Tabus – Essay

Es gibt in Afrika ein Sprichwort, ich habe es aus Kwame Anthony Appiahs Buch „Der Kosmopolit“. Es lautet so: Die Menschen gliedern sich in drei Arten, aber jede hat ihr eigenes Tabu: Herrscher, Adliger und Sklave. Das Tabu des Herrschers ist Streit, das des Adligen Respektlosigkeit und das des Sklaven die Enthüllung seiner Herkunft.

Das Tabu mag nicht die Art definieren. Aber es charakterisiert ihre Fundamente. Ein Herrscher ist nicht definierbar durch das Tabu des Streites. Aber wir verstehen, dass der Streit, die offene Austragung allein einer Meinungs-Differenz den Herrscher in seiner Autorität untergräbt. Über Meinungen spricht man nicht. Wes Brot ich ess’, des Lied ich sing.

Das Lied, das nicht jenes des Herrschers ist, ist das Lied, das seinen Thron zum Wanken bringen kann.

Das Tabu des Adligen ist die Respektlosigkeit. Nur haben wir keinen Adel mehr. Natürlich haben wir ähnliches. Man liest allerorts von der auseinanderklaffenden Schere und hat eine Zweiklassengesellschaft im Sinn. Die untere Klasse, die Armen, widersetzen sich mit Spott und Häme immer wieder gegen die oberen Zehntausend. Die Respektlosigkeit entsteht aus der Differenz und den Möglichkeiten, die Kluft zu überspringen. Je größer der Unterschied und je weiter der Graben – oder Schere, wenn man bei diesem Bild bleiben möchte – umso eher neigt die Respektlosigkeit einzukehren und wie Zunder in trockenem Gras zu agieren. Wer diesen Teil verstehen will, lese Schulbücher über die französische Revolution.

Das Tabu des Sklaven: Nun sind wir aus unserer Zeit gefallen. Wir haben nichts, was dem Sklaven gleich käme. Niemand muss sich seiner Herkunft schämen und sie verschweigen, da sie sonst einen Unterschied mache. Wir haben den Sklaven in diesem Sinn nicht mehr, weil der Sprung des Menschseins vom nackten Leben zum zoon politicon, nicht nur stattgefunden, sondern augenfällig in Vollendung getreten ist.

„Dem nackten Leben“, heißt es bei Giorgio Agamben, „kommt in der abendländischen Philosophie das einzigartige Privileg zu, das zu sein, auf dessen Ausschließung sich das Gemeinwesen der Menschen gründet.“ (Homo Sacer) Die Politik ist dazu da, das nackte Leben der Individuen auszutauschen gegen das politische Leben, also das des Bürgers. Und das bedeutet, dass es in der wahren pólis der Moderne diese Randfigur des Sklaven so nicht mehr gibt.

Greifen wir das doch anders: „Wir sind alle entstanden um des Lebens willen, aber bestehend um des guten Lebens willen“ (ebd.) Unsere Geburt ist an sich. Wir sind. Das ist das Ergebnis der Geburt. Wir sind und zwar da sind wir. Die Politik ist dann der Ort, in dem sich das Leben in gutes Leben verwandelt. Unser Leben selbst ist nicht einfach nur ein Sein. Sondern es ist ein Sein auf eine bestimmte Art. Und wir alle streben danach, glücklich und zufrieden zu leben. Damit es dafür einen Rahmen gibt, dafür ist die pólis da. Also der Staat.

Wir machen es wieder etwas simpler ehe wir komplizierter werden:

Wenn wir außerhalb einer pólis geboren werden, dann sind wir mit dem nackten Leben der nackten Welt ausgesetzt. Wir müssen jagen, ums Überlegen kämpfen, wir müssen uns irgendwie zurecht finden, uns paaren. Der Staat garantiert uns eine Sicherheit in den Grundbedürfnissen und – jetzt wird es interessanter – jeder Staat hatte ursprünglich eine eigene Vorstellung davon, was darüber hinaus zu gewährleisten ist. Dadurch entstehen Gruppen von individuellen pólis-Ideologien. Nehmen wir Sparta, die Stadt der Krieger. Oder Athen, die Stadt der Kultur.

Nach der Reise von Athen nach Sparta soll der antike Kyniker geäußert haben: Ich bin aus dem Frauengemach in den Männersaal gekommen.

So wie es aber keine Sklaven mehr gibt, wagt man heute zu behaupten, gäbe es keine nationale Identitäten mehr. Es gibt die „westliche Welt“. Es gibt ein Europa. Es gibt noch Ideologien, doch, doch. Es gibt auch Mentalitäten, natürlich.

Vor ein paar Jahren hat die halbe Welt über den französischen Film „Willkommen bei den Sch’tis“ gelacht. Denn die Komik bestand eben darin, dass zwei Mentalitäten in einem Land dazu geführt haben, dass man sich wie in zwei Welten vorkam. Und das war überraschenderweise keine rein französische Komödie. Man konnte weltweit darüber lachen. Das Phänomen war überall verständlich.

Heute weint man, dass Katalonien diesen Witz nicht mehr versteht.

Heute sieht man, dass Europa von einem Ost-Europa spricht.

Das Tabu einer Nation scheint heutzutage darin zu bestehen, dass es sich selbst treu ist.

Alle verraten sich. Und das auf die denkbar unkomplizierte Weise.

Europa wird gebeutelt von einer Wirtschaftskrise mit anschließender Flüchtlingskrise. Da kommen Bürger aus anderen Nationen in eine Welt, die von sich jahrelang behauptet hat, und das voller Stolz, dass man kosmopolitisch geworden sei.

Alle Menschen werden Brüder, singen die Länder Europas jedes Mal zum Eurovision Song Contest auf einer sündhaft teuren, leuchtenden, glitzernden Bühne.

Alle Menschen. Ausnahmslos.

Es betreten also einige von diesen Allen Menschen die pólis Europa. Und sie beanspruchen, dass man sie genauso wahrnimmt, wie das eh und je galt. In der Form, dass sie entstanden sind um des Lebens willen, aber bestehen um des guten Lebens willen.

Sie beanspruchen Grundrechte.

Und wir halten das nicht aus.

Es ist, als ob man aus dem Reich der Toten einkehrt in die Welt der Unmenschlichkeit.

– „Es kommen ja nicht nur Kriegsflüchtlinge; wer um sein Leben bangt, natürlich wollen wir den Beschützen.“

– „Aber bevor wir den beschützen, der bei uns vor der Tür steht, sollten wir dafür sorgen, dass unsere pólis nicht seine ursprüngliche pólis politisch dazu treibt, die Bürger vom politischen Menschen hin zum biologischen Menschen zu ‚degradieren’ und ihn dort zu behandeln wie Vieh.“

Und so lange wir das nicht tun, wird er auch nicht in unsere Heile Welt aufgenommen.

Aber es gibt noch mehr Argumente:

– „Es kommen ja nicht nur Kriegsflüchtlinge, es kommen auch Wirtschaftsflüchtlinge. Die sehen, wie gut es uns hier geht, deshalb kommen die zu uns und wollen auch etwas vom Kuchen“ … des guten Lebens abhaben.

Alle Menschen werden Brüder.

Oh, sie betreten wirklich alle Feuertrunken das Heiligtum.

Als ob sie unter Roofies stünden, dürfen sie das Heiligtum dann aber auch wieder verlassen.

Sie sind aus einer anderen Welt. Sind anders zivilisiert. Sie sind anders gebildet. Sie haben andere Mentalitäten. Andere Vorstellungen.

So what?

Deine Zauber binden wieder, was die Mode streng geteilt.

Was das wohl bedeuten soll! Friedrich Schiller war unmittelbar bei der Überwindung in einer Lebenskrise, als er diese Worte schrieb. Er hatte finanzielle Probleme. Eine Sinn- und Schaffenskrise. Dabei hatte gerade sein großartiges Werk „Die Räuber“ Erfolg auf der Mannheimer Bühne. Da erreicht ihn ein Brief von wildfremden Menschen, die ihm sagen, sie wären bereit, sich mit ihm zu befreunden. Er könne sie jederzeit besuchen können. Sie wären seine Fans.

Freude durchströmt diesen Menschen, der keinen Halt im Leben gefühlt hatte und nun eine ausgestreckte Hand gereicht bekommt.

Es reißt ihn so emotional mit, dass er sofort aufbricht und zu wildfremden Menschen zieht, hoffend dort eine Heimat zu finden. So berauscht ist er, dass eine Ode entsteht, in der er sagt: „Seid umschlungen, Millionen!“

FREUDE TRINKEN ALLE WESEN

AN DEN BRÜSTEN DER NATUR;

ALLE GUTEN, ALLE BÖSEN

FOLGEN IHRER ROSENSPUR.

Wir sitzen hier und sind Meister des Ignorierens geworden. Und singen die emotionalsten Verse der Literatur. Sturm findet in der Ferne statt. Das Drängen kommt von außen zu uns.

Und damit sind wir wieder bei dem Tabu des Herrschers, der sich anschickt, alles zu bewerkstelligen, damit die Menschen als Bürger nicht nur leben, sondern gut leben.

Die Zeit der Moderne hatte begriffen, dass es kein Tabu ist, frei seine Meinung zu äußern. Das System sollte so geschaffen sein, dass Redefreiheit und Meinungsfreiheit der Autorität nichts anhaben kann. Im Gegenteil, sie sogar lenken und leiten kann.

„Gehorcht wird nicht der Person, kraft deren Eigenrecht, sondern der gesetzten Regel, die dafür maßgebend ist, wem und inwieweit ihr zu gehorchen ist. Auch der Befehlende selbst gehorcht, indem er einen Befehl erlässt, einer Regel: dem „Gesetz“ oder „Reglement“, einer formal abstrakten Norm.“ (Max Weber über die legale Herrschaft)

Genau deshalb ist das erste Tabu auch fort.

Streit ist nicht das Tabu der Herrschaft. Streit nicht.

Denn es gibt nicht mehr nur „ein Lied“ in einer Welt, in der alle Menschen Brüder sind. Es tut mir Leid, Brüder: so sehr man sich auch winden mag,

wer wieder anfängt, an nur ein einziges Lied zu glauben, der wirft so viel über Bord, dass der Preis einer Leitkultur, die Wiederauferstehung alter Tabus sein wird.

 

3 thoughts on “Tabus – Essay

  1. Bist du dir sicher, dass wir das Tabu der Sklaverei tatsächlich losgeworden sind und es sich nicht nur gewandelt hat? Ich verstehe natürlich, worum es dir hier geht und stimme dem auch vollkommen zu. Trotzdem muss ich dir widersprechen, wenn du schreibst: „Niemand muss sich seiner Herkunft schämen und sie verschweigen, da sie sonst einen Unterschied mache.“ Das ist die Theorie, ja, aber nur allzu oft nicht die Praxis. Mit der Furcht vor den Millionen, die das Heiligtum betreten wollen, kommt unweigerlich auch eine neue, wenn auch subtilere, Art der Diskriminierung, nicht wahr?

    Trevor Noah formuliert das in seiner Stand Up Comedy sehr treffend, wenn er sagt, Akzente würden lediglich bedeuten, dass jemand eine fremde Sprache spricht, aber nach den Regeln seiner eigenen. So ist es mit allen kulturellen Akzenten. Das Schlagwort unserer Zeit heisst ja Integration, nur wird es vielerorts missverstanden. Integration heisst nicht, sich akzentfrei (und das nicht nur im sprachlichen Sinne) in eine neue Gesellschaft, in eine neue pólis, einfügen zu müssen. Leider wird dies aber lautstark so gefordert und, wenn dem nicht Folge geleistet wird, bejammert: „Die wollen sich ja gar nicht richtig integrieren!“. Natürlich nicht, denn das hiesse ja, ihre eigene Sprache, das eigene Ich, zu verleugnen. Nur wird der Akzent, der Wunsch nach der Erhaltung der eigenen Identität, oft als Weigerung oder als Aggression missverstanden. Dem Fremden wird mit Skepsis, Rassismus und Diskriminierung begegnet und das Tabu der Sklaverei, die Enthüllung der eigenen Herkunft, bleibt uns erhalten, wenn auch in anderer Form. Zwar liegt das Tabu nicht mehr unbedingt beim Sklaven, der sich seiner Herkunft tatsächlich nicht zu schämen braucht. Es liegt neu bei der Herrschaft, die diese Herkunft zwar gnädig billigt, aber möglichst nichts von ihr sehen will.

    • Ich bin dir über deinen Widerspruch sehr, sehr dankbar!
      Der Absatz, den ich da schrieb steht bewusst im Gegensatz zu dem später Kommenden. Wenn es erst einmal heißt: „Niemand muss sich seiner Herkunft schämen …“ dann geht es um die Grundstruktur, die Grundgedanken unserer Gesellschaft. Ich hatte Sätze im Sinn wie „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Es ging mir um die Theorie. Denn du hast völlig Recht (und die Akzent-Metapher ist super, gefällt mir! Tausend Dank dafür! Ich google gleich mal Trevor Noah!): Wir diskriminieren. Und wo es vor Jahren vielleicht unterschwellig war, treten Diskriminierungen immer häufiger zu Tage.
      Das meinte ich, als ich Schillers Ode an die Freude zitierte mit „Alle Menschen werden Brüder“ und man gleichzeitig sieht, wie die Gesellschaften in den europäischen Nationen unverhohlen ihren Widerwillen preisgeben, ein Bruder sein zu wollen. Das Tabu liegt nicht mehr bei dem Sklaven und es liegt nicht mehr bei den Europäern, die inzwischen die katastrophale Vorsilbe „bio-“ eingeführt haben. Wir reden von „Bio-Deutscher“ oder „Bio-Europäer“. Aber gleichzeitig sind wir so stolz darauf, dass wir (in der Theorie) das nackte Leben überwunden haben.
      Was du im letzten Satz sagst muss jetzt m.A. nach umformuliert werden: „Das Tabu liegt nicht mehr beim Sklaven, sich seiner Herkunft zu schämen. Das Tabu hat sich zu einem Stigma verwandelt, das die Herrschaft gnädig auslässt oder auf Volkswunsch zuteil werden lässt.“ Es ist ja kein Tabu mehr, verstehst du, was ich meine?
      Wenn es stimmt, dass Integration in Zukunft verstanden wird im Sinne einer kulturellen Einbahnstraße, wenn aus dem Ist-Zustand das Soll wird, das es zu werden droht, dann werden wir mächtig arrogant, anderen das Akzentfreie aufzuzwingen.
      Ich bleibe hoffnungsvoll, dass es Querdenker wie dich und mich mehr gibt. 🙂

      • Wie Recht du hast! Deine Umformulierung meines Schlusssatzes ist tatsächlich sinnvoll und einiges zielführender, danke dir. Es ist schon so, dass wir in einer Welt leben, in der Tabus aller Art weitgehend aufgebrochen werden, dass es eben keine eigentlichen Tabus mehr gibt. Nur hat dies bisher eben nicht unbedingt zu mehr Freiheit und Bruder- oder Schwesternschaft geführt. Des einen Freiheit wird leider oft als des anderen Einschränkung gedacht, was dann wiederum zu Stigmatisierung und Ausgrenzung führt … Ein Teufelskreis. Aber ja, ich hoffe mit dir! 🙂

Was sagt ihr dazu?