Das Wutmonster

„Ich habe Angst davor, dass einfach jemand Fremdes zu uns ins Haus kommt“, erklärte sie mir. Sie lag im Bett, die Bettdecke bis zum Kinn hochgezogen. Sie war totmüde und ihr kleiner Mund wurde ganz groß, als ein unkontrollierbarer Gähnanfall ihren ganzen kleinen Mädchenkörper ergriff.

„Keine Angst, es kommt niemand zu uns ins Haus. Wir haben doch die Haustür abgeschlossen und die Läden unten.“

„Mama hat mir von dem Krankenhaus im Wald erzählt.“, sagte sie plötzlich.

Ich lächelte gequält. Mit allem kann man nicht rechnen.

„Da wohnen kranke Menschen, die nicht Fieber haben, sondern Gewalt.“, so erklärte sie es sich also selbst.

„Ja.“, sagte ich einfach nur.

„Warum brechen die dort aus, wenn man ihnen dort doch nur helfen will, Papa?“

„Das ist kompliziert.“, sagte ich. „Helfen kann man immer nur dem, der bemerkt, dass er Hilfe braucht. Sieh mal, es gibt Menschen, die glauben, dass sie im Recht sind, dass alles gut so ist, zum Beispiel, dass man Probleme mit Gewalt lösen muss.“

Sie sah mich fragend an.

„Stell dir vor, ich würde denken: meine Tochter kann nicht einschlafen, ich will aber jetzt im Wohnzimmer sitzen und lesen. Vielleicht muss ich dich schlagen, damit du begreifst, dass jetzt Schlafenszeit ist.“

„Wie gemein. Ich will nicht geschlagen werden!“

„Hmm… was brauchst du denn, damit du einschlafen kannst?“

„Ich kann nicht einschlafen, weil ich mit dir reden will.“, sagte sie.

„Gut, dann hilft es also, wenn ich hier am Bettrand sitze, mein Buch im Esszimmer noch eine Weile auf mich wartet und wir beide miteinander reden.“

Sie nickte heftig.

„Wenn ich jetzt aber einer wäre, der geschlagen hätte, dann hätte ich dir das Falsche getan, aber ich wüsste es nicht. Ich würde denken und schlimmer noch: wäre überzeugt, das Richtige getan zu haben.“

„Dann muss man dir sagen, dass es falsch war!“

„Genau. Das tun die da oben im Krankenhaus. Man hilft den Menschen, indem man ihnen sagt, wie es richtig geht. Man redet mit ihnen und versucht es ihnen sehr geduldig beizubringen. Manche sind aber so krank, dass sie das Richtige nicht verstehen, andere wollen es nicht verstehen. Sie hören nicht gerne, dass sie im Unrecht sind und dann ist da noch etwas…“

„Was denn?“

„Mit dir reden ist schwerer als dich zu schlagen.“, sagte ich und sie zuckte zusammen.

„Keine Angst, ich liebe es, Dinge zu tun, die schwerer sind. Aber erinner dich mal, was du heut Mittag getan hast, als du dich über mich geärgert hast, weil du nichts mehr schauen durftest. Du hast gezittert, mit den Beinen gestrampelt, getreten und mich fast getroffen.“

Sie nickte schuldbewusst.

„Das war so in dir drin und wollte raus. Mich zu treten war plötzlich da drin“, ich tippte auf die Brust. „Es war so einfach und das obwohl du weißt, dass es das Falsche ist. Du darfst ja nicht noch etwas schauen, nur weil du trittst. Gewalt bringt nie etwas. Außer dass es aus dir rauskommt. Und dass es draußen ist, dieses Wutmonster in dir drin, das schafft dir Erleichterung. Aber du lernst, und da helfe ich dir, dass es bessere Wege gibt.“

„Reden.“, sie verdrehte übertrieben die Augen.

„Mach ich doch auch grade mit dir.“

„Und die da oben, …“

„Die im Krankenhaus? Die haben das so nicht gelernt wie du jetzt. Die haben gelernt, dass ihnen Gewalt gut tut. Das Wutmonster haben sie lieben gelernt.“

„Das Wutmonster ist nicht zum Liebhaben“, sie gähnte wieder. „Das ist doof. Das Wutmonster ist doof.“

„Ganz genau.“

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