Der Treibsand (politisches Essay)
Laut brüllen ist das Einfachste, wenn man das Gefühl hat, zu versinken.
Wenn der Boden einem nicht mehr fest vorkommt, es einen nach unten und in gefährliche Tiefen zieht, natürlich gerät man dann in Panik. Treibsand ist ein für jedermann leicht verständlicher Albtraum.
Wir Menschen brauchen einen festen Stand unter unseren Füßen. Ein Boden für stabile Häuser, für ein sicheres Leben, für eine Familie.
Menschliches Glück braucht Standfestigkeit.
Aber die Kultur der Moderne ist auf Treibsand gebaut. Ein Treibsand, der einen genau in dem Augenblick verschlingt, da man an der Festigkeit des Bodens zu zweifeln beginnt.
Eine demokratische Republik kann unter genau zwei Bedingungen sein: stabil und von Krisen gebeutelt. So lange die äußeren Umstände stabil sind, verschlingt die Kultur nur wenige. Einige, die man Opfer des Systems nannte, andere, die bereitwillig nicht an diese Art der Festigkeit des Bodens glaubten und sich freiwillig verschlingen ließen. Damals, als alles stabil war, nannten wir sie Aussteiger.
Und das Internet heute ist ein vorzüglicher Ort fürs Brüllen geworden. Es gibt genug Hashtags und Plattformen, auf denen man verdeutlichen kann, wie tief die Füße einem schon eingesunken sind. Politiker wollen ihre Bürger im Internet erreichen und rücken so wieder viel näher an die Menschen heran. Und die nun angenäherten Volksvertreter lösen allein durch ihre Anwesenheit, mehr aber noch: durch ihre Stellungnahmen im Internet, ein ohrenbetäubendes Brüllen aus.
Jeder will gehört werden, das ist das eine. Deshalb muss einer lauter um Aufmerksamkeit heischen als ein Vorgänger. Pointierter und griffiger muss es sein. In dieser Dynamik kann sich der Internetbenutzer zuerst einmal nur auf sich selbst konzentrieren. Er muss in sich selbst nach den besten Formulierungen suchen und – selbst wenn die gefundene, perfekte Antwort nichts mit der Lebenswirklichkeit zu tun hat – irgendwer wird sich beeindruckt zeigen und wiederfinden von diesem soeben gefundenen Geistesblitz, die man selbst Satire nennt. So wird dann zwar immer lauter und effektvoller in die Ohren der Politiker gebrüllt, gleichzeitig aber doch nur schwach mit der Realität verknüpfte Rhetorik geübt.
Das andere ist, dass da tatsächlich der Boden wegbricht. Dass es leicht ist, in Krisenzeiten vor allem, misstrauisch zu sein gegenüber der Standhaftigkeit des Bodens.
Seien wir ehrlich: Wie viele ernsthafte, wirklich ernsthafte, Krisen erlebte die letzte Generation? Von wie vielen Naturkatastrophen, Hungersnöten, Kriegen und Krankheiten waren wir denn gebeutelt? Nein, nicht im Fernsehen, nicht im Kino, nicht in den Nachrichten, nicht im Ausland, nein: ganz konkret wir!
Der Terror der 2000er Jahre war zu allererst menschengemacht und ist jetzt eine unkontrollierbare Naturkatastrophe. Gerade diese Unkontrollierbarkeit des Corona-Virus, sowohl dessen Auftauchen als auch unsere Unfähigkeit es einfach verschwinden zu lassen, löst ganz selbstverständlich in der sicherheitsverwöhnten Neuzeit einen Schock aus. Wir erleben, dass jede Art von Sicherheit immer nur Zufall war. Dass wir uns davon entwöhnt hatten, mit dem Risiko zu leben, es sei denn wir suchten es selbst, und dass diese Entwöhnung nun mal nicht so einfach rückgängig zu machen ist, das löst in einer Welt, die wir alle als komplex wahrzunehmen bereit sind, selbstverständlich Misstrauen gegenüber der Standfestigkeit unseres Bodens aus.
Corona ist ein Brennglas, nicht wahr? Es vergrößert unsere Probleme, macht sichtbar, wo in unserem System alles die ganze Zeit einfach nur funktioniert hat, weil der Boden das System getragen hat. Aber jetzt, da der Boden wackelt, jetzt funktioniert nicht mehr alles so einfach. Und die Menschen, die misstrauisch werden: denen teilt sich – wie gesagt – der Boden unter den Füßen. Kein Wunder, dass man brüllt. Kein Wunder, dass man erst Angst hat und um Hilfe ruft, dann aber die Angst in Wut umschlagen lässt.
Wut ist immer einfacher als Angst.
Wenn man Karl Lauterbach im Internet als Sondermüll bezeichnet, dann ist das einfacher, als sich inhaltlich mit seinen Thesen auseinanderzusetzen. Es ist einfacher, pointierter und für jedermann leicht verständlich. Und es passt in die begrenzte Zeichenzahl Twitters.
Aber es hilft nicht gegen Treibsand.
Es hilft auch nicht gegen Treibsand, wenn man von der „Politelite“ spricht und sich als „Kapitalismuskritiker“ bezeichnet. Man ist nicht Kapitalismuskritiker, nur weil man denkt, Politiker arbeiteten nur sich selbst in die eigene Tasche. Und zwar weil man hinter diesem Argument zwei Sätze später oft sagt, dass man selbst gerne Geld hätte oder man es doch selbst „genauso tun würde“. Man beklagt den Zerfall wirtschaftlicher Sicherheit und weist mit dem Finger schuldzuschreibend nicht auf einzelne Entscheidungen, weil Entscheidungen in der Politik längst nicht mehr so einfach sind, dass sie in einem Tweet erklärt werden könnten, auch nicht in zweien. Man weist nicht einmal auf einzelne Personen – und wenn, wie im Falle Lauterbachs, dann ist es entweder reiner Zufall oder die Argumentation ist höchst fragwürdig – man weist auf die berühmte Elite.
Es ist nicht so, dass der Boden nicht tatsächlich aus Treibsand besteht.
Es ist auch nicht so, dass jeder Politiker immer sauber und integer ist, immer die besten Absichten verfolgt, immer das Richtige tue.
Aber der aus dem Hilfeschrei geborene Wutsturm, der sich im Internet Bahn bricht, und von dem Karl Lauterbach und andere sagen, er sei von ungeahnt neuer Dimension, hat nun mal die Eigenschaften eines Sturms: er greift sich, was er greifen kann, er wälzt nicht um, er schädigt.
Und viel schlimmer: Das Brüllen verstärkt unsere Zweifel an der Standfestigkeit des Bodens.
An Diskutieren ist nicht mehr zu denken und wo in einer Republik nicht mehr diskutiert werden kann, da kann ein Versinkender nicht gerettet werden und da kann die Republik sich nicht vor denen retten, die am Versinken sind.
Was es braucht, noch bevor die Krise gelöst werden kann, ist vertrauen.
Wie in einem Kinofilm, in dem aus heiterem Himmel plötzlich eine Hand auftaucht und sagt: „Wir schaffen das, halt dich daran fest!“
Aus dramatischen Gründen sehen die Zuschauer im Kino das Gesicht des Retters aber erst nach der Rettung. Im schlimmsten Fall sehen wir in das grinsende Gesicht des Antagonisten, der uns verrät, dass er noch Großes mit uns vorhat.