgeben von handwerklich begabten Handwerkern. Die haben ganze Werkstätten in ihren Kellern untergebracht. Wenn es irgendwo in der Straße ein handwerklich zu lösenden Problem gibt, brauchen die mal kurz den Stromkasten anzuflirten, und jeder Kurzschluss löst sich von selbst. Dagegen ist bei uns im Haus die Werkzeughölle.
„Wieso machst du dir eigentlich nicht Licht an beim Suchen?“
Ich war so in meine Suchaktion verstrickt, dass ich vor Schreck auffuhr und mit dem Kopf gegen ein Regalbrett donnerte. Ein geöffnetes Glas mit Schrauben fiel natürlich jauchzend vor Glück dem Bohraufsatz in das Basteltohuwabohu hinterher.
Ich wusste nicht, ob ich vor Schreck, Schmerz oder Frust schreien sollte, also starrte ich meine Frau einfach nur an.
„Wenn du was suchst“, sagte sie. „Dann ist es einfacher, wenn du das Licht anmachst. Die kleine Hutzellampe da hinten macht dir doch kaum Licht.“
„Die Lampe geht nicht.“, knurrte ich wütend.
„Wieso das denn?“
„Hab sie abgeschraubt. Bin sie gerade am Reparieren.“
„Sie hat doch gestern noch funktioniert?!“
Ich sagte gar nichts mehr. Statt dessen starrte ich in das Chaos zu meinen Füßen.
„Mir ist ein Bohraufsatz da reingefallen. Ein 3er.“
Sie kam zu mir und gab mir im Vorbeigehen einen Kuss auf die Stirn. „Findest du schon wieder.“, dann ging sie wieder. Ich hatte keine Ahnung, was sie hier unten überhaupt gewollt hatte.
Kaum war sie weg, hörte ich die Schrauben mit dem Bohraufsatz da unten kichern. Sie wussten genau, dass ich nicht mehr alle finden würde. Nicht bei diesem Lichtverhältnissen.
Es hatte keinen Wert. Mir blieb nichts anderes übrig, als die ganze Kiste auszuleeren. Während ich die Pappe auf dem Boden sortierte und Lineale an der Wand zum Wachappell aufrichtete, fragte ich mich, ob ich der einzige auf der Welt war, dem das Unglück an den zwei linken Händen klebte.
Natürlich fand ich den Bohraufsatz nicht. Das Glas landete wieder reichlich gefüllt auf dem Regalbrett und nachdem ich alles eingeräumt hatte, starrte ich mein Lampenprojekt wieder an.
Es dauerte noch gut eine Stunde, bis das gute Ding endlich an der Decke hing. Wenn ich eine Highscore zu erstellen hätte, was ich beim Handwerken so hasse, dann liefern sich fingrige Kleinstarbeit und das ÜberdemKopfarbeiten einen erbitterten Fight um den ersten Platz.
Ich schaltete das Licht ein und war noch nicht mal überrascht, dass nichts passierte. Wie kann man beim Lampe anschrauben nur etwas falsch machen, fragte ich mich. So blöd muss man erst einmal sein.
Man muss doch einfach nur blaues Kabel ans blaue Kabel anschließen, schwarz an schwarz und Schutzleiter, gestreift, an Schutzleiter. Man sieht: Theorie hab ich drauf.
Unter dieser Erkenntnis spürte ich mich auf einmal durch die Dunkelheit hindurch beobachtet. Ich drehte mich um und sah meine Tochter im Kellereingang stehen.
„Papa, kannst du mir oben bitte helfen?“
„Ist es dringend?“, fragte ich.
„Ich würd gern das Hämmerchenspiel aufbauen. Aber ich will das nicht alleine spielen.“
Dich hat der Teufel geschickt, schoss es mir durch den Kopf und glaubte von oben das hämische Kichern meiner Frau hören zu können.
„Hat deine Mutter keine Zeit?“, fragte ich zurück.
Ohne eine Antwort zu geben, drehte sie sich wieder um und tänzelte die Treppe zurück nach oben.
Frustration und Irritation können eine unangenehme Melange in der Seele bilden.
„Ich komme gleich.“, rief ich ihr naiv hinterher.
„Immerhin blamiere ich mich hier nicht.“, sagte ich in die Dunkelheit des leeren Raumes hinein.
„Weil du denkst, dass du allein bist?“
Ich erschrak schon wieder und fuhr entsetzt herum. Diesmal ist zum Glück nichts in der Nähe, was mein zusammenfahrender Körper hätte in die Bastelkiste werfen können.
„Wieso erschrickst du mich den ganzen Tag so? Willst du, dass ich einen Herzinfarkt kriege?“
Meine Frau legte den Kopf zur Seite. „Ich hätt ja das Licht unterwegs angemacht, aber da sind ja immer noch die Sicherungen draußen.“
„Natürlich!“, fuhr ich sie an. „Ich arbeite ja auch am Strom.“
„Bist du auch bald fertig?“, säuselte sie.
„Wollte gerade die Sicherung reinmachen.“, knurrte ich. „Um zu überprüfen, ob die Lampe jetzt funktioniert.“
„Aha.“, machte sie, als ob sie wüsste, dass ich ohne ihre Hilfe bestimmt die Lampe noch einmal unnötigerweise abgeschraubt hätte, um den ominösen „Fehler“ zu suchen. Manchmal bin ich doch dankbar, dass sie dieses verdammt gute Timing besitzt, mir aus der Patsche zu helfen.
Als ich die Sicherung wieder einlegte, blitzte sofort die Lampe im Keller an.
„Endlich hängt sie richtig.“, sagte sie anerkennend.
„Hat nur ein Loch für die Kabel im Rahmen gefehlt.“, sagte ich und versuche noch ein wenig wütend zu klingen. In Wahrheit war ich einfach nur dankbar und irre erschöpft.
„Deine Kinder haben übrigens das Hämmerchenspiel wieder für sich entdeckt. Die Lust am Handwerkern haben sie von dir geerbt.“
„Ich hoffe nicht.“, antwortete ich.
Als das Licht hinter uns ausging, war ich mir sicher, in der Dunkelheit ein letztes Mal diesen vermaledeiten Bohraufsatz kichern zu hören.
Und in meinem Kopf sagte die Stimme von Morgan Freeman: „Bohraufsatz Nummer drei – who crawled through a river of shit and came out clean on the other side.“
Wieder sehr schön geschrieben.
Bei mir ist es so, dass ich beim Autofahren manchmal einen Unfall im Kopf sehe, der dann zum Glück nie eintritt.
Scheint also wirklich was Menschlich-Natürliches zu sein. Puhh. Ich dachte wirklich schon, dass das was Neurotisches ist 😅🙃
Ich denke, dass gerade Menschen mit starker Vorstellungskraft, mit Fantasie, mit Einfühlungsvermögen sich auch in Dinge oder andere Lebewesen hineinversetzen, eindenken können. Wenn man diese Gabe dann noch in Worte umschreiben kann oder in Fotografien einfangen oder in Gemälde ummalen oder… dann umso besser😉