Glauer sagte: „Es gibt drei Arten von Güter. Erstens: Solche, die man um ihrer selbst willen wünscht und nicht der Folgen willen. Zweitens: Solche, die man sowohl ihrer selbst will als auch ihrer Folgen willen wünscht. Drittens: Solche, die sehr beschwerlich sind, deren Folgen aber wünschenswert sind.“
Sokrates wiederholte leise, dann nickte er. „Einverstanden.“
„Ich bin der festen Ansicht, man müsse zeigen, dass die Gerechtigkeit zu den zweiten Gütern zählt. Auch wenn die Mehrheit der Menschen sie zur Kategorie drei zählen dürfte.“
„Wir könnten eine Abstimmung machen.“, frohlockte Terry.
„Nicht nötig.“, machte Sokrates bestimmt. „Wenn mich nicht alles täuscht, war auch deine Vorstellung dieser Art.“
Terry wiederholte seine Ansicht gerne ein weiteres Mal und beinahe konnte er die Worte schon auswendig, mit welchen er Sokrates zu testen hoffte. Dann wiederholte er sogar Glauers Dreiteilung und kam zu dem selben Ergebnis wie Sokrates: Terrys Ansicht war Kategorie Nummer drei.
Selbst Glauer vertrat mit einem Mal Terrys Ansicht (und Kay fragte bereits, ob man Platons Bruder in der Pause Geld gezahlt habe, wenn er sich Terry anschloss, Sokrates in die Enge zu treiben. Aber Platon winkte ab. Der tut nur so. In Wahrheit wiegen er und Sokrates Terry mal eine Weile in Sicherheit).
„Ich frage mich, ob es vom Charakter abhängt, wie wir handeln.“, sagte Glauer in seinen Ausführungen. „Oder ob es nicht doch tatsächlich eine Sache der Macht ist, wie Terry schon angedeutet hat. Geben wir einem armen aber anständigen Menschen Macht, werden wir sehen, ob er über Nacht sein Gesicht ändert.“
Und Terry ergänzte: „Aber selbstredend wird der Sokrates dann sagen, es habe die ganze Zeit an seinem Charakter gelegen, der erst jetzt unter bestimmten Umständen zum Vorschein kommt.“, und lachte gehässig.
„Nehmen wir an, wir hätten einen magischen Ring“, fuhr Glauer unbeirrt fort. „Dieser Ring erlaubt uns unerkannt zu bleiben und ungestraft jedes Verbrechen zu begehen. Wer will dann am Ende entscheiden, ob der Träger des Ringes gerecht oder ungerecht war? Ich meine: geben wir den Ring einem Gerechten und geben wir einen gleichfunktionierenden Ring einem Ungerechten. Beide werden gleich handeln. Naturgemäß existiert vielleicht nur das Unrecht und das Erleiden des Unrechts. Gerechtigkeit existiert vielleicht nur als ein gedachter Gegensatz? Wir Menschen sind dazu in der Lage zu allem ein Gegenteil zu bilden. Wir sehen einen kurz gewachsenen Pilz und benennen das Gegenteil dazu einen lang gewachsenen. Selbst wenn es keinen lang wachsenden Pilz dieser Art geben sollte.“
„Ein interessanter Ring.“, sagte Sokrates, der hinter den Worten noch etwas ahnte. „Weshalb pochst du so auf dieser Geschichte?“
Glauer fuhr fort: „Ich möchte überzeugt werden, dass die Gerechtigkeit für den Gerechten einen Wert hat. Ich möchte einen Grund sehen, weshalb ich den Ring, sollte man ihn mir geben, wegwerfen sollte. Bis jetzt hat mir das in eurer Diskussion gefehlt: Welchen Wert hat die Gerechtigkeit gegenüber der Ungerechtigkeit unabhängig von dem Eindruck, den sie erweckt, unabhängig von Lohn oder Strafe.“
Sokrates nickte: „Wir haben durchaus einen Fehler gemacht.“, gestand er sich zu. „Wir haben uns die Qualitäten der Gerechtigkeit angeschaut, ohne ihr Wesen diskutiert zu haben. Ein nicht zu verzeihender Irrtum. Und das bei einem derart wichtigen Inhalt. Unverzeilich.“, er räusperte sich. „Da wir nun dazu nicht tüchtig genug sind, wird es sinnvoll sein, wenn wir die Strategie unserer Untersuchung ändern. Es ist, als habe uns jemand befohlen eine sehr kleine Schrift von sehr weit weg zu lesen, und dann würden wir die selben Buchstaben andernorts viel größer zu schauen wären. Es wäre sicher ein großer Fund und nicht verkehrt, die großen zuerst zu lesen und dann zu den kleinen zurückzukehren, um zu betrachten, ob sie wirklich die selben sind.“
„Gibt es etwas ähnliches aber größeres für die Gerechtigkeit?“, fragte Terry.
„Schauen wir mal: Gerechtigkeit findet sich doch an jedem einzelnen Mann, aber auch in einer ganzen Stadt.“
„Ja.“
„Und die Stadt ist größer als der Mensch. Vielleicht ist also auch die Gerechtigkeit in dem größeren leichter zu erkennen. Also untersuchen wir doch zuerst einmal das Land, was hier wohl zu finden sein wird, und dann wollen wir die Gerechtigkeit auch an den einzelnen betrachten, indem wir an der Gestalt des Kleineren die Ähnlichkeit mit dem Größeren aufsuchen. Und nicht wahr, wenn wir in Gedanken eine Stadt entstehen sehen, so würden wir dann auch ihre Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit entstehen sehen?“
„Vielleicht.“, sagte Terry.
„Es entsteht eine Stadt, wie ich glaube, weil jeder einzelne von uns sich selbst nicht genügt. Wenn sich verschiedene Menschen zueinander begeben und beieinander bleiben, weil sie sich gegenseitig helfen können, gegenseitig ihre Bedürfnisse bedienen können, können wir beginnen, von einer Stadt zu sprechen. Somit ist der erste Grund einer Stadtgründung das Bedürfnis. Das größte Bedürfnis ist die Herbeischaffung der Nahrung, das zweitgrößte mit Sicherheit die Wohnung, das dritte sei die Bekleidung, und so fort. Die notdürftigste Stadt würde aus eben so vielen Menschen bestehen, wie es diese Bedürfnisse gibt. Jeder produziert, was er am besten kann und teilt das Produkt mit den übrigen.“
„Eine Dreimannstadt.“, lästerte Terry. „Und ein wunderschönes, unrealistisches Idyll.“
„Was getan werden muss wartet nicht auf die Musse“, sagte Sokrates. „Was getan werden muss, dem muss ordentlich nachgegangen werden, und nicht nur beiläufig. Unsere Stadt wird notwendigerweise wachsen.“
„Wir brauchen viel mehr Bürger als nur drei um die Grundbedürfnisse abzudecken.“, sagte Glauer.
„Und so wächst vor unseren Augen die Stadt.“
„Je größer sie wird, umso mehr muss sie sich mit anderen Städten auseinandersetzen.“
„Richtig, wir müssen Handel betreiben, und wir dürfen unser Inneres nicht wegschließen. Eine große Stadt braucht andere Städte. Also darf sie nicht nur für sich selbst genug schaffen. Sagt jetzt, wo finden wir in unserer wachsenden Stadt die Gerechtigkeit?“
„Sag du es uns?“, stachelte Terry. „Bestimmt unter den Tagelöhnern.“
Sokrates überhörte es.
„Wir finden die Gerechtigkeit wo Menschen miteinander umgehen.“, sagte Glauer.
„Und wo sie sich gegenseitig im Weg stehen. Sobald eine Stadt wächst, nimmt sie Platz in Anspruch, den andere sich erhofft haben. Städte wachsen über Dörfer hinweg. Und da haben wir es doch wieder: Ungerechtigkeit ist auf der Seite der Stärke und des Wohlstands.“
„Wir müssen dem Nachbarn das Land wegnehmen, um selbst genug zu haben.“, bestätigte Glauer.
„Von nun an werden wir also Krieg haben, Glauer? Oder wie soll es sonst gehen?“
„Es riecht nach Krieg.“
„Also immerhin haben wir schonmal den Ursprung des Krieges gefunden.“, nickte Sokrates. „Gleichgültig, welche Folgen er mit sich bringt. Und die Stadt wächst geradezu notwendig um ein Heer, welches auszuziehen hat im Namen des Wachstums oder zu verteidigen hat im Namen des Schutzes.“
„Genau.“, bestätigte Terry. „Wir brauchen Berufssoldaten, damit wir jemanden haben, der es richtig macht.“, er schien mit diesem Zwischenergebnis sehr zufrieden sein.
(An dieser Stelle fragte Simon laut, ob der Moderator auf einer politischen Seite stünde. Sein Anliegen war mehr als nur zu unterhalten. Ist es so offensichtlich?, fragte Platon zurück. Wir werden noch viel über die Herrschaft der 30 zu reden haben, warf Fledermann ein. Aber man kann schon sagen, dass ein aufmerksamer Zuschauer hinter Terrys Night Show eine sehr brachiale Propagande stecke.)
Und ehe Sokrates fortfahren konnte, warf Terry ein: „Wie wirst du dich jetzt aber verteidigen, Sokrates, wenn die Berufssoldaten deiner perfekten Stadt aufstehen und sich beschweren? Sie nennen sich berechtigterweise die eigentlichen Herren der Stadt. Sie leben dafür, die Stadt zu verteidigen und zu beschützen oder aber um sie zu vergrößern. Aber von der Stadt selbst haben sie gar nichts. Sie haben keine Ländereien, weil sie ja von Jugend an nichts anderes gelernt haben als zu kämpfen.“
„Oh, das ist ein guter Punkt.“, sagte Sokrates. „Sie sind nur Kostgänger, und bekommen nicht noch einen Lohn außer Kost und Logis. Denn sie erarbeiten ja nicht wirklich etwas. Und wer kein Geld hat, kann nicht verreißen, oder ein Mädchen beschenken, und der gleichen. Was schlägst du also vor?“
„Wir müssen sie glücklich machen, sonst kämpfen sie nicht mehr.“, lächelte Glauer und Terry schluckte trocken. Da man auf seine Antwort wartete, musste er zugeben: „Das Heer muss glücklich gemacht werden. Unglückliche Soldaten kämpfen schlecht.“
(Das war bewusst ausweichend, kommentierte Platon. Terry hatte Angst am Ende der Show einem politischen Lager zugerechnet werden zu können.)
„Müssen nicht alle glücklich sein in unserer Stadt? Wenn ein Glied schwach wird, fürchte ich, wird die Arbeit darunter leiden und die Stadt wird von innen heraus untergehen.“
„Ja.“, knirschte Terry. „Alle müssen glücklich sein.“
„Ich frage mich, ob die ideale allerglücklichste Stadt eine sein mag, in der idealerweise nur Gerechtigkeit herrscht oder Ungerechtigkeit.“
„In der glückseligsten Stadt finden wir wohl die größte Gerechtigkeit.“, sagte Glauer und ehe Terry widersprechen konnte, fügte Sokrates hinzu:
„Ich frage mich, ob wir in der glückseligsten Stadt Reichtum finden werden.“
Hier ließ er Terry wieder die Möglichkeit zu Wort zu kommen: „Wie kann eine Stadt glückselig sein ohne reich zu sein?“
„Dann sag mir: Gibt es Reichtum ohne Armut?“
„Nein.“, sagte Terry stolz. „Wo es Reiche gibt, da lungern auch Arme herum.“
„So. Und wenn nun ein Töpfer reich geworden ist, glaubst du, dass er sich dann noch wird um seine Töpferkunst bemühen?“
„Wohl kaum.“
„Wäre er aber arm“, sagte Glauer, „könnte er sich kein Werkzeug leisten, seine Arbeit würde qualitativ schlechter und die Unzufriedenheit wächst.“
Sokrates nickte. „Durch beides also, Armut und Reichtum, werden sowohl die Werke der Arbeiter schlechter als auch sie selbst.“
„Einleuchtend.“
„Hatten wir aber nicht gesagt, dass es einen Berufszweig gibt, der für innere Sicherheit verantwortlich ist? Streng genommen müsste dieser die Aufgabe übernehmen, weder Armut noch Reichtum aufkommen zu lassen. Wir sagen also besser ‚Wächter’ statt ‚Heer’.“
„Wie sollte eine Stadt Krieg führen können, wenn sie nicht reich sein kann.“, begehrte Terry erregt auf. „Man stelle sich nur mal vor, unsere ideale Stadt wird von einer reichen, mächtigen Stadt angegriffen!“
„Offenbar“, sagte Sokrates, „könne sie gegen eine wohl schwerer kämpfen als gegen zwei.“
„Wie meinst du das?“
„Ich meine, dass zwei reiche Städte eher gegeneinander ins Gefecht ziehen als miteinander gegen eine im Vergleich zu ihnen ärmere Stadt. Aber lassen wir dieses Thema doch bei Seite. Schauen wir uns unsere gerechte Stadt lieber genauer an. Und wir brauchen jetzt nicht noch weitere Themenfelder zu öffnen, dann müssten wir auch Erziehung und Bildung behandeln. Uns interessiert aber zunächst einmal die Gerechtigkeit. Wir haben noch nicht geklärt, was die ideale, glückselige Gemeinschaft besitzen muss: Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit. Wir haben also eine Idealstadt gegründet. Wenn sie ideal angelegt ist, wird sie doch wohl vollkommen gut sein?“
„Sie wird perfekt sein, Sokrates.“, sagte Terry.
„Also ist die Stadt weise, tapfer, besonnen und gerecht. Weise, weil sie wohlberaten ist, weil in ihr Erkenntnisse und Wissenschaft aufs perfekte gedeihen können. Mit Tapferkeit meine ich etwas besonderes. Nämlich, dass die Stadt dazu in der Lage ist, etwas zu bewahren und aufrechtzuhalten; und zwar nichts anderes als die Bewahrung der durch die generelle Erziehung gewachsene Meinungen der Städter über das Furchtbare. Wenn die Stadt darum weiß, was ihr schadet, dann muss diese Meinung aufrecht erhalten und weitergegeben werden an die folgenden Generationen. Und Aufrechterhalten werden muss durch alle Zeiten hindurch die Standhaftigkeit und Ausdauerfähigkeit der Stadt, ihrem Schaden zu trotzen.“
„Eine nicht gerade normale Auslegung des Wortes ‚Tapferkeit’, Sokrates.“, warf Terry vor.
„Durchaus nicht. Ich weigere mich nur, jede Tollkühnheit als Tapferkeit zu bezeichnen. Es würde mir nicht gefallen, weil ich doch auch über Besonnenheit geredet habe. Besonnen ist unsere Stadt, weil sie dazu in der Lage ist, Herr über sich selbst zu sein und sich nicht jedem spontanene Eifer hinzugeben.“
„Nun gut, aber unser Ziel war die Gerechtigkeit, Sokrates, erinnerst du dich?“, Terrys Nervosität hatte damit zu tun, dass es bald wieder Zeit für Werbung sein mochte. Er griff sich in letzter Zeit auffällig oft ans Ohr, wo über einen Sender die Regie ständig Druck machte.
„Sehr wohl.“, sprach Sokrates gequält. „Wir haben diese drei Tugenden in unserer perfekten Stadt gefunden. Und die letzte Tugend, die Gerechtigkeit fehlt uns noch. Ich wage zu behaupten, wir haben sie wie ein Jäger sein Wild bereits umzingelt. Sie kann uns nicht mehr davon eilen. Und wenn wir gerade bei dem Bild der Jagd sind, stell dir vor, wir haben sie auf einer Lichtung umzingelt. Was uns von ihr trennt ist nur das Gehölz, das wir nun auf Seite schieben müssen.“
„In wiefern?“, fragte Glauer misstrauisch.
„Insofern die Gerechtigkeit uns die ganze Zeit vor Augen stand und wir lächerlich genug waren, sie zu übersehen. Was wir von Anfang an festgesetzt haben, was jeder durchgängig tun müsste, als wir die Stadt gründeten, eben dies, oder besser gesagt eine Art davon, ist die Gerechtigkeit. Denn wir haben festgesetzt, dass jeder sich nur auf eines konzentrieren müsse, nämlich auf das, wofür ihm die Natur die besten Gaben gegeben hat. Das in einem System aus verschiedenen Teilen jedes Teil seine Arbeit nach bestem Wissen und Gewissen konzentriert und vorzüglich bewerkstelligt, das ist die Gerechtigkeit. Pass auf, ich erkläre es dir genauer, woraus ich das schließe: Wir haben die drei Tugenden genannt: Weisheit, Besonnenheit, Tapferkeit. Und ich glaube, wenn wir die benennen sollten, die unsere Stadt am Vorzüglichsten macht, wir könnten keine Antwort geben. Denn wir benötigen alle drei Tugenden zu gleichen Teilen. Nur, wenn wir das uns schädigende kennen, wenn wir tapfer genug sind, ihm zu widerstehen und auch die Besonnenheit darüber besitzen, die Kontrolle darüber, die richtigen Schritte gegen den Schaden einzuleiten, wird die Stadt ideal und perfekt sein und bleiben können. Und dann, wenn alle drei Teile zugleich und gleichmäßig wirken, reden wir davon, dass es gerecht zugeht.“
„Meine Damen und Herren.“, wandte sich Terry an die nächste Kamera. „Mir scheint es nicht so, als ob der werte Herr Sokrates weiterhin über eine Stadt spricht …“
„Sehr richtig, Terry.“, unterbrach Glauer ihn. „Denn die Stadt diente ja nur dem besseren Überblick. Eigentlich redet Sokrates schon lange nicht mehr über die Stadt, sondern über die Seele, die sich wie eine Stadt verhält.“
Terry wollte etwas sagen, aber die Werbung überrante ihn.