Vom Dach

Es waren andere Zeiten.

Wir hatten gerade einmal drei Ausländer in der Klasse.

Der Eine war Italiener, der Zweite Grieche und erst der Dritte ein Moslem. Wir sagten „Türke“ zu ihm, weil wir alle keine Ahnung hatten, dass er eigentlich Kurde war. Und ihm war das auch genauso egal wie seinen Eltern. Man nannte sie „die Türken aus der Lingenfeldstraße“. Oder „die Türken aus der 17“. Manchmal auch „die Türken mit dem roten Passat“. Und dabei gab es in ganz Pilzbach keine zweite türkische Familie.

Es war ein ziemlich überschaubarer Ort. Ganz ehrlich: es war auch eine überschaubare Zeit. Und wir alle hatten überschaubare Probleme.

Die alte Kessler, die jeden Morgen schon eine halbe Stunde vor Öffnungszeit vor der Metzgerei wartete, klagte über die Einsamkeit und dass sich das große Haus nicht von selbst putze. Sie sagte, wenn sie abends unten aufhörte, könnte sie eigentlich gleich wieder oben anfangen.

Der vollbärtige Tom Weller beschwerte sich darüber, dass ihm die Kinder immer die Köpfe von den Rosen abschnitten, dabei stand ihm die Rosenhecke wild blühend um drei Seiten so dicht ums Haus, dass man das Erdgeschoss gar nicht mehr sehen konnte.

Meine Schwester Sonja jammerte den ganzen Sommer über, dass wir nicht wie alle anderen in Urlaub gefahren waren und dass das Leben ohne Freundinnen keinen Pfifferling Wert wäre, nur um einen Monat später zu jammern, dass sie in der Schule ununterbrochen von diesen Zicken umgeben sei und es Zeit wäre, wieder Ferien zu haben.

Mein Vater hatte den Job verloren. Deshalb waren wir zu Hause geblieben. Und meine Mutter hatte begonnen, kleine Nebenjobs für die Gemeinde anzunehmen. Ich glaube, das meiste Geld bekam sie von der Kirche für ein paar sehr anstrengende Jobs und während sie klagte, dass das eigentlich ein Mann machen müsste und wenn sie weiter so hart angreifen musste, würde sie am Ende noch aussehen wie ein Mann, während sie also übers Schuften klagte, blieb mein Vater still. Er war, glaub ich, der einzige Mensch auf der Welt, der sich in diesen Zeiten überhaupt nicht beschwerte. Und dabei hätte er von allen am meisten Grund gehabt. Unser Haus war am auseinanderfallen. Jeden Tag war etwas anderes kaputt. Sonja nannte unser Haus die „Villa Gruft“, weil sie noch irgendwann über uns einfach einstürzen und uns unter ihren Trümmern begraben würde.

Aber unser Vater brummte immer nur: „Problem erkannt. Problem gelöst.“ Und schnappte sich das erstbeste Werkzeug und machte sich an die Arbeit. Er war seit er seinen Job verloren hatte ununterbrochen am Renovieren. Und trotzdem wurde das Haus nicht besser. Ich weiß nicht, ob es an seinen mangelhaften Talenten lag oder einfach daran, dass das Haus eine Baustelle war, die so groß war, dass man sie alleine nicht in den Griff bekam. Deshalb waren alle Probleme immer nur ‚erkannt’ und nie ‚gelöst’. Immerhin hatte das ganze einen gewaltigen Vorteil: bei uns gab es immer was zu tun. Wenn ich von der Schule nach Hause kam, brauchte ich in der Regel etwas, um mich auszupowern. Deshalb nahm ich mir einfach das Werkzeug aus dem Keller, schlenderte von Zimmer zu Zimmer und fand garantiert irgendetwas, das repariert werden wollte. Die pfeifenden Wasserrohre im Bad, der knirschende Warmwasserboiler in der Küche, gesprungene Fliesen im Gäste-WC, ganz egal. Ich konnte ja nichts mehr kaputt machen, also hatte ich Rückendeckung und lernte ziemlich schnell, ziemlich geschickt zu werden und kreativ, wenn es darum ging, Dinge wieder in Schuss zu bringen. Ich bildete mir ein, dass wenn mein Vater und ich gleichzeitig zu Werk gingen, wir das Haus doch in absehbarer Zeit solide bekommen müssten. Aber kaum hatte ich das gedacht, regnete es auch schon durchs Dach oder wir hatten Maulwürfe im Garten, eine Verandadiele krachte ein oder das Schlafzimmerfenster schloss nicht mehr.

Mein Vater konnte garantiert nicht viel, aber er konnte mir vertrauen. Und das nicht zu knapp. Ich saß im September gemeinsam mit einem Werkzeugkoffer auf dem Dach, deckte ein paar Ziegeln ab und verlegte ein neues Satellitenkabel. Mein Vater kam irgendwann raus, sah zu mir hoch und fragte, ob alles in Ordnung sei. Klar war es das. Und dann sagte er, dass er noch weg müsse und schon war ich allein hier oben.

Es war zwar September, aber einer von der goldenen Sorte. So einer, wo es wenig Regen gab und viel Sonne. Das Septemberlicht mag nicht so kräftig und heiß sein wie das im August, aber es hat noch genug Kraft, um auch kleine Arbeiten auf dem Dach anstrengend werden zu lassen. Ich war so konzentriert, dass ich gar nicht mitbekam, wie ich beobachtet wurde. Als Berin meinen Namen sagte, erschrak ich und wäre fast vom Dach gefallen. Sie lachte mich aus.

„Du hast mich fast umgebracht!“, beschwerte ich mich und sie meinte:

„Du wärst in die Brombeeren gefallen.“, als ob das alles irgendwie besser machen würde. Dann sagte sie: „Warte!“ und verschwand tatsächlich hinter unserem Haus.

Ich versuchte ihr um die Ecke hinterher zu schauen, was mich beinahe schon wieder das Gleichgewicht gekostet hätte. Aber dann kam sie auch schon wieder und diesmal hatte sie eine alte Holzleiter dabei, die sie neben der Haustür an die Dachkante lehnte. Sie kletterte zu mir nach oben und grinste mich frech an. Keine Ahnung, Berin war schon irgendwie anders als alle andern. Ich meine: wer klettert schon zu dir aufs Dach und setzt sich ganz vorne an die Dachkante, um die Füße baumeln zu lassen?

„Darf man fragen, was du da kaputt machst?“, fragte sie mich und lehnte sich dabei ganz langsam und vorsichtig zurück, bis sie wirklich und wahrhaftig neben mir auf dem Dach lag.

„Da kann man nicht viel kaputt machen.“, sagte ich. „Darf ich vorstellen: das erste Haus, das sich selbst schneller kaputt macht als man es reparieren kann.“

Sie klopfte gegen die Schindel an ihrer Seite und meinte: „Klingt doch stabil.“

Ich sah sie völlig irritiert an und dann blinzelte sie kurz und unsere Blicke begegneten sich, dass wir beide lachen mussten.

„Unser Haus ist auch nicht viel besser.“, erklärte sie mir. „Vielleicht gibt es auf der ganzen Welt kein einziges Haus, das nicht am Zusammenfallen ist.“

„Meine Schwester hasst unser zu Hause.“, meinte ich. Und natürlich fragte sie:

„Und du?“

„Ich mag es.“, antwortete ich nach einer Weile. „Ich mag es, weil ich es liebe, wenn ich Dinge reparieren kann.“

Ich setzte mich zu ihr und genau wie sie versuchte ich die Füße baumeln zu lassen und mit hinter dem Kopf verschränkten Armen die Sonne vom Dach aus zu genießen.

„Kletterst du öfter so auf Dächer?“, fragte ich nach einiger Zeit.

„Kommt drauf an, was man oben so findet.“

Über uns zog ein gutes Dutzend Kraniche vorbei und zeichneten ihr gepunktetes V in den blauen Himmel. Als sie fort waren, fiel mir auf, wie blank und klar der Himmel heute aussah. Wie ein Spiegel, den man den ganzen August über geputzt hatte. Lupenrein. Makellos. Und ich dachte spontan: Da oben gibt es nichts zu reparieren. Umso höher, desto perfekter.

„Ich fühl mich hier oben eigentlich gar nicht wohl.“, gestand ich ihr. „Ist keine Höhenangst oder so. Aber ich hab lieber die Füße auf der Erde, wenn du verstehst.“

„Also ich bin lieber hier oben als da unten.“, antwortete sie.

„Wieso?“

„Na, hier oben ist alles, was da unten so läuft, ziemlich egal. Das gefällt mir. Das ist wie eine Höhle. Nur noch besser. Nur wir zwei und da unten der Rest der Welt.“

„Weil man alles sehen kann und selbst nicht gesehen wird?“

Sie drehte sich zu mir um und ich starrte in ihre Augen, die so tiefdunkel waren, dass man meinte, sie würden das Licht der ganzen Welt mit nur einem Wimpernschlag löschen können.

Sie ließ noch einmal ihre Zähne über die Unterlippe rutschen. Und dann flüsterte sie: „Weißt du was?“

Und ehe ich etwas antworten konnte, drückte sie mir diese Lippen auf meine drauf.

Und das fühlte sich an, als würden wir gemeinsam vom Dach runterstürzen. Oder nein: als würden wir vom Dach nach oben stürzen. Einfach hoch. Und in diesen Himmel hinein, der, je höher man fällt, so dunkel wird, als wären es ihre Augen.

Was sagt ihr dazu?