Wie Fernweh vererbt wird

Es sind immer so viele Dinge, die man sich vorgenommen hat.

Ich hab mir immer vorgestellt, dass ich mit meinem Sohn auf der Rückbank entlang des breit über den seitlichen Horizont ausgefächerten Sonnenuntergangs fahre und ihm erkläre, warum mir das Lied, das gerade läuft so unfassbar gut gefällt und warum es so besonders ist.

Ich hab davon geträumt, dass ich mit ihm am Grill stehe und wir uns über Gott und die Welt unterhalten.

Weder meine Frau noch ich haben je etwas davon gehalten, die Kinder gemäß ihrer Geschlechter zu erziehen. Also rosa Zimmer für die Tochter und blaues Zimmer für den Jungen, so was fanden wir idiotisch. Im Gegenteil hielten wir unsere Tochter, die mit Piraten spielte für cool, aber wir ergänzten die Pirateninsel im Laufe der Zeit mit Feen und Einhörner siedelten dort an, wo früher die Indianer hausten, als die Trends aus ihr heraus brannten. Wir verweigerten unserem Sohn weder die Puppe und das blaue Blümchenkleidchen noch den Werkzeugkoffer. Jeder bekam einfach das zum Spielen, was er gerne wollte. Aber natürlich in Maßen. Obwohl wir uns bemühten, fühlten wir uns am Ende doch überfrachtet von Spielzeug.

Es fiel auf, dass meine Tochter von sich aus sehr viel Spaß daran entwickelte, mir im Haushalt zu helfen. Und mein Sohn hatte Spaß daran, in der Zwischenzeit meiner Frau beim Werkeln zuzuschauen. Jeder hat eben seine eigenen Neigungen.

Als ich an jenem Tag die Winterreifen endlich wechseln wollte, war mein Sohn Feuer und Flamme, mir zu helfen. Er war erster Mann am Start, hatte den Bobbycar brav neben meinem Auto geparkt und als er mir beim Aufbocken zusah, fragte er traurig, wo denn der Wagenheber für den Bobbycar sei. Ich half ihm mit einem Holzscheit den Wagen aufzubocken und dann packte er glücklich seinen Werkzeugkoffer aus und begann mit dem Schraubenzieher und der Kneifzange die Reifen zu wechseln.

Diese Art von handwerklichem Geschick hat er von mir.

Wir wechselten die Reifen und eine Erinnerung schwappte über mich. Ich erinnerte mich auf einmal, wie ich mich als Kind darauf freute, meinem Vater beim Werkeln am Auto zuzusehen und dass das spektakulärste die anschließende Probefahrt war. Mein Vater fuhr den Wagen kurz auf die Autobahn, beschleunigte und direkt die nächste Ausfahrt wieder runter. Es war nur eine Fahrt von fünfzehn Minuten. Aber es war eine Tour, die sich immer irgendwie besonders anfühlte. Er hatte mir erklärt, man müsse die Reifen immer einfahren. Und auf Geräusche achten. Wir drehten die Fensterscheiben runter und ließen die warme Frühlingsluft durch das Auto durchjagen.

Das waren vermutlich die Momente, in denen sich das Fernweh in meiner Brust einpflanzte. Weil ich es nicht mochte, dass irgendwann die Ausfahrt kam, wo wir die Autobahn wieder verließen. Am liebsten wäre mir immer eine Autobahn gewesen, die ewig geradeaus geht. Und ein Auto, dessen Reifen ewig eingefahren werden mussten.

Ich rief meinen Sohn her und wir schnallten uns an und wir fuhren los. Und das war so ein unfassbares, merkwürdiges Gefühl: jetzt auf der anderen Seite zu sitzen. Ich erklärte ihm nicht, dass wir die Reifen einfahren würden, sondern versuchte einen anderen Ausdruck zu finden. Ich nannte es auch nicht Probefahrt. Nicht, weil ich dieses Gefühl nicht weiter geben wollte, im Gegenteil: weil ich spürte, dass ich es nicht weiter geben konnte. Wir fuhren zur Tankstelle, um den Reifendruck zu messen. Und er wollte unbedingt die ganze Zeit dabei sein. Er stand da und erklärte mir ab dem zweiten Reifen Schritt für Schritt, was ich zu tun hatte. Er zählte die Reifen durch und erklärte mir, dass ich alles richtig gemacht hätte: „Es sind genau vier Reifen, Papa. Prima!“

Wir fuhren nicht auf die Autobahn, weil meine Familie jetzt nicht so nah an der Autobahn lebt wie die Familie, in der ich einmal gelebt hatte.

Wir fuhren eine kleine Runde und hörten Musik und wir sangen dazu. Und als wir zu Hause ankamen und ich mich zu ihm umdrehte, drehte er hastig den Kopf zur Seite und versteckte sein Gesicht in der Seitenwand des Kindersitzes, was er nur tat, um zu spielen, er würde schlafen.

„Hey, kleiner Schlawiner.“, sagte ich. „Ich hab genau gesehen, dass du nicht schläfst.“

Der kleine Mann presste die Augen ganz fest zusammen und kicherte.

„Warum willst du denn unbedingt schlafen?“, fragte ich. „Wir müssen rein und wir haben noch Mamas Auto, wo wir die Reifen wechseln wollen.“

Jetzt riss er die Augen strahlend auf und sagte: „Ich will schlafen, damit wir nicht zu Hause ankommen. Ich will weiterfahren. Aber noch mal wechseln? Fahren wir dann auch wieder?“

„Klar.“, sagte ich. „Wir müssen doch noch mal den Reifendruck überprüfen. Und die Straßen müssen doch eingefahren werden.“, das kam einfach so raus. Und als er später aus dem Auto hüpfte, schielte er zur Straße und sagte zum Asphalt: „Warte, wir kommen gleich mit Mamas Auto wieder.“

Der kleine Mann rannte die Einfahrt nach unten und schraubte an seinem Bobbycar herum, während ich langsam folgte.

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