Digitale Revolution.
Es ist tragisch, dass es noch keinen handfesten Versuch gibt, eine Didaktik des Digitalen zu entwerfen. Wenigstens ein Grundlagenwerk hätte ich mir inzwischen gewünscht. Vor allem, weil immer zwei Aussagen in der Öffentlichkeit präsentiert werden: Deutschland hat die Digitale Wende seit 20 Jahren verschlafen und darin bereits implementiert: Die Digitale Wende ist längst da.
Zumindest letzteres stellt die Grundlagenthese von Olaf-Aexel Burows „Schule digital – wie geht das?“ Anthologie dar. Das 187 Seiten umfassende Buch ist eine innovative Zusammenstellung von Aufsätzen verschiedener Autoren, die sich der Hauptfrage widmen: „Wie sieht in Zeiten von Globalisierung, Digitalisierung und Klimawandel eine zukunftsfähige Schule aus – eine Schule, die in der Lage ist, Heranwachsende auf eine Zukunft vorzubereiten, die Handlugnsfähigkeit und permanentes Umlernen erfordert?“ (S. 7).[1]
Den Aufsätzen geht ein Grundlagenartikel des Herausgebers selbst hervor. Und dieser soll den Grundstein für die gegebenen Aufsätze liefern.
Das Ziel ist verständlicherweise zunächst die digitale Revolution zu rechtfertigen, was nur gelingen kann, mit einem vernünftigen Blick auf das Status Quo:
Wir leben inzwischen „onlife“, sprich: Die Infosphäre bestimmt immer mehr unser Leben und hält uns in einer konkreten Abhängigkeit.
Diese These dürfte tatsächlich inzwischen common sense sein. Man muss nur beobachten, wie sich die Diskussionskultur verändert hat: während ich mich noch an Dispute in meiner Kindheit erinnere, bei welchen Erwachsene lang und breit z.B. geologische Fakten hin und her wälzten, sich auf Zeitungsartikel bezogen, die man irgendwann gelesen, Dokumentationen, die man irgendwo gesehen hatte, enden und beginnen heute viele Dispute mit „lass mal auf Wikipedia nachsehen“ und das Wissen der gesamten Menschheit trägt heute jeder in der Hosentasche mit sich herum. Eva Menasse nennt unser Zeitalter „das Zeitalter der Kommunikationsexplosion“. Die Konsequenzen sind aber nicht nur in Diskussionen zu erleben: wir schieben das Erwachsenwerden auf, reduzieren direkte persönliche Kontakte und genießen selbst im Distanz-Leben soziale Nähe mit Hilfe sozialer Netzwerke, was aber auch durchaus zu einem im Analogen viel stärker empfundenen Einsamkeitsschub führen kann, viele erleben ein Zunahme von Schlafmangel, was Depressionen genauso fördert wie der unentwegte Lebensvergleich: Realität vs. Instagram. Erinnert man sich an das prophetische Buch „Die Vernetzung der Welt“ der GoogleCEOs Eric Schmidt und Jared Cohen, dann wird dieses Lebensmodell in absehbarer Zeit sogar noch verstärkt.
Das Informationszeitalter ist ein Zeitalter des Informationsrauschens. Wir googlen etwa einfach nur „Berlin“ und haben mit nur einem Mausklick Zutritt zu einer wahren Informationsexplosion: nebst geologischer Daten können wir soziale Daten abgreifen, Bilder, Videos, historische, bis hin zu nahezu unendlich vielen individuellen. Darunter sind aber auch: erfundene, fiktive, falsche, irrtümliche, ‚gefakte’, schöngefärbte, etc.
Die Kommunikationsexplosion ist eine unentwegte Überforderung selbst für die sogenannten digital natives. Und sie ist Alltag.
Was den Aufsatz von Burow spannend macht: seine Argumentation der digitalen Wende startet nicht wie erwartbar bei den digitalen Apologeten, sondern eher bei den Apokalyptikern, also denjenigen, die in dieser Explosion keine konstruktive Chance sondern den Beginn eines Untergangsszenarios sehen, das es bereits in der Schule aufzuhalten gilt.
Ja, das könnte eine Konsequenz sein: die digitale Revolution der Gesellschaft stoppen, indem man in der Schule auf alte Werte setzt.
Als Gewährsmänner und –Frauen dieser Stoßrichtung führt Burow Spitzer an, Harald Lesch, Richard David Precht, u.a.
Aber die Tatsache ist, dass die gesellschaftliche Entwicklung nicht vor den warnenden Apokalyptikern (The End is near) Halt macht. Tatsache ist, dass die gesellschaftliche Dynamik von wirtschaftlichen Kräften vorangetrieben wird. Und auch dort erlebt man einen fundamentalen Umbruch: die Zeit der Industrialisierung ist vorbei. Und unser an der Industrialisierung angelehntes Schulsystem – was der englische Theaterpädagoge Ken Robinson in einem fabelhaften TED-Talk (Changing education paradigms) illustriert (wer es nicht kennt: ANSEHEN!) – ist längst veraltet. Seien wir ehrlich: wir wissen es alle, wir jammern ja seit 20 Jahren nicht nur in Bezug zur digitalen Revolution oder seit PISA darüber: nicht für das Leben, für die Schule lernen wir, so das Jammer-Credo.
Die Gesellschaft, die wir immer stärker zur Leistungsgesellschaft getrieben haben, in der die Jugend das Gefühl hat, wer nicht auf seinem Platz Funktioniert verliert, ist überholt. „Startups“ ist das geisterhafte Modewort geworden und hat den „Spitzen-Manager“ im Top-Down System der 90er Jahre abgelöst.
Was mich sofort begeistert hat, ist die auf diese Realitätsfolie modern angewandte Formulierung des berühmten Kant Satzes: Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.
In Burows Analyse dieses Satzes entwirft er ein möglicherweise sehr traditionelles Bild, in welchem Technik die Gegenwelt von Moral ist:
„’Unsere Kinder’“, zitiert er Jack Ma (Gründer von Alibaba), „’könnten den Kampf gegen Maschinen verlieren.’ Deshalb müsse sich alles, was wir unseren Kindern beibringen, von dem unterscheiden, was Maschinen können. Dafür sollten wir die traditionelle Art und Weise unseres Unterrichtens radikal ändern und insbesondere aufhören, uns auf Wissensvermittlung zu konzentrieren. Stattdessen sollten Kinder etwas Einzigartiges lernen, nämlich Werte, Überzeugungen, unabhängiges Denken, Sorgen für andere, Sport, Musik, Malen.’ “ [sic] (S.17)[2]
An dieser Stelle begeht Burow meines Erachtens den einzigen Fehler argumentativen Fehler. Er hat sehr ausführlich und sinnvollerweise zunächst die Gegenseite hervorgehoben, mit dem Ziel aus dieser Seite die Notwendigkeit heraus zu lesen, dass die digitale Revolution unausweichlich ist, negative Konsequenzen hat, wenn wir sie in der Schule ignorieren, was ihn zum Ergebnis bringt, dass wir die digitale Revolution angehen müssen, um den Schülern Rüstzeug für die Zukunft zu geben, dass er einen Kompromiss zu Gunsten der guten Argumente der Gegenseite ignoriert. Darauf möchte ich im folgenden Artikel noch eingehen. Zunächst aber bleiben wir bei Burow:
Er nennt folgerichtig sieben Revolutionen, denen sich die Schulwelt zu stellen hat:
- die pädagogische Revolution
- die Schulrevolution
- die Unterrichtsrevolution
- Die Organisationsrevolution
- Die Kreativitätsrevolution
- Die Glücksrevolution
- Die Nachhaltigkeitsrevolution
Der gesamte Aufsatz lässt sich jetzt in der Erläuterung dieser sieben Punkte einteilen.
Ein guter Aspekt, der unbedingt hervorgehoben werden muss, damit er in allen folgenden Debatten nicht vergessen wird – und ich hoffe, dieser Satz wird in der ersten Zeit immer wieder und in jedem pädagogischen Aufsatz zitiert – lautet:
„Anders als manche Kritiker meinen, erschöpft sich Digitalisierung in der Schule nicht in der Anwendung von Smartphone, Tablet oder Computer. Vielmehr geht es um ein neues Lernen, das stärker auf Selbststeuerung, Kollaboration, Kreativität und problemlösendes, projektorientiertes Lernen setzt.“ (S. 20).
Ja, genauso muss Schule grundsätzlich sein und die Digitalisierung muss in diesem Punkt diesem Ziel untergeordnet werden. Digitalisierung hat nur einen Sinn, wenn es funktional dazu dient, den SuS ein Rüstzeug zu sein, ein Werkzeug, eine Facette des sie umgebenden und des auf sie wartenden Lebens. Alles andere, ich sagte auch bereits an anderer Stelle und wiederhole es gern wieder – alles andere ist blinder Aktionismus, Digitalisierung der Lieber zur Digitalisierung willen.
Die Schulrevolution, die von nun startet, ist ausgesprochen lesenswert und fördert die sukzessive Verabschiedung vom Klassenzimmer.
Ziel der digitalen Revolution sollen die 8 Cs nach Ken Robinson werden. Die Schule der Zukunft soll sich verschreiben:
- Curiosity
- Creativity
- Criticism
- Communication
- Collaboration
- Compassion
- Composure
- Citizenship
Und das, so die Hoffnung, kann Digitalisierung in der Schule fördern.
[1] Alle Zitate, die nur mit Seitenangaben gegeben sind beziehen sich auf das genannte Buch: Olaf-Axel Burow (Hrsg.): Schule digital – wie geht das?; Wie die digitale Revolution uns und die Schule verändert; Beltz; Weinheim; 2019.)
[2] Im Original ist die Zitation Jack Mas bereits durch falsche Zeichensetzung uneindeutig, daher gebe ich hier die Mischung aus direktem um indirekten Zitat Burows wieder.
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