Sich als Schachfigur fühlen – Essay

Im Sterbebett, dort oben in dem Klinikum, las Franz Kafka in den letzten Tagen „Entweder Oder“ von Sören Kierkegaard. Das ist aus seinen Tagebuchaufzeichnungen zu entnehmen. Also nehme ich mir den Kierkegaard vor. Und ich versuche ihn zu lesen, wie ihn der sterbende Kafka gelesen haben mag.

Und das Entweder Oder ist ein absoluter Wirbelsturm an Ideen und Gedanken. Er ist sperrig auf den ersten Blick, der ein philosophisches Werk vermutet, dann aber enttäuscht wird. Entweder Oder ist erst hinter der Interpretation Philosophie. Was steht da? In einem ersten Teil versammelt ein fiktiver Erzähler scheinbar zusammenhangslose Gedankensplitter. Wie zum Beispiel der hier:

„Mir ist zumute wie es einer Figur im Schachspiel sein muss, wenn der Gegenspieler von ihr sagt: diese Figur darf nicht bewegt werden.“

Das muss Kafkas zentrales Nervensystem zum Feuern gebracht haben, da bin ich mir sicher. Besser kann man einen zentralen Aspekt von „Das Schloss“ zum Beispiel gar nicht zusammenfassen. Eine Figur, die ununterbrochen darum kämpft, sich endlich zu bewegen. Aber die Regeln in der Welt passen nicht zu den inneren Bedürfnissen dieser einen Figur. Irgendwo anders steht ein König im Schach. Und der muss sich bewegen. Und das Ich, das mit dem König eigentlich gar nichts zu tun hat, das eigentlich ganz woanders auf dem Spielfeld positioniert ist, das vielleicht sogar die Möglichkeit hat, etwas wesentliches zu erreichen – vielleicht sogar die gegnerische Dame ohne Risiko zu schlagen, oder sogar den fremden König Schach zu setzen – darf sich nicht rühren, muss vor den Möglichkeiten erstarrt stehen bleiben und zu sehen.

Kierkegaard dachte da garantiert an sein tragisches Schicksal in Bezug auf seine große Liebe Regine Olsen. Er hatte das unfassbare Gefühl, dass er dieser Frau nicht gerecht werden könne. Und aus diesem Gefühl heraus, das ihn innerlich zerriss, das ihn regelrecht krank machte, löste er die Verlobung mit ihr auf und um sich seine Entscheidung, die sich darum drehte, dass sie nur glücklich werden könne, wenn er entsage, zu sichern, verfasste er das Tagebuch des Verführers. Ein diabolisch gutes Werk. Er schrieb und schrieb und hetzte und stellte sich selbst als einen Casanova dar, um seinen eigenen Ruf so zu zerstören, damit sie mit einem absolut gebrochenen Herzen, es einfacher haben würde, sich endgültig von ihm loszusagen.

Als ihm dieser Sieg gelungen war, und sie sich so endgültig von ihm entfernt hatte, dass sie sich wieder verlieben und einen anderen heiraten konnte, zerbrach für Kierkegaard eine Welt. Er musste mit ansehen, wie Leben vor seinen Augen gelebt wurden, die seins hätten sein können, aber nicht waren.

Ein Leben im Konjunktiv.

Seine eigene Religiosität gab ihm ein zu Hause. Seine Philosophie gab ihm ein Dach. Sein literarisches Schaffen, gab ihm eine unfassbar laute Flüsterstimme, weil seine Worte manchmal wie Donner einfahren. Bei ihm, wie bei Kafka, entsteht aus dem Kampf gegen die Verhältnisse erst ein starkes Ich. Das Werk heißt ja auch „Entweder Oder“. Verzeichnet werden absolute Negativseiten der Welt (das Entweder) mit absolut positiven Seiten (das Oder). Und aus dem Zusammentreffen beider entsteht, wie gesagt hinter der Interpretation, erst eine Synthese (das Entweder Oder).

Das Leben im Konjunktiv.

Ein Leben vor Möglichkeiten, die vor einem vorbeiziehen, wie fremde Schachfiguren, die für einen die Dame bedrohen, die für einen den eigenen König decken. Während man selbst unberührt auf dem Spielfeld stehen bleibt.

Das glaube ich doch nicht.

Und ich glaube auch nicht, dass Kafka und Kierkegaard daran geglaubt haben. Kierkegaard, der frühe Existentialist. Nein. Wir können aktiv jederzeit ziehen, auch wenn wir uns so fühlen, wie zur Reglosigkeit verdammt. Von den Regeln in einen Zugzwang gestellt.

Nein, das gibt es nicht. Zugzwang bedeutet meist nur, dass wir die Optionen nicht alle überblicken. Oder dass wir das im Vorfeld nicht überblickt haben.

Ich glaube, man kann wirklich die Welt nicht in Schwarz und Weiß, in Entweder und Oder sehen. Es gibt noch die Bereiche dazwischen. Die Entweder-Oders. Die Vielgesichtigen. Es gibt Abstufungen, die wir aber nur sehen können, wenn wir den Blick dafür haben.

Es heißt, für einen Hammer seien alle Probleme Nägel.

Wir gewinnen Zugmöglichkeiten, wenn wir Multitools werden. Mit jedem Stück Bildung gelangen wir zu größerer Freiheit, weil wir mehr zu sehen im Stande sind, als nur schwarze und weiße Felder.

„Er hat zwei Gegner, der Erste bedrängt ihn von rückwärts vom Ursprung her, der Zweite verwehrt ihm den Weg nach vorne. Er kämpft mit beiden. Eigentlich unterstützt ihn der Erste im Kampf mit dem Zweiten, denn er will ihn nach vorne drängen und ebenso unterstützt ihn der Zweite im Kampf mit dem Ersten, denn er treibt ihn doch zurück. So ist es aber nur teoretisch [sic], denn es sind ja nicht nur die 2 Gegner da, sondern auch noch er selbst und wer kennt eigentlich seine Absichten?“ (Kafka, Tagebuch; 12. Heft; 1920)

Wundervoll, nicht wahr?

Die Freiheit, das wahrzunehmen.

Das Vorgeschobene aus der Vergangenheit, das Zurückgeworfene aus der Zukunft. Und der Wille im Dazwischen, der sich aufbäumt und den dritten Weg geht und dadurch erst der wird, der er ist.

Kafka.

 

5 thoughts on “Sich als Schachfigur fühlen – Essay

  1. Einmal mehr ein sehr schöner Text von dir, danke schön 🙂 Das Leben im Konjunktiv, dieses Bild scheint mir ungemein treffend.

    Dieser Kommentar geht jetzt in eine etwas andere Richtung, ich kann es aber gerade nicht lassen. Folgende Frage drängt sich mir nach dem Lesen deines Textes nämlich auf:
    Und wenn der kleine, übersehbare Bauer denn nun tatsächlich zieht, sich den ihm überlegenen Figuren in den Weg stellt und sich aus dem Konjunktiv befreit? Wenn er sich eben zum Multitool wandelt, was geschieht dann? Empörung auf allen Seiten. Ein lauter Aufschrei, ganz gewiss. Der König schwingt sein Zepter und versucht den Bauern wieder zurück in den Konjunktiv zu verbannen, zweifelsohne. Womöglich wird der Bauer sogar in Ketten gelegt, sowas soll vorkommen. Doch was tun die anderen Bauern? Heimlich beobachten sie den kleinen Revoluzzer und beginnen sich selbst plötzlich wahrzunehmen, nicht in Schwarz oder Weiss, sondern in allen Farben des Regenbogens. Auch sie beginnen den Konjunktiv zu hinterfragen, den Status Quo. Die Bauernschaft beginnt umzudenken, sich nach Optionen umzusehen. Die Regentschaft und deren Regeln werden gestürzt im Namen der Freiheit, Gleichheit und Brüderschaft (ja, 1789 lässt grüssen).

    In den meisten Fällen hat die Befreiung aus dem Zugzwang natürlich nicht ganz so dramatische Folgen, aber selbst wenn uns verschiedene Richtungen offen stehen, in die wir uns bewegen können, zieht dies meist eine ganze Palette an Konsequenzen mit sich. Viele Menschen können oder wollen diese jedoch nicht tragen und verharren daher lieber im Konjunktiv. „Wenn ich könnte, würde ich ja gerne, nur leider kann ich nicht.“ Ein trauriger und entmutigender Satz.

    • Danke. Ich finde gar nicht, dass dein Kommentar allzu weit weg geht.
      Bei Kafka und Kierkegaard geht es jedenfalls um den Menschen, der als Individuum steht und nicht im Kontext eines großen politischen Weltgebildes. Bei Kafka endet die literarisch-philosophische Selbstfindung meist in der Niederlage des Protagonisten. Es stellt sich meist heraus, dass die Veränderung, der Zug des Bauern, meist eine „Unterstützung aus der Zukunft“ erfährt, also letztlich auch zum Regelwerk dazugehört und deshalb weiter zum Fatalismus des Individuums zählt.
      Aber ich persönlich stimme dir zu. Es gibt durchaus persönliche Befreiungsschläge gegen das Leben im Konjunktiv, die auch politisch wirksam sind. ich denke z.B. an Homosexualität: War es früher viel stärker ein Leben im Konjunktiv, ein Ignorieren und Unterdrücken der eigenen Gefühle, ein Erstarren der Figur im Spiel (man fühlt sich im Spiel wie in der Moralität „gebunden“), und löste ein Aufbegehren früher, also ein Coming Out, tatsächlich Empörung aus, dann sieht man das heute kaum noch. Das ist aber dann keine Revolution, sondern eine Evolution. Eine langsame Veränderung des Regelwerks ausgelöst durch die Züge. Und wenn wir uns an Kafka erinnern: Dann gehört die evolutionäre Veränderung der Regel zum ursprünglichen Regelsystem mit dazu.
      Boah, diese Gedanken werden jetzt für diese Uhrzeit doch etwas zu komplex und vielleicht sollte ich einen Teil zwei anstreben 😉
      Liebe Grüße (hoffe, verstanden worden zu sein)

      • Bist du. 🙂 Ich persönlich hoffe doch aber, dass wir nicht in einer Kafkaesken Wirklichkeit (oder einer Illusion derselben) leben, in dem all unser Tun quasi vorbestimmt ist und unweigerlich zu unserem Untergang führen wird. Wenn dem nämlich so wäre, würde ich doch lieber im Konjunktiv verharren als mich diesem Fatalismus hinzugeben. Da würde ich Platons Höhle vorziehen. Lieber die Schatten als eine solche Wirklichkeit. Ich freu mich auf Teil zwei!

Was sagt ihr dazu?