13. Kalendertürchen – Hannah Arendt
Das Hannah Arendt Manuskript ist fertig und steht in den Startlöchern. Der kongeniale Julian Hämel, Fans dieser Seite erinnern sich, hat eine kleine Passage für mich skizziert:
Rachel war eine richtig gute Zeichnerin.
Sie liebte es, andere Menschen zu malen. Besonders Augen. Sie hatte einen Block, in den sie nur Augen malte. Eines Tages verriet Rachel Hannah, dass es besonders schwer wäre, ihre Augen zu zeichnen. Weil Hannahs Augen gefühlt jeden Tag größer und schöner wurden.
Das war ganz bestimmt Unsinn. Aber noch am selben Abend ertappte Hannah sich selbst dabei, wie sie vorm Spiegel stand und sich selbst unentwegt in die Augen sah.
Etwas Merkwürdiges geschieht, wenn man einem anderen unentwegt in die Augen sieht. Man glaubt, man würde den Boden unter den Füßen verlieren. Man sagt ja, dass man durch die Augen in die Seele eines Menschen blicken kann. Und wenn man lange und tief genug hineinblickt, wie sehr glaubt man, darin zu verschwinden.
Aber sich selbst in die Augen sehen. Es so lange und so tief zu machen, das zieht einem den Boden nicht nur unter den Füßen weg, es reißt einem jeglichen Halt von der Seele fort.
Man blickt sich selbst in die Seele? Aber woraus? Die eigene Seele blickt durch die Augen in den Spiegel, in die eigenen Augen, in die gespiegelte Seele, in sich selbst.
Hannah erinnerte sich dabei an die Legende der Medusa, die Frau, der man nicht in die Augen sehen konnte, ohne zu Stein zu erstarren. Und sie erinnerte sich an das Bild, dass Medusa ihr eigenes Spiegelbild von Herkules vorgesetzt bekam.
Hannahs Magen verkrampfte sich.
Ihre Kinderseele verkrampfte sich.
Als ob sie noch nie ihr eigenes Spiegelbild gesehen hätte.
Als ob sie sich selbst noch nie in die Augen gesehen hätte.
Aber nein. Diese Art zu schauen war neu. Und sie verfolgte Hannah. Auch wenn sie sich losreißen konnte, auch wenn sie ins Bett ging und nach einer Einschlaflektüre griff, diesen Blick in sich selbst hinein, den konnte sie nicht mehr ungeschehen machen.
„Du hast eine übersteigerte Phantasie“, sagte Rachel dazu, der sie versuchte, ihre Gefühle zu beschreiben.
„Was soll das heißen?“, fragte Hannah nach.
Rachel hob die Schultern. „Das sagt meine Mutter immer zu mir. Du hast eine übersteigerte Phantasie. Ich glaube, sie meint damit, dass ich zu viel lese. Denn mein Opa sagt immer, dass das Lesen mich dumm macht.“
Hannah schnaubte verächtlich. Das eigentlich Dumme war diese Meinung.
„Er meint, dass Frauen keine Romane lesen sollten, weil Romane einem die Welt zeigen, wie sie nicht ist.“
„Das ist Unsinn“, meinte Hannah. Sie las ja eigentlich selbst keine Romane, aber das lag bestimmt nicht daran, dass sie eine Frau war.
„Frauen können die Welt nicht von der Romanwelt unterscheiden, meint er. Wir Frauen sehen eine Sache und glauben direkt, es sei wahr. Er meint, das liegt an unseren Augen und an unseren Gehirnen.“
„Ach.“
„Männer haben da noch einen Weg mehr von den Augen zum Gehirn. Die können schon im Auge erkennen, ob etwas wahr ist oder falsch.“
„Können die das.“
„Er meint“, und jetzt errötete Rachel, „nur bei Frauen erkennen Männer das nicht. Eine Frau sei für einen Mann immer gefährlich. Aber Frauen, die lesen, die sind für die Männer am schlimmsten.“
„Na, immerhin.“
„Wie meinst du das?“
„Ich verspreche dir, Rachel, wenn wir beide irgendwann mal in Lebensgefahr sein sollten, dann werden wir uns einen völlig billigen Roman schnappen und werden mit ihm unser Leben retten.“
Darüber musste Rachel lachen: „Was du dir wieder vorstellst“, tadelte sie.
„Nein, im Ernst. Sieh mal, wenn das alles stimmt, was dein Opa da sagt, dann werden wir es uns zu Nutzen machen. Wenn Männer nicht erkennen, was die Wahrheit ist bei uns Frauen, dann werden wir ihnen einfach einen Roman vorspielen und zwar einen, der uns zeigt, wie wir aus der lebensgefährlichen Situation wieder herauskommen.“
„Wie kommst du drauf, dass wir nicht einfach ein ganz ruhiges und friedliches Leben leben werden?“
„Ich weiß auch nicht“, gab Hannah nachdenklich zu. Ihre Mutter hatte sie seit Anfang des Jahres auf Treffen mitgenommen, bei denen man über Rosa Luxemburgs Ideen diskutierte und sich politisch verhielt. Wenn Hannah jetzt dagegen Rachel so betrachtete, wie sie auf der alten Steinmauer am Glacis lag und ruhig und friedlich Gesichter malte, dann war das ein ganz und gar unpolitisches Leben. Ein friedliches einfach nur Da-sein.
Wer einfach nur vor sich hin lebte, war wahrscheinlich überhaupt nicht in Lebensgefahr. Das gefiel Hannah so sehr, dass sie sich fragte, wieso ihr Vater es so anders angegangen war.
„Hast du einen?“, fragte Rachel wie nebenbei.
„Was meinst du?“
„Einen Freund.“
„Nun ja“, sagte Hannah und bemerkte, dass Rachel für sie beide rot genug war. „Ich hab dich.“
„Nein, so meine ich das nicht.“
„Hast du denn einen Freund?“, gab Hannah die Frage zurück.
Rachel war so rot, dass man hätte Angst haben können, ihr Kopf würde platzen.
„Na, vielleicht“, druckste sie herum und Hannah begriff, dass Rachel momentan lieber gefragt werden wollte, als dass man ihr etwas erzählte.
„Hast du einen im Blick?“
„Ich kenn da einen“, sagte sie ausweichend. „Und er kennt mich. Also wir kennen uns. Und er … er ist auch Jude, weißt du.“
„Wenn das wichtig ist.“
„Für mich nicht“, beeilte sich Rachel. „Aber für meine Mutter schon irgendwie. Er ist nicht mosaisch, wie du. Er ist es ganz, verstehst du? Und er ist niedlich. Irgendwie. Willst du ihn sehen?“
„Hast du ihn etwa in deiner Hosentasche?“ Hannah grinste schief.
Aber zu ihrer Überraschung sagte Rachel: „Ja.“ Dann nahm sie aus der Tasche einen kleinen Block hervor, den Hannah noch nie bei ihr gesehen hatte. Er war kaum größer als eine Brieftasche. Und wie sie jetzt sehen konnte, war der Block voll gemalt mit Bildern von einem Jungen. Erst auf den zweiten Blick erkannte Hannah, dass alle diese Bilder reingeklebt worden waren.
„Du hast ihn gemalt?“
„Hab ja keinen Fotoapparat in meinem Kopf.“
„Du bist ja verrückt“, lachte Hannah. Sie war beeindruckt, nicht nur von Rachels Talent, auch von der simplen Idee.
„Sag mal: beobachtest du ihn heimlich, oder malst du das aus der Phantasie?“
Rachel sagte nichts. Sie fühlte sich sichtbar unwohl dabei, dass zum ersten Mal überhaupt jemand anderes in diesem kleinen Bilderbuch blätterte. Aber sie ließ es zu. Hannah dankte es ihr, indem sie ganz sorgsam mit dem Umblättern vorging.
„Er ist hübsch“, fällte Hannah endlich das Urteil. „Wer ist das?“
„Einer der jeschiwe-bucher“, antwortete Rachel.
Hannah machte zwar „Oh“ und tat überrascht. Aber in Wahrheit hatte sie keine Ahnung, was das bedeutete. Statt zu fragen und sich vielleicht zu blamieren, wartete sie ab, ob sie aus den Erzählungen heraushören konnte, was das Wort bedeutete. Stattdessen kamen immer mehr merkwürdige Worte dazu und Hannah fiel auf, wie sich auch die Aussprache von Rachel veränderte, wenn sie von dem Jungen sprach. Das war jiddisch. Etwas, was Hannah zwar ab und an zu hören bekam, aber zu selten, um es zu verstehen.
„Er ist ein Nachfahre von Moses Mendelssohn persönlich“, meinte Rachel. „Das macht bei meiner Mame einen ganz schönen Eindruck. Natürlich nicht in direkter Linie. Nun ja, irgendwie schon. Aber der Vater ist vom Glauben abgefallen. Er schickt ihn zwar in die Toraschule, nur lebt er dann wieder mosaisch wie du.“
„Aha“, machte Hannah.
„Die Familie ist sehr reich. Sie handeln mit russischem Schmuck.“
Rachel reichte Hannah das gezeichnete Gesicht. Es dauerte eine Weile, bis Hannah sich selbst auf dem Blatt erkannte.
„Ich will zu Hause noch mit nur einer einzigen Farbe das Ganze ein wenig verspielter machen. Hast du einen Wunsch?“
„Grün“, sagte Hannah. „Du bist talentiert.“
„Danke.“
„Meine Mutter gibt am Freitag ein Treffen“, wechselte Hannah das Thema. „Nein, kein Salon. Ein Treffen. Etwas Politisches. Langweiliges.“
„Musst du dabei sein?“
Hannah nickte.
„Soll ich dir Gesellschaft leisten?“
„Interessierst du dich denn für Politik?“
Sie schüttelte heftig den Kopf: „So gar nicht. Ich versteh es auch nicht wirklich. Der Krieg, das war Politik, hab ich recht?“
Hannah hob die Schultern: „Ja, kann sein.“
„Ich wäre froh, es wäre alles so wie früher, Hannah, weißt du. Früher, so wie bei Hölderlin oder Eichendorff. Ich hab in der Zeit, in der alle vom Krieg aus der Stadt vertrieben worden sind, den Taugenichts gelesen. Und ich hab mir vorgestellt, dass alle Menschen in den Zügen in Wahrheit einfach nur nach Italien reisen. Dass diese große Gruppe sich auf der großen Welt irgendwie verläuft und jeder so seinen eigenen Weg geht. Und ich hab mir vorgestellt, dass die ganzen besorgten Gesichter in Wahrheit einfach nur müde Gesichter sind. Und während die Züge abfuhren, hab ich gedacht: Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt.“
„Das Lied hat damals keiner von uns im Ohr gehabt.“
„Natürlich nicht. Aber denk nur: es gab mal eine Zeit, in der eine ganze Generation einfach nur vor sich hinleben konnte.“
„Wenn du am Freitag kommst, darfst du auf keinen Fall so reden, Rachel.“
„Eine ganze Generation, in der man einfach nur man selbst sein durfte. Und in der es egal war, welche Meinung man hatte. Weil es keine politische Rolle spielte. Man hat sich auf sein eigenes Leben konzentriert und sich verliebt, hat sich das Herz brechen lassen und sich wieder neu verliebt. Man ist nach Italien gezogen und hat einen Traum gelebt.“
„Jetzt ist der Krieg ja vorbei“, sagte Hannah. „Jetzt wird das Land wieder aufgebaut und dann wird alles wieder gut. Es ist irgendwie immer abwechselnd. Eine Generation Privat, eine Politisch. Wir werden wieder die sein, die einfach nur leben darf.“
Rachel legte sich mit dem Rücken auf die Mauer und ließ sich die warme Frühlingssonne ins Gesicht scheinen. „Wenn du das sagst, wird es stimmen. Sagst du mir noch die genaue Uhrzeit?“
„Was?“
„Wann ich bei dir sein soll.“
Hannah zögerte kurz, dann legte sie sich auch mit dem Rücken auf die Mauer. Ihre und Rachels Füße lagen aneinander. Wenn die eine den Fuß zur Seite legte, machte die andere es mit. So spielten sie ein harmloses Spiel, bis eine große, dicke Wolke ihnen die Sonne und die Wärme von den Gesichtern nahm.
„Vier Uhr?“, fragte Hannah.
Rachel nickte: „Versprochen.“