2 – Familie

 

 

Wenige Tage, so stirbt die Rose. Vorübergegangen
Ist sie; du suchest nun Rosen und findest den Dorn.
(Unbekannt; Übers.: Herder)

 

„Kein Wunder, dass du so selten zu Hause bist!“, meinte Martin. „Dieser Lärm vertreibt die Lebenden.“, dann seufzte der hagere Gast, las eine Tonscherbe vom Boden und drehte sie zwischen den Fingern. „Ich werde nie verstehen, wie du diese Frau heiraten konntest.“

Sandra befand sich in der Küche. Seit Martin seinen Freund besucht hatte, war sie mehrfach von dort hervorgekommen und hatte ihrem Ehemann einen Auftrag erteilt. Zuerst hatte er ihr Kartoffeln aus dem Kellern holen sollen. Martin hatte schmunzelnd eine Bewegung mit der Hand gemacht und seinem Freund angedeutet, dass es ihm nichts ausmache, kurz zu warten. „Hol deiner Frau die Kartoffeln aus dem Keller“, hatte er gesagt. „So lange sie nur die will, brauchst du dich nicht um die Sterne am Himmel zu bemühen.“

„Das Sternenpflücken überlasse ich der neuen Generation.“, hatte Sokrates geantwortet und war in den Keller verschwunden.

Als er diese in die Küche gebracht hatte, konnte Martin hören, wie Sandra sich darüber beschwerte, dass er so wenig und ausgerechnet die kleinsten geholt hatte. Seine Antwort hatte er nicht hören können. Dann saßen sie wieder zusammen und tranken verdünnten Rotwein. Noch ehe das erste Glas geleert war, stand die gute Frau wieder im Hof. Sie hatte die Arme in die Hüften gestemmt. Ihr Haar war hinten zu einem Pferdezopf zusammengebunden. So stand sie ein paar Minuten regungslos am Fleck, bis Sokrates das Gespräch mit seinem Freund unterbrach und zu ihr aufblickte.

„Ja, Schatz?“

„Du warst eben unten, haben wir noch Essig?“

„Ich denke.“

„Du bist dir nicht sicher?“, fragte sie. Es klang spitz und ungemütlich.

„Entschuldige mich, bitte.“, meinte Sokrates an Martin gewandt und verließ den Hof. Kopfschüttelnd blickte sie sich um und jetzt war es, als sähe sie erst jetzt, dass Martin zu Besuch war. Sie begrüßte ihn mit freundlichem Lächeln und setzte sich zu ihm.

„Wir haben dich lange nicht mehr gesehen.“, sagte sie.

„Ich hatte viel zu tun.“ Und dann erzählte er von seinem Lehrer George der ihn zu sich nach Sizilien bestellt hatte. Martin mochte das Reisen. Er liebte die Landstraßen. Nur die Schiffsreisen gefielen ihm nicht. Obwohl er schon über hunderte Male mit dem Schiff gereist war, bekamen ihm weder die Seeluft noch das ständige Auf und Ab, wenn das Schiff über die Wellen hüpfte.

„Ich habe gehört“, sagte Sandra, „dass die hiesige Universität neue Leute sucht.“, und dann wie zur Entschuldigung fügte sie hinzu: „hier laufen in letzter Zeit ja ständig Mitarbeiter von der Uni in unserem Haus herum. Da schnappt man so einiges auf.“

Martin konnte das Lächeln nur dadurch unterdrücken, indem er das Weinglas erneut an die Lippen führte.

„Du solltest dich hier bewerben.“, sagte sie sehr bestimmend. „Dann wärst du nicht mehr so viel unterwegs.“

Er schüttelte den Kopf und wiederholte, dass er gerne unterwegs sei.

„Niemand ist gern so viel unterwegs.“, tadelte sie. „Niemand, der klar bei Verstand ist. Wie viele Stunden bist du am Pendeln? Zwischen der Universität und deiner Wohnung? Wie viel Zeit verlierst du? Wie viel Land und wie viel Meer ist dazwischen?“

„Wenn ich hier in Athen arbeiten würde …“, wagte er zu widersprechen.

„Unfug!“, sie wischte mit der Hand seine Worte aus der Luft. „Es gibt fantastische Häuser in der Nähe, wo du wohnen kannst.“

Als Sokrates aus dem Keller trat, deutete Sandra einfach nur in Richtung Küche und Sokrates trug den Essig dorthin. Er blieb dann noch etwas länger in der Küche, vermutlich machte er beim Kochen dort weiter, wo sie aufgehört hatte. Martin hätte am liebsten etwas zu Sandra gesagt, denn er wusste, wie schlecht Sokrates sich in der Küche anstellte. Sein Essen war schon seit jeher das widerlichste, was man runterwürgen konnte. Im Gegensatz dazu war Sandra eine Meisterin im Kochen. Aber Martin wusste, dass sie ihn missverstehen würde, wenn er sie darum bat, am Herd die Arbeit zu übernehmen, die Sokrates gerade ruinierte. Deshalb biss er sich auf die Lippen und bereitete sich darauf vor, heute Abend hungrig das Haus seines Freundes zu verlassen und noch an einer Imbissbude einen kleinen Snack einzunehmen.

„Du hast keine Frau, keine Kinder, du bist frei. Und trotzdem bleibst du in diesem Nest, in dem du noch nicht einmal Freunde gefunden hast.“

Ganz im Gegenteil, dachte Martin. In Piräus hatte er sich gerade unter den mächtigeren, stolze Feinde gemacht.

„Was sollte ich unter Freunden? Ein Feind bemerkt viel schneller meine Fehler.“

Sokrates kam wieder auf den Hof und Sandra murmelte ein „endlich“. Im Fortgehen tätschelte sie aber noch Martin Schulter und sagte zu ihm: „Denk drüber nach. Es würde mir besser gefallen, wenn du in der Nähe wärst.“

Das klang wie ein merkwürdiges Kompliment, dachte Martin und untersuchte das Gesicht seines Freundes Sokrates nach einer Spur einer Antwort auf diese Andeutung.

„Wie hat sie das gemeint?“, fragte er schließlich.

„Was meinst du?“

„Sie wäre froh, wenn ich in der Nähe wohnen würde.“

„Weil du so ein netter Kerl bist. Es gibt wenig Menschen, die mit meiner Frau so gut klar kommen. Die meisten, die mich besuchen kommen, fragen, ob ich sie irgendwohin begleite. Kaum einer lässt sich zu uns herein bitten.“ Und dann zwinkerte Sokrates, weil gleich darauf das Küchenfenster aufgestoßen wurde und Sandra von drinnen eine wütende Fluchtirade über ihren unfähigen Mann zum Besten gab. Zugleich kam ein säuerlicher Gestank in Form einer schwarzen Küchenwolke hervor und Martin strengte sich an, diesen Gestank nicht zu tief einzuatmen.

„Athen sollte dir einen Preis dafür verleihen, dass du kein Koch geworden bist.“, murmelte er und Sokrates unterdrückte das Lachen, weil seine Sandra ihn hätte hören können.

„Die meisten fragen sich, weshalb du sie geheiratet hast.“, gestand Martin als – im wahrsten Sinne des Wortes – die Luft wieder rein war.

„Nennen wir es beim Wort: unter allen Lebenden, ja sogar unter allen, die einmal gelebt haben und noch leben werden, ist sie für eine Ehe die Unerträglichste. Versteh mich nicht falsch: nicht als Mensch ist sie unerträglich, nur für die Ehe!“

„Ich wollte die Kunst, mit Menschen umzugehen, zu meinem Hauptgeschäft machen.“, erwiderte Sokrates. „Deshalb habe ich mich für meine Sandra entschieden. Wenn ich weiß, dass ich ein Leben mit ihr ertragen kann, werde ich mich auch leicht in alle andere Menschen fügen können.“

Martin lachte: „Da ist es mir lieber, mich mit dem abzugeben, was mir der Augenblick bietet. Die Frauen, zu denen ich gehe, heißen mich mit Freuden willkommen, weil gerade sonst niemand mit ihnen verkehren will.“

„Beneidenswert!“, spottete Sokrates.

Sie tranken auf das Wohl der Frauen Athens und Martin konnte nicht anders – als Sandra über den Hof hinweg zu den Mülltonnen stapfte, das von Sokrates ruinierte Essen mitsamt den Töpfen wegwerfend – als herzhaft zu spotten.

„Einen schlechten Ruf muss man noch besser ertragen können als Steinwürfe.“

„Warte noch!“, sagte Sokrates mit einem gefährlichen Schalk in den Augen. „Ich habe es so im Gespür, dass Steine heute noch fliegen werden.“

Und tatsächlich dauerte es keine Stunde bis die Teller flogen. Inzwischen hatte Sandra im Hof gemeinsam mit ihrem Mann den Tisch gedeckt und sie hatten ein besseres Essen zu sich genommen. Dabei waren ein Platz und ein Teller frei geblieben. Der Gesichtsausdruck der Hausherrin hatte ihm aber genügt, um nicht nachzufragen, wer denn noch erwartet wurde. Als dann, kaum dass der letzte Bissen gegessen war, die Tür einen Spalt geöffnet wurde und Leon, Sokrates Sohn, seinen Kopf zu ihnen streckte, wusste Martin über alles Bescheid. Sokrates lehnte sich langsam zurück und seine Stirn verzog sich in Falten. Sandra dagegen stand auf und rief dem Sohn hinterher: „Hiergeblieben!“

Dieser hörte aber nicht mehr, sondern war im Inneren verschwunden. Ein offensichtlicher Fehler, denn sie stürmte ihm hinterher – nicht ohne sich im Vorhinein bei Martin für das Kommende zu entschuldigen – und legte los, noch ehe die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war.

„Wie alt ist Leon jetzt?“, wollte Martin wissen.

„Vierzehn.“

„Wunderbares Alter.“

„Ja, ein Traum. Das Alter, in dem die Eltern anfangen, schwierig zu werden.“

Leon machte den Fehler, jetzt wieder den Hof betreten zu wollen.

„Es wird ja noch etwas zu Essen da sein!“, rief er wutschnaubend zur Mutter, die ihm antwortete mit: „Es geht nicht ums Essen, es geht um Pünktlichkeit.“ Und wie um ihre Worte zu unterstreichen, hatte sie einen Teller gepackt und diesen zu Boden geschleudert. Die Scherben spritzten zu Leons Füßen vorbei auf den Hof und sie hatten so viel Schwung, dass sie bis zu Martins Füßen flogen.

„Willst du mich umbringen?“, brüllte Leon. Er hatte das Temperament der Mutter geerbt, denn als er die Tür zuschlug, barst das Schloss und die Tür schwang haltlos wieder auf. Sie tobte und schrie im Inneren weiter. Jetzt aber, da der Sohn im Hof war, glaubte sie offensichtlich, dass es die Aufgabe des Vaters sei, von nun an weiter zu machen. Sokrates aber packte eine Schöpfkelle und füllte den Teller, der von Beginn an für Leon bereitgestanden hatte.

Der setzte sich, hochrot im Gesicht, zu Martins Seite, ohne diesen zu begrüßen. Er war noch so blind vor Zorn, dass er ohne Rücksicht auf den Gast einfach zu essen und gleichzeitig über die Mutter zu fluchen begann.

Sokrates füllte einen Becher mit verdünntem Rotwein und stellte ihn provokant vor seinen Sohn. Diese unerwartet freundliche Geste ließ ihn innehalten und aufschauen.

„Hast du schon Mal gehört, dass man gewisse Leute undankbar nennt?“

Leon zuckte wie unter einem Schlag zusammen. Sein Gesicht war so finster wie die Nacht.

„Hast du auch schon herausgefunden, was man tun muss, um so genannt zu werden?“

„Klar. Man nennt die undankbar, denen man Gutes getan hat, und die es einem nicht vergelten, obwohl sie es vergelten könnten.“

„Weißt du auch schon, dass die Undankbaren zu den Ungerechten zählen?“

Leon hatte beschlossen, jetzt einfach weiter zu essen. Sokrates dagegen setzte sich wieder hin, um nicht von oben herab zu seinem Sohn sprechen zu müssen. Dann wartete er, bis Leon zaghaft nach dem Wein griff. Er schlang den Bissen, den er zum Mund geführt hatte, herunter und dann blickte er seinen Vater an, wohl um zu überprüfen, ob es sich bei dem Wein nicht etwa um ein Missverständnis handelte. Noch immer wagte er nicht, einfach zu trinken.

„Hast du dir schon mal darüber Gedanken gemacht“, fragte Sokrates, „ob das Undankbarsein gegenüber Freunden ungerecht ist, gegenüber den Feinden aber gerecht?“

„Es ist bestimmt immer falsch, undankbar zu sein.“

Überrascht stellte Martin fest, dass die Stimmen von Vater und Sohn sich sehr ähnlich anhörten. Leon war zwar im Stimmbruch, aber die Art, wie er die Worte betonte, war dem Vater sehr ähnlich. Und jetzt, da es dem Vater gelungen war, den Sohn mit dieser überraschenden und sehr einfachen Geste vorsichtig und aufmerksam zu stimmen, sprachen sie beide in sehr ruhigem, angenehmem Ton.

„Die Undankbarkeit ist also immer und unter allen Fällen, ausnahmslos, eine Ungerechtigkeit.“, es klang so, als spräche Sokrates mit niemandem als zu sich selbst.

„Und es wäre weit ungerechter, wenn die Wohltat enorm wäre, auf die man undankbar reagiert hat.“

Leon hatte sich nach der Mutter umgeschaut und jetzt an dem Glas genippt. Der trockene Geschmack des Weines ließ seine Augen aufleuchten.

„Wen könnte es geben, der von irgendwem mehr Wohltaten empfängt, als die Kinder von ihren Eltern? Die Eltern haben ihren Kindern das Leben geschenkt, so dass sie so viel Schönes und so viel Gutes genießen können, wie etwa den Geschmack des Weines.“

Leons Bewegung erstarrte. Er setzte das Glas wieder ab und Martin meinte zu hören, wie Leon sich für den Wein bedankte. Aber es war so leise, dass er kaum sicher sein konnte, ob Leon es tatsächlich gesagt hatte.

„Das Leben scheint uns sehr viel Wert zu sein. Denn die meisten setzen all ihre Energie darin, den Tod zu verhindern. Deshalb werden in unserem Land auch nur die größten Ungerechtigkeiten mit dem Tode bestraft, damit man mit der Furcht vor diesem größten Übel dem Unrecht entgegen wirkt.“, Sokrates beugte sich vor und zwang mit seinem Blick den Sohn dazu, ihm aufmerksam zuzuhören.

„Es gibt so viele Bordelle in der Stadt“, sagte er und Martin beobachtete amüsiert, wie Leon puterrot anlief. „Wenn deine Mutter einfach nur Sex hätte haben wollen, hätte sie in die Stadt gehen können. Wir wollten aber ein Kind. Es ist bekannt, dass man lange sucht und sorgfältig wählt, von welchen Männern oder Frauen wir wohl die besten Kinder bekommen könnten. Mit diesen vereinigen wir uns, und zeugen euch. Der Mann sorgt nun für die Frau, mit der er Kinder zeugen will, und er rüstet für die Kinder, die kommen sollen, alles, was nach seiner Meinung gut für sie ist. Diese Aufgabe erfüllt er so gut er nur eben kann. Die Frau aber wird schwanger, und sie muss diese Last tragen, sie hat Beschwerden, und ihr Leben ist sogar in Gefahr. Sie gibt von der Nahrung, mit der sie selber ernährt wird, trägt mit viel Mühe und unter Schmerzen das Kind aus, gebärt und pflegt es. Dabei hat sie vorher noch nie etwas Gutes von dem Kind empfangen. Und das Kind weiß noch nicht einmal, von wem es die Wohltaten empfängt. Es kann der Mutter nicht sagen, was es möchte, aber die Mutter forscht und versucht alles, ihm das Zuträgliche und das Angenehme zu verschaffen. Sie zieht ihr Kind lange Zeit auf und nimmt Tag und Nacht die Mühe auf sich, obwohl sie nicht weiß, ob sie je dafür irgendeinen Dank erntet.“

„Kann sein!“, unterbrach Leon seinen Vater. „Trotzdem kann niemand ihre Art ertragen. Und ich soll jetzt dazu verflucht sein, diese Art auszuhalten, nur weil ich ihr Sohn bin? Das ist nicht fair.“

„Meinst du, dass die Wildheit eines Tieres schwerer zu ertragen ist, als die Wildheit deiner Mutter?“

„Meine Mutter ist schwerer zu ertragen!“, antwortete Leon spontan. Sokrates entging nicht, dass Martin, um nicht lachen zu müssen, wieder zu trinken begonnen hatte.

„Ich wusste gar nicht, dass deine Mutter dich je gebissen oder gekratzt hat.“, meinte Sokrates erstaunt.

„Das nicht, dafür sagt sie einem aber Dinge, die man das ganze Leben lang nicht hören möchte.“

„Ich wäre froh, du hättest dabei sein können, als du ihr mit deinem Geschrei und deinen Unarten Tag und Nacht Schwierigkeit gemacht hast.“

„Als ob ich ihr als Säugling einen Teller vor die Füße geschmettert hätte!“, Leon trank nun einen hastigen Zug von dem Wein. Vielleicht glaubte er, der Vater würde ihm bald den Wein vor Wut aus der Hand reißen.

„Sag mal: glaubst du es schwerer nehmen zu müssen, wenn deine Mutter dir etwas sagt, als die Schauspieler, wenn sie einander in den Filmen die übelsten Dinge sagen?“

„Was soll denn das jetzt?“, begehrte Leon mit dem von der Mutter geerbten Temperament auf. „Das hat doch mit der Sache gar nichts zu tun. In den Filmen geht es doch überhaupt nicht darum, dem anderen weh zu tun oder ihn zu beleidigen. Das ist doch nur Schauspielerei!“

„Du glaubst also, dass deine Mutter dich verletzen möchte?“

Leon wand sich wie ein Aal auf seinem Sitz. Jetzt, da das Glas leer war, stand er auf und schenkte sich nach. Er achtete gar nicht darauf, ob er weiter trinken durfte oder nicht. Er füllte das Glas aber nur so weit, bis der Boden bedeckt war. Dann setzte er sich hin und piekste sauer eine Olive auf einen Zahnstocher.

„Wenn sie dir nun aber nichts Böses will, sondern im Gegenteil, wenn sie nur das Beste für dich will, indem sie dir bestimmte Dinge sagt, sich ereifert und dabei auch einmal ein Teller auf den Boden … fällt.“, die kurze Pause fiel zum Glück nur Martin auf. Leon schüttelte heftig den Kopf.

„Ich glaube“, sagte Sokrates weiter. „Dass du das Gute nicht ertragen kannst, wenn du deine Mutter schon nicht erträgst.“

Leon trank den selbst eingegossenen Wein, dann sah er auf.

„Kann ich rein?“, fragte er.

„Natürlich.“, sagte Sokrates.

Es dauerte aber noch ein wenig, dann erst stand der Junge auf. Er bewegte sich recht langsam, rückte den Stuhl zurecht und entschuldigte sich dann flüsternd bei Martin, dem Gast, der das alles hatte ertragen müssen.

Als Leon drinnen war, raffte Martin eine jener Tonscherben vom Boden auf.

„Ich werde nie verstehen, wie du dieses Weib heiraten konntest.“, dann blitzte es in Martins Augen auf, weil ihm ein amüsanter Gedanke gekommen war. Die Hand auf der Brust, den Kopf wie ein Schauspieler erhoben flüsterte er: „Heiratest du ein schönes Weib, so hast du es nicht allein; und wenn ein hässliches, so macht es dir Pein.“

Für dieses Bonmot bewarf Sokrates seinen Freund mit einem Stück Brot.

Als es dann spät genug geworden war seinen Gast zu verabschieden, begleitete Sokrates Martin noch bis zur Tür. Doch die Verabschiedung dauerte länger als erwartet. In der Zwischenzeit war die Haustürbeleuchtung, die von einer Zeituhr geregelt wurde, schon ausgegangen und in der Dunkelheit waren die beiden Freunde automatisch leiser geworden. Zudem waren sie so sehr in ihr Gespräch vertieft, dass sie nicht bemerkten, wie über ihnen das Fenster geöffnet wurde und kurz darauf kippte Sandra einen Topf mit stinkender Brühe aus dem Fenster. Martin machte automatisch einen Schritt zurück, Sokrates aber stand zu ungünstig. Die Brühe übergoss sich komplett über ihn. Sie beide waren aber so überrascht worden, dass inzwischen das Fenster wieder geschlossen wurde, noch ehe Sandra bemerkte, dass die Brühe ihren Mann übergossen hatte.

Martin brach nun in schallendes Gelächter. Der erbärmliche Gesichtsausdruck seines Freundes war zum Steinerweichen. Die Schadenfreude über dieses Missgeschick war so groß, dass selbst Sokrates sich davon anstecken ließ und als sie beide endlich wieder reden konnten, sagte Sokrates:

„Siehst du? Wenn meine Frau donnert, lässt sie es auch regnen!“[1]

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

[1] Martin Hossenfelder: Antike Glückslehren; Antisthenes.

Xenophon: Erinnerungen an Sokrates; erstes und zweites Buch.

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