Was wär ich ohne Kalender?

Was wär ich ohne Kalender?

In welchem Tag würde ich leben? Wann hört der Tag auf, wann endet er, warum holt niemand den Müll heute ab?

Ein Tag fühlt sich auf einmal an, als wären alle Konturen nur mit brüchiger, grober Kreide in ein dunkelgrünes Leben gezogen. Selbst die Straße ist kariert. Die Wegführung: hoffnungslose Graphen mit unlösbaren Funktionen.

Man geht nicht mehr, man taumelt.

Hinein in schäbige Absteigen, wo die Musik aus den Lautsprechern klingt, als säßen dickbäuchige Insekten hinter den Membranen. Und das Wasser schmeckt nach uralter Pappe. Die Glasränder an der Lippe sind kalt, riechen metallisch plus Spülmittel. Immerhin.

Ohne Kalender kann ich hier versumpfen.

Weil alles schön lichtleer ist. Und stumm. Niemand fragt, wie spät es ist.

Niemand steht auf, sagt: „Oh, ich muss auf die Arbeit.“

In der kalenderlosen Zeit stehen alle Blätter still.

Papier bewegt sich nicht mehr. Bleistifte hinterlassen keine Spuren mehr auf den Blättern. Jede Arbeit bleibt ungetan während sie ausgeführt wird. Keine Taste lässt sich niederdrücken. Bildschirme flackern lediglich, inhaltsleer, bildlos.

Die Fenster, sagen die Leute, lassen sich öffnen, aber mehr nicht. Zum Schließen lässt sich nichts mehr bewegen. Nichts mehr. Türen auch nicht. Weshalb Busse und Züge nicht mehr losfahren können.

Und ich sitze an einem nie leer werdenden Glas und rieche den staubigen Geruch von verfliegendem Alkohol.

Ich schmecke den leicht süßlichen, klebrigen Speichel, der kurz vorm Schlucken zwischen Zungenrücken und Gaumen klebt, der beim Schlucken in der Kehle sich wie kleine Bläschen anfühlt.

Vom Nachbartisch kommen Stimmen. Und ich frage ganz selbstverständlich: „Was?“

„Früher“, antwortet der am Nachbartisch, der Augen hat, wie mein Spiegel. „Früher hat man solche Tage Graue Hundstage genannt.“

Ich nicke, seh ihn nicht an und weiß, dass er mich auch nicht ansieht.

„Graue Hundstage.“, wiederholt er. „So hat man sie genannt.“

Und von dem Nachbartisch auf der anderen Seite fragt jetzt ein junger Typ „Was?“, dem ich zu Antwort die Sache mit dem „Früher“ wiederhole.

Das ist, denk ich, wie Stille Post. Nur ohne Flüstern. Und ohne Zeit.

Der Junge sagt es jetzt auch einem nächsten.

In einer Welt ohne Kalender haben alle die gleichen Augen, denke ich.

Alle die gleichen Augen und mir kommt eine Idee. Ich wende mich dem Nachbartisch zu, von dem ich die Information zuerst hatte. Und denke: ob ich mit ihm reden kann? Ob er mir zuhört? Ob er den Gedanken in die andere Richtung weitergeben wird? Das wäre wie Erinnerungen an die Zukunft.

Aber als er zu mir herüberschaut, weiß ich nicht, was ich ihm sagen könnte. Und er nickt nur.

Was wären wir ohne Kalender?

In welchem Tag würden wir leben?

Wann hört der Tag auf, wann endet er?

Was sagt ihr dazu?