12. Kalendertürchen: Über erste Sätze in der Weltliteratur

Das Spiel war ganz einfach: auf Instagram wurde ein Satz zitiert und darunter im Multiple Choice die Werke, aus denen es stammen könnte. Die Aufgabe war nun, zu erraten (oder zu wissen), aus welchem Werk dieser Satz stammt. Der Witz dabei: Es waren alles erste Sätze. Der zweite Witz: Bis auf ganz wenige Ausnahmen war die Mehrheit der Spieler sehr treffsicher. Die ersten Sätze sind immer faszinierend. Angeblich sitzen Autoren oft Jahrelang am perfekten ersten Satz. Das noch leere Papier löst eine Angst aus, die sogar einen separaten Fachbegriff bekommen hat: Horror Vacui. Und diese Angst vor der Leere, diese Hochachtung vor dem ersten Satz ist auch berechtigt. Denn man weiß: es braucht 0,5 Sekunden, um ein Vorurteil entstehen zu lassen und je nach Persönlichkeit zwischen 3 Minuten und 3 Stunden, ein einmal getroffenes Vorurteil zu revidieren. Das kann sich ein Autor – zumal in der Gegenwart – nicht leisten. Das Vorurteil, das der Leser zu bekommen hat, soll ihn immerhin dazu bringen, das Buch weiter zu lesen. Oder wie das süffisante Bonmot verrät: „Schreibe den ersten Satz so, dass der Leser unbedingt den nächsten lesen möchte. Verfahre mit dem zweiten genauso.“ Der erste Satz setzt das Tempo, die Atmosphäre, verkündet die zu erwartende Sprache, weckt Interesse, verrät zuweilen sogar die Grundzüge der Handlung. Sie können so ikonisch werden, dass man sie sofort auswendig lernt; sie können einen faszinieren, bilden, etc. Die großen Werke der Weltliteratur sind zudem so gestrickt, dass wir alle – selbst die unter uns, die sie noch nicht gelesen haben – eine grobe Ahnung oder Vorstellung davon haben. Sprich: Wir haben Vorurteile diesen Geschichten gegenüber. Und wie genial die ersten Sätze sind, erfährt man dann, wenn die Vorurteile, die diese Sätze intuitiv wecken derart identisch sind mit unseren Vorurteilen, die wir von den Geschichten haben, dass beide Vorurteile so deckungsgleich sind, dass wir zielsicher sagen: „Das kann eigentlich nur dieser oder jener Roman (oder Autor) sein“. Manchmal mag es auch durch das Ausschlussverfahren funktioniert haben, aber immer läuft es von unseren (Vor-) Urteilen bezüglich des Romans. Wie wesentlich die ersten Sätze sind, zeigen bereits die berühmten Musenanrufe in antiken Epen. Oft wird Homer zitiert: „Sage mir Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes, welcher so weit geirrt, nach der heiligen Troja Zerstörung, vieler Menschen Städte gesehn und Sitte gelernt hat, und auf dem Meer so viel unnennbare Leiden erduldet, seine Seele zu retten, und seiner Freunde Zurückkunft.“ Sehen wir davon ab, dass hohe Kunst damals gereimt zu sein hatte. Ehe man die eigentliche Erzählung beginnt, riefen die Autoren die Musen zu Hilfe. Denn die großartigste Geschichte erzählt sich nicht aus dem Bauch heraus. Der Dichter selbst braucht göttlichen Beistand. Fast hat das etwas Prophetisches: der Autor als Sprachrohr der Götter. Aber eben nur fast. Denn gern wird die Invokation (der Musenanruf) dramaturgisch gebraucht, wie ein kurzes Luftholen, ehe man an die wesentlichen Textstellen geht, nach den rechten Worten sucht, nach einer Rechtfertigung zum Weiterschreiben. Der traditionelle Musenaufruf wird bestimmt auf die antiken Gebete zurückzuführen sein. Die Gottheit wird beschworen, benannt, ihre wesentlichen Eigenschaften herausgestellt und schließlich durch den Bezug auf die eigene Rechtfertigung, warum man nun eben diesmal die Hilfe benötige abgerundet. Das ist eine schöne und elegante Art, gleichermaßen mit den Göttern als auch mit den Lesern zu flirten. Diese Art des Einstiegs ist fast in Vergessenheit geraten und tritt gern hin und wieder in Verkleidung oder Parodie auf. Melville etwa wendet sich gern an den christlichen Gott, jüngere Autoren wenden sich auch gern an den „geneigten Leser“ und bitten ihn um Verständnis oder Gnade. Die wohl genialste Form der Invokation findet sich bei der Romanreihe „von“ Lemony Snicket wieder: Eine Reihe betrüblicher Ereignisse: „Wenn du gern Geschichten mit einem Happy End liest, solltest du lieber zu einem anderen Buch greifen. In diesem gibt es kein Happy End, auch keinen glücklichen Anfang und nur wenig Erfreuliches mittendrin. Das liegt einfach daran, dass sich im Leben der drei Baudelaire-Kinder wenig Erfreuliches zugetragen hat. Violet, Klaus und Sunny waren klug, charmant, sie sahen reizend aus, aber sie hatten äußerst wenig Glück. Im Gegenteil: Fast alles, was ihnen zustieß, strotzte nur so vor Unheil, Elend und Verzweiflung.  Es tut mir leid, das sagen zu müssen, aber so war es nun einmal.“ (Kapitel 1) Immer wieder unterbricht der Erzähler die Geschichte, um sich direkt an den Leser zu wenden und diesen anzurufen, doch bitte aufzuhören, das Buch wegzulegen. Denn die Geschichte sei nun einmal geschehen, die Worte seien da, das Unheil, das Chaos. Nur möge man bitte dem Erzähler nicht die Last auferlegen, eben ein Prophet zu sein, wie viele andere – seit Homer – es schon waren: „Es hat keinen Sinn, dir zu schildern, wie furchtbar sich Violet, Klaus und sogar Sunny in der folgenden Zeit fühlten. Wenn du jemals einen Menschen verloren hast, der der sehr wichtig war, dann weißt du, wie sich das anfühlt; und wenn nicht, dann kannst du es dir auch nicht vorstellen.“ (Kapitel 2) Der Ton ist komplett gegenteilig in der Moderne als in der Antike. Gemeinsam ist beiden Invokationen immerhin die grundsätzliche Verlegenheit, bzw. Verzweiflung, um rechte Worte zu ringen, um der Geschichte gerecht zu werden.  Sonst wird um den Anfang zusehends immer weniger Aufhebens gemacht. Der berühmte Einstieg „in medias res“, dass man quasi mit der Tür ins Haus fällt, legt bei den Geschichten, die sich immer stärker um Action, Konflikt und Handlung drehen, viel weniger Gewicht auf das eigentliche Erzählenkönnen. Ein Ringen um Worte gibt es kaum noch. Die Buchhandlungen sind randvoll mit Romanen, die entweder mit dem Namen der Protagonist(inn)en beginnen oder sofort mit einem Dialog. Ein Anfang, wie er von Dostojewski in Anna Karenina verwendet wurde, ist kaum noch vorstellbar: „Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich; jede unglückliche Familie hingegen ist auf ihre besondere Weise unglücklich.“ Ein Satz, der voller Selbstverständlichkeit und Selbstbewusstsein um die Deutungshoheit der Welt nur so strotzt und der einen Erzähler verrät, der sich anschickt, seine Philosophie mit einer gleichwohl umfassenden, als auch privaten Individualgeschichte zu illustrieren. Solche Anfänge kann man sich heute in der Literatur nur leisten, wenn man wie Haruki Murakami das Philosophische in die Banalität des Alltags überführt: „Als das Telefon klingelte, war ich in der Küche, wo ich einen Topf Spaghetti kochte und zu einer UKW-Übertragung der Ouvertüre von Rossinis Die diebische Elster pfiff, was die ideale Musik zum Pastakochen sein dürfte.“ (Mister Aufziehvogel) Nein: der Großteil der Literatur beginnt anders: „Das Schlafzimmer ist seltsam.“ „ ‚Hast du Steine da drin?‘, ächzt Cynthia Bonsant, als sie einen Umzugskarton auf den Arbeitsplatz ihres neuen Tischnachbarn wuchtet.“ „Ich war nie das, was man eine Heulsuse nennt.“ „Als ich aufwachte, ist die andere Seite des Bettes kalt.“ „Meine Mutter fuhr mich mit heruntergelassenen Scheiben zum Flughafen.“ Ich frage mich, ob jemand die Romananfänge zuordnen kann.

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