5 – Tyrannenschatten

Toni hatte auf einen Notizzettel geschrieben „Mal sehen, ob die Anklage auf die 30 Tyrannen eingeht!“

Und Johann hatte mit seiner zierlichen Handschrift darunter geschrieben: „Ist heute etwa schon die Hölle zugefroren?“

Das Eröffnungsplädoyer wurde von dem alten Mövius gehalten. Er hatte ein gehässiges Vogelgesicht, über das die Zeit ungnädig seine Spuren hinterlassen hatte. Zerbrechlich stand er vor seinem Platz und hielt sich mit den Handflächen auf die Tischplatte gestützt. Ab und zu blätterte er in seinen Papieren.

Weil er sehr leise sprach, war das Publikum jetzt außerordentlich still. Selbst der Richter musste sich vorbeugen, um ja jedes Wort verstehen zu können.

Er wird über die 30 Tyrannen so wenig reden wie die großen Medien in jenen acht Monaten. Wie lange war das jetzt her? Sokrates rechnete nach. Waren es jetzt fünf Jahre? Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor. Und vor allem kam es einem so ungeheuerlich vor. Der Staat, streng genommen das ganze Leben, hatte auf Messers Schneide gestanden.

Ein weiser Mann hatte einmal in einer Zeitungskolumne geschrieben, dass es für einen Staat nur zwei gefährliche Augenblicke gab: der Krieg und der Frieden. Im Frieden wiegt sich das Volk in Sicherheit und ignoriert alle Gefahren. Im Krieg konzentriert es sich auf so viele Gefahren gleichzeitig, dass es die größten und nächsten meist übersieht – Die 30 nächsten Gefahren…

Es waren von diesen dreißig am Ende dann aber nur wenige bis an die Öffentlichkeit gedrungen. Dreißig Namen wären auch zu viel gewesen, um sie alle mit Wut und Entrüstung beehren zu können. Wären es nur vier Bösewichter gewesen, wäre es den Bürgern einfacher gefallen, sich zu entrüsten. Aber gleich dreißig Reaktionäre waren entschieden zu viel. Die Entrüstung war enorm. Der Entrüstung folgten das Gefühl der Machtlosigkeit, der kleine Bruder der Panik. Und in Folge dessen war es gleichgültig, dass mehr als dreißig Namen in die Presse wanderten. Nach und nach hätte man das hinterfragen sollen. Man hätte nachhaken sollen, was aus den ersten dreißig Namen geworden war. Ob sie wohl immer noch in der Liste standen? Vielleicht waren die Namen und Personen auch austauschbar. Vielleicht war ja von Anfang an nicht nach diesen Schurken gesucht worden sondern nur nach jemandem, dem man die volle Breitseite der Entrüstung zumuten konnte.

Lysander, der Anführer, wäre nicht aus der Liste zu tilgen gewesen. Aber Lysander war ein Superstar. Er hatte dieses besondere Auftreten, mit dem er es sich erlauben konnte, von aller Welt gehaßt zu werden, ohne dass es ihm schadete. Es kratzte ihn nicht im geringsten. Er war als Hauptaktionär der Firma A-Traps im letzten Krieg zum Multimillionär geworden. Und auch wenn der Firmenvorstand sich gegen Ende der achtmonatigen Tyrannei geschlossen gegen ihn gestellt hatte, ihn in einen vorzeitigen Ruhestand geschickt hatte, zahlte man ihm weiter über die Hälfte seines ehemaligen Gehalts.

Für Sokrates waren aber zwei andere Namen viel wichtiger. Und als Mövius sie nannte, zuckte Sokrates unwillkürlich zusammen.

„Und nennt Sokrates sich nicht ihr Lehrer?“, fragte Mövius: „Hat er nicht Christian und Pia unterrichtet? Sind diese beiden nicht Beweis genug, was dieser Mensch hervorzubringen im Stande ist?“

 

Was sagt ihr dazu?