5 – Digitale Revolution (2)

Der Zweite Teil meiner Gedanken zu „Schule digital – wie geht das?“ von Olaf-Axel Burow.

Ich erwähnte bereits im vorherigen Blogbeitrag, dass sich in Burows Ausführungen ein kleiner aber delikater Argumentationsfehler auftut. Der Fehler ist zu Beginn rein strategischer Natur und gleichzeitig aus vielerlei Hinsicht beachtenswert:

Statt, wie man erwarten könnte, apologetisch die digitale Welt zu feiern und aus einem Lobgesang heraus die digitale Wende zu fordern, wählt Burow den Schritt aus der Kritik heraus. Er nennt zunächst Gegner der Digitalen Wende, lässt diese zu Wort kommen, gelangt von da ausgehend aber zu der Notwendigkeit: (1) Wenn die Wende gerade am Eintreten ist und (2) wenn Schule nicht der Ort ist, diese Wende aufzuhalten, dann muss Schule (Konklusion) der Ort sein, auf diese Wende angemessen zu reagieren.

Die Forderungen, die er gewinnt sind alle Kompatibel mit den Forderungen der Digitalgegner und letztlich darum, dass es uns gelingen muss in einer zunehmend digitalen Welt – zur Erinnerung: in dem Onlife-Leben – glückliche, „funktionierende“ Schülerinnen und Schüler in die Welt zu entlassen.

Dabei übersieht er aber durchaus tragfähige Argumente der Gegner, die man meiner Ansicht nach berücksichtigen sollte, wenn es um die digitale Revolution geht:

Die Lücke, von der ich spreche, ergibt sich folgelogisch aus der Strategie Technik-Kritik als Ausgangsargument für Technik-Nutzung zu wählen.

Denn die erwähnte Technik Kritik beinhaltet, dass die Digitale Wende zu Verhaltensmodifikationen führt, die – unberücksichtigt von der Begleitung der Kinder beim Erwachsenwerden – zu einem Persönlichkeits-Welt Konflikt gelangen. Nicht umsonst führt Burow als sechsten Punkt eine Glücksrevolution ein.

Der Hintergrund der notwendigen digitalen Schulrevolution kreist um die Vorstellung, dass die Schule nicht einfach nur ein Ort der stupiden Wissensvermittlung zu sein hat, sondern auch ein Ort der Erwachsenenprägung. Das Grundlagenwerk von Dr. Anne Sliwka „Pädagogik der Jugendphase“ nennt etwa als ein Prinzip einer guten Schule: die Sensibilität mit der Individualität von Jugendlichen umzugehen, sie Ernst zu nehmen, um sie so charakterstärkend auf die Welt vorzubereiten:

„In der multimedialen Welt, in der wir leben, erzeugt eine Schule, die sich nicht für die Interessen ihrer Schüler/innen interessiert, Langeweile, Frustration und dadurch manchmal genau das Gegenteil von kognitiver Aktivierung. Guter Unterricht geht sensibel mit der Individualität der Jugendlichen um und bietet auch Zeiträume, in die Heranwachsende ihr Vorwissen, ihre Fragen zu Themen des Unterrichts und anderen Themen, die sie bewegen, einbringen können.“[1]

Nur haben wir darin die Suggestion der Kritiker übersehen: Führt uns die Digitalität nicht auch sukzessive fort von wesentlichen Kompetenzen, Ethiken, Moralitäten, Sensibilitäten, Empathien, die es Wert wären, sie zu erhalten?

Diese Frage wird bei Burow über die ersten Seiten häufig angedeutet, in den weiteren Ausführungen sowohl verständlicherweise als auch leider übergangen.

So lässt er nicht nur Jack Ma zu Wort kommen – in dessen Worten es sehr konkret zu entnehmen ist, dass nebst Wissensvermittlung „Werte, Überzeugungen, unabhängiges Denken, Sorgen für andere, Sport, Musik, Malen“[2] genannt werden, wir hören die Technikkritik auch von anderen Gewährsmännern in Burows Text:

„(…) Jaron Lanier (2018), der uns in einem schmalen Bändchen ‚zehn Gründe’ nennt, ‚warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst.’“[3]

Ein zentraler Punkt ist, dass die Marktwirtschaft ein digitales Netz bereitstellt, welches auf Verhaltensmodifikation ausgelegt ist. Sprich: Die digitale Welt versucht sich selbst zu erhalten durch das Mittel der Massen-Manipulation (um es hart auszudrücken), denn es lebt von einem Reziproken medialen Prozess, bei dem wir alle gleichermaßen Produzent als auch Konsument sind. (Christian Filk beginnt seinen Aufsatz im unmittelbaren Anschluss an Burows Grundlagenartikel mit dem Neologismus, in der Welt der Medien wären wir Prosumentinnen und Prosumenten; was sowohl Produktion, als auch Konsumtion enthält).

Diese Medienkultur ist nicht einfach nur, wie Burwos Text assoziieren lässt, da und damit gut, er ist doch auch, wie er selbst zugibt, fragwürdig.

Wenn wir von einer digitalen Revolution sprechen und diese Lücke andeuten, aber nicht auf sie reagieren, dann suggeriert das, man glaube, dass die Digitalisierung der Schule nicht nur die Schülerinnen und Schülern in ihrer Onlife Welt abholt, sondern dass es ihnen auch Werkzeug an die Hand gibt, damit sie in dieser Welt sich besser zurechtfinden, als auch, dass die Schwierigkeiten und moralisch fragwürdigen Aspekte dieser Welt sich damit aufheben lassen. Vor allem der letzte Punkt stellt für mich doch ein sehr großes, fragwürdiges Moment dar.

Betrachten wir dieses im Aufsatz offen gelassene Problem, können wir aber immerhin die Frage konstruktiv umformulieren: Muss die digitale Revolution überhaupt allumfassend sein? Kann sie in ihrer Allumfassung überhaupt ihren gegebenen Ansprüchen gerecht werden? Oder wäre es nicht sinnvoll, die digitale Revolution nicht als einen kompletten Umsturz wahrzunehmen?

Nehmen wir an, die Welt wird tatsächlich zunehmend digital und die Digitale Wende wäre tatsächlich auf dem Weg allumfassend zu werden. Wäre es nicht sinnvoll, in der Schule eine Gegenwelt nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, indem man in der Digitalen Revolution auch bewusst Platz lässt für das Analoge?

 

Meiner Ansicht nach reagieren viele Lehrer in dieser Diskussion ausgesprochen emotional, weil sie vielleicht einen Maßstab ansetzen, den ihnen die Apologeten einfach nicht austreiben, weil sie in ihrer Apologie einfach nicht darauf eingehen wollen: Es ist die Emotionalität, die hinter dem Gefühl steckt, sich irgendwann durch die Digitale Wende aufgelöst wiederzufinden.

Ein Kollege sagte mir einmal, wenn er nur noch der Lernbegleiter wäre und selbst das Material, die Texte im Internet frei zu finden sind, dann braucht man ja nur noch zu lehren, Qualität von Fake zu unterscheiden und welche Rolle habe es dann gehabt, dass er all das Fachwissen nicht nur gelernt, es sogar behalten habe, es liebe, er der Fachmann mit Leidenschaft sei, den einfach niemand mehr frage?

Mir geht es an dieser Stelle, wenn ich meinen Kollegen frei zitiere, nicht darum, sein Argument auf Stichhaltigkeit zu überprüfen. Mir geht es darum, die Emotionalität zu begreifen und auf sie einzugehen, die ihn zu seiner Aussage gebracht hat. Sein Selbstverständnis unterscheidet sich fundamental von dem Selbstverständnis des Zukunfts-Lehrers, wenn man die Texte der Digital-Pädagogen liest. Und wo es keinen Unterschied gibt, da läuft das Ausbleiben des Eingehens auf Lücken, wie die oben genannte, auf das Vorurteil zu, man gehe nicht seriös genug auf die Bedenken der Gegenseite ein.

Ich wage daher, um konstruktiv zu sein, einen anderen Ansatz und möchte betonen, dass nichts in Burows Ergebnissen von mir anders werden wird. Nur durch die anfängliche Herangehensweise soll eine neue Perspektive sichtbar werden:

Wir alle kennen im Lehrerberuf verschiedene Lehrertypen. Und – ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit zu haben – kenne ich die folgenden:

Es gibt Theoretiker und Praktiker. Die Theoretiker unterteilen sich wieder in:

  • Analytiker (der alles analytisch begreift, begreifen möchte, …)
  • Fachexperte (in seinem Inhaltsgebiet weiß er fast alles)
  • Der Empathische (der Typ Therapeut)
  • Der Lebensweise (Der Typ Sozialarbeiter)

Unter den Praktikern dagegen:

  • Empiriker (er liebt es, mit den Schülern zu experimentieren, zu spielen, etwas zu MACHEN)
  • Der Technik-Experte (von Anfang an kennt er jede technische Lösung auf analoge Probleme)
  • Der Lebensweise (Ja, ich würde ihn in beide Bereiche aufnehmen)
  • Der Künstler (kreativ, innovativ, …)
  • Der Handwerker / Handarbeiter (der, den SuS Nähen oder Sägen oder Kochen oder Schweißen beibringt)

Es handelt sich hierbei um eine grobe Auflistung von Typen, sprich: verallgemeinerte Abstrahierungen. Durchaus ist es möglich, dass jemand in einem Fach ein Fachexperte, in dem anderen ein Künstler ist, o.ä.

Sehen wir uns eine solche Liste an, berücksichtigen und wertschätzen wir das Potential nicht unserer Schülerinnen und Schüler, sondern derer, die wir revolutionieren wollen! Wir berücksichtigen das Potential der Schule an ihrer Substanz. Und sehen wir uns diese Typen genauer an, bin ich mir sicher, dass nicht jeder Typ medienaffin ist, bzw. nicht jeder Lehrertyp mit seinem Unterrichtsstil in Kombination mit der Digitalen Wende ein beachtetes, nützliches Element des Systems. Und das fände ich schade.

Wenn die Digitale Wende die Schulen überschwemmt, droht etwa der Empathische von der Welle erfasst und unter Wasser gedrückt zu werden. Er könnte das Opfer der Digitalen Revolution werden, weil sein Unterricht darauf beruht, den SuS zuzuhören, Schwingungen zu erfassen, auf die Sorgen und Nöte der SuS einzugehen und sei es nur mit einer simplen Frage, dieser zu begegnen. Diese Lehrertypen wird es auch nach der Digitalen Wende geben, aber wenn eine Revolution kommt, sollte diesen Typen genauso ein Platz eingeräumt werden wie etwa den Empirikern.

Ich halte es nicht für einen Zufall, dass die Grundlagentexte der Digitalen Revolution im größten Teil (den ich bisher gesichtet habe) die Naturwissenschaft mit Beispielen überschwemmt und für den geisteswissenschaftlichen Unterricht maximal: „Drehen sie doch ein Filmchen“ übrig hat.

Ich weiß, dass die Digitale Wende auch Platz für zum Beispiel Plenumsdiskussionen bereit hält und diese ist höchst analog. Sie hat auch weiterhin Platz für phänomenologische Herangehensweisen an Gedichte. Aber durch das Verschweigen, wie dieser Platz in der digitalen Welt aussieht, weil man denkt, dieser Platz wird sich schon selbst behaupten können, werden unnötig die Ängste bedient, statt sie zu nehmen.

Ich glaube, Schule sollte nicht nur die Digitale Wende aus all den genannten Gründen eingehen, sie sollte mit dem gleichen Atemzug auch den Platz der Analogie einräumen und bewusster und konkreter sagen, dass Digitale Revolutionen das System UNTER BERÜCKSICHTIGUNG jedes einzelnen Lehrertypes durchführen.

Von daher wäre ein erster Schritt, systematisch die Lehrertypen zu untersuchen, festzustellen, welche überhaupt durch das Digitale verbessert werden können, welche weiterhin benötigt werden und gleichzeitig durch eine Digitalisierung verdrängt wären. Und dann könnte man im nächsten Schritt erst aufrollen, was Burow u.a. aufrollen: ein Schulsystem, das der digitalen Revolution konstruktiv und stark entgegen geht. Stark deshalb, weil das Potential der Lehrer nicht der Beachtung eines falsch verstandenen Potentials der Technik zum Opfer fällt.

 

[1] Dr. Anne Sliwka: Pädagogik der Jugendphase – wie Jugendliche engagiert lernen; Beltz; Weinheim 2018; S. 63.

[2] Burow, S. 17.

[3] Burow, S. 15.

Was sagt ihr dazu?