Der Zug der Wölfe (3)

Azlan konnte nicht schlafen. Unruhig wälzte er sich in seinem Bett von einer Seite zur anderen. Obwohl er unterhalb seiner Hüfte nichts mehr spürte, gab es vor allem nachts diese Augenblicke, in denen eine Art Phantomschmerz ihn wachhielt. Nein, es war kein wirklicher Schmerz. Eher der Eindruck, als lägen seine Beine unter einem schweren Gegenstand begraben. Das schlimme daran war, dass er nichts gegen das Bedürfnis ausrichten konnte, sich von dem dumpfen Druck zu befreien. Er konnte die Lage wechseln, höher rutschen oder die Decke wegwerfen. Das Gefühl würde bleiben. Und damit stieg eine Nervosität, die wie ein sich immer enger und enger um die Haut schnürender Panzer anfühlte. Er hasste es, nichts tun zu können. Der Fluch des Liegenden. Der Fluch der Starre. Es gab Schlaftabletten. Aber die hasste er mindestens genauso intensiv wie das Druckgefühl. Azlan warf endgültig die Decke zurück, richtete sich im Bett auf und schaltete das Nachtlicht ein. Dann starrte er einfach nur lange auf die gegenüberliegende Wand und konzentrierte sich auf seinen Atem. Umso heftiger erschrak er, als etwas plötzlich gegen die Scheibe klatschte. Irritiert und neugierig hievte er sich in den Rollstuhl zurück und fuhr zum Schlafzimmerfenster. Ein Fleck auf der Scheibe verriet, dass wahrscheinlich ein Vogel dagegen geflogen sein musste.  Noch einer, der nicht schlafen kann, dachte er. Als er am Fenster ankam, prallte wieder etwas dagegen und Azlan zuckte mit einem überraschten Aufschrei zurück. Er hatte noch nie gehört, dass Vögel nachts gegen Scheiben flogen. Gleich zweimal hintereinander war noch bizarrer. Die Krähe saß auf dem Fenstersims und krächzte laut. Ihr Kopf ruckte herum, als sein Gesicht am Fenster auftauchte. Ihr schwarzes Auge glänzte ihm entgegen. Vorwurfsvoll wiederholte sie ihr Krächzen. Und da war etwas, was seine Aufmerksamkeit auf sich zog, das ihn davon abhielt, die Sache bei sich bewenden zu lassen. Die Augen des Tieres, so kalt und glasig sie sein mochten, seelenlos und hart wie Vogelaugen eben sind. Sie starrten, als ob kein Wort, kein Gedanke und kein Gefühl hinter ihnen lebten ihm ins Gesicht und es war doch, als ob da etwas anderes hinter ihnen aufblitzte. Eine Absicht. Etwas Dunkles, Altes. Mit einem Schlag fühlte Azlan sich an eine Szene in den Bergen zurückerinnert. Als er und Steph unverhofft beim Klettern einer Passage in ein Mitten im Gebirge verborgenes Plateau gefolgt waren und sie bei diesem See ankamen, der ganz schwarz unter dem bleiernen Himmel lag. Kreisrund wie ein Auge, aber ganz undurchsichtig und von einer gefährlichen, lockenden Tiefe. Steph hatte den See einen Abgrund genannt und gespottet: Sieh nicht zu tief rein! Es gab diese Flächen, deren glatte und undurchdringliche Schwärze einem nicht erlaubte, einzutauchen, die einem aber das Gefühl gaben, dass jederzeit etwas aus ihren Schlünden emporsteigen konnte. Während nichts sich an den Oberflächen regte, wühlte etwas im Tiefsten. Das war nur zu spüren. Und genau das glaubte Azlan in diesen Augen zu lesen. „Widerliches Vieh!“, sagte er mehr zu sich selbst.  Wie zur Antwort krächzte die Krähe heiser in die Nacht hinaus, ließ aber ihre Augen nicht von ihm ab. Azlan machte eine rasche Handbewegung, um es zu vertreiben. „Du bist schon zweimal gegen die Scheibe. Also verzieh dich! Hier gibt es nichts für dich.“ Tatsächlich schlug das Tier hastig mit den Flügeln. Aber es blieb sitzen. „Dann starr dir doch selbst ins Gesicht“, sagte Azlan, dem plötzlich einfiel, dass man von außen vermutlich gar nicht hereinsehen konnte. Er wandte sich ab, fuhr – weil er das Bett nicht ertrug – in die Küche und suchte nach Ablenkung. Er trank Leitungswasser gegen die Gefühle, die von den Krähenaugen geweckt worden waren. Dann fuhr er zurück, um zu prüfen, ob das Tier noch dasaß. Es war fort. Aber bis ins Bett schaffte Azlan es trotzdem nicht. Denn kaum hatte er das Bett erreicht, als er den dritten dumpfen Schlag gegen das Fenster hörte. Aber diesmal, da war er sich sicher, klang es aggressiv. Er drehte sich um. Das Tier flatterte aufgeregt vor dem Fenster, schlug mit den Flügeln so heftig, dass es sich auf der Stelle hielt. Wild kreischte es jetzt und stürzte keine Sekunde später wieder auf das Fenster zu. Azlan starrte völlig erstarrt auf den erregten Vogel, der mit seinen Krallen jetzt gegen die Scheibe zu kratzen begann, dessen Flügel gegen die Scheibe schlugen, der mit dem Schnabel gegen das Glas pickte. „Was zum …“, aber weiter kam er nicht. Ein zweiter Vogel schob sich plötzlich aus der Dunkelheit und leistete dem ersten Beistand. Er prallte wie sein Vorgänger gegen die Scheibe, ließ sich dann aber auch zum Kratzen und Schaben verleiten. Der Anblick dieser beiden aggressiven Vögel war so bizarr, dass Azlan rein gar nichts unternahm. Er zuckte zusammen und schrie, als das Fenster mit einem Mal tatsächlich barst. Die Vögel waren hier. Aber es waren nicht mehr nur zwei. Sie hatten nur die Drecksarbeit geleistet. Ein ganzer Schwarm, unzählbar viele, stürzten sich binnen Sekunden ins Innere. Ein Schwarm, der keine Details zuließ. Eine Wolke aus schwarzblauen Federn, die sich vor ihm aufbäumte. Sie krächzten einstimmig, als wär alles nur eine einzige Kehle. Azlan schrie, warf sich schützend zur Seite ins Bett. In seiner Panik riss er sich wie ein Kind die Decke über den Kopf. Das war natürlich schlimmer. Denn was auch immer die Krähen anstellten, er konnte es nicht sehen. Die Geräusche verrieten ihm, dass sie in Sekunden sein Schlafzimmer fluteten. Die Flügelschläge waren ein wild durcheinander gehendes Schlagen. Ihr kehliges Schreien blieb einstimmig. Ein weiteres Fenster zersprang. Die Krähen waren in der ganzen Wohnung. Sie landeten auf ihm. Zerrten an der Bettdecke, zerrissen den Stoff. Sie pickten durch die Decke hindurch auf seinen gewölbten Rücken. Sie lagen hart auf ihm als wäre es doch nur ein einziger, gewaltiger Körper. Azlans Zimmer erstickten in dem Schwarz der Krähen. Auf einmal war da aber noch ein anderes Geräusch. Brüllen und Fauchen mischte sich unter das Krähenrauschen. Ihr Kreischen war jetzt nicht mehr allein aggressiv. Er konnte schwören, dass sie jetzt panisch klangen. „Lass sie mir!“, brüllte auf einmal jemand. Die Decke wurde Azlan jetzt endgültig weggezogen. Instinktiv rollte er sich zur Seite und versuchte zu entkommen. Dann sprang etwas zu ihm aufs Bett. Er dachte erst, dass es ein kräftiger, grauer Hund war. Aber das Jaulen und Fauchen aus dessen Kehle korrigierte Azlans Ersteindruck: Es war ein Wolf. Und dann sah Azlan, dass der nicht allein hier war. In der Schlafzimmertür stand ein zweiter Wolf. Der Krähenschwarm hatte sich aufgeteilt. Mit heftiger Aggressivität stürzten die Vögel sich auf den Eindringling in der Tür. Azlan hätte schwören können, ein amüsiertes Grinsen auf dem Wolfgesicht sehen zu können. Der Wolf auf seinem Bett dagegen knurrte und hielt mit gezieltem Schnappen den wütenden Vogelschwarm von Azlan fern. Als ob das alles nicht absurd genug gewesen wäre, sagte auf einmal jemand: „Ich habe Vögel schon immer gehasst.“ Der Wolf auf seinem Bett antwortete: „Dann frage ich mich, warum du noch zögerst.“ Völlig entgeistert starrte Azlan die beiden Tiere an. Nur hatte er weder Zeit, sich zu wundern, noch in irgendeiner Weise irrational zu reagieren. Ein weißer Streifen leuchtete auf dem Fell des Wolfes, der in der Tür stand. Die Vögel kreischten und hielten, bis auf ein paar wenige Wagemutige, deutlichen Abstand. Eine Krähe, die mit ihrem Schnabel den Kopf des leuchtenden Wolfes attackieren wollte, klatschte auf einmal tot zu Boden. Und wenige Sekunden später folgten weitere. „Verschwindet!“, jaulte der Wolf auf dem Bett. Er schnappte sich mit einem Mal zwei Vögel aus der Luft, die Azlan angreifen wollten. Voller Zorn schleuderte er sie aus seiner Schnauze zurück in den Schwarm. Das schien zu genügen. Die Vögel traten den Rückzug an. Es fielen immer noch ein paar tot zu Boden, ohne dass Azlan den genauen Grund dafür erkennen konnte.  Dann war es auf einmal still. Das Fell hörte auf zu leuchten. Der Wolf sprang vom Bett und stellte sich mit den Vorderpfoten ans Fenster. „Sie sind fort.“ „Aber wie lange?“, knurrte der an der Tür.  „Nicht lange. Wir müssen uns beeilen.“ Sie wandten sich Azlan zu. „Das siehst du doch ein, nicht wahr?“, fragte der Graue, der vorhin auf seinem Bett gestanden hatte. „Azlan?“ Dass die Tiere nicht nur sprechen, sondern auch seinen Namen kannten, dass sie ihn gerade gegen einen wildgewordenen Krähenschwarm verteidigt hatten, das alles war mehr, als Azlans Verstand für den Augenblick vertrug. Das Zimmer drehte sich um ihn. Er hatte das Gefühl zu stürzen. Hinein in einen unendlich tiefen Krater. „Azlan!“, knurrte der andere Wolf jetzt. Er fletschte die Zähne. Zum ersten Mal sah er jetzt nicht mehr spöttisch aus, sondern so, wie man sich einen Wolf vorstellte: gefährlich. „Du jagst ihm Angst ein“, warf der erste ihm vor. „Wir sind Wölfe, natürlich jagen wir ihm Angst ein.“ Und dann war da eine dritte Stimme: „Für Angst haben wir keine Zeit.“ Natürlich war es wieder ein Wolf, aber einer, der doppelt so groß war wie die anderen beiden. Sein Fell war verfilzt, hatte an einigen Stellen offene Flächen und eine frische Narbe lief ihm quer über das linke Auge. „Dein Anblick wird bestimmt nicht helfen, Hannibal.“ Hannibal lachte trocken, ließ sich aber nicht beirren, zu Azlan ans Fußende des Bettes zu kommen und ihm unverwandt in die Augen zu sehen. „Die Vögel haben dich angegriffen, das kannst du nicht leugnen. Genauso wenig, dass die beiden da“, sein Kopf zuckte in Richtung der beiden kleineren Wölfe, aber die Augen blieben unverwandt fest auf Azlan gerichtet, „dass die beiden da dir das Leben gerettet haben. Wenn ich dir jetzt sage, dass die Vögel wiederkommen, wir Wölfe aber weiterziehen müssen, dann wirst du einsehen, dass die einzig logische Handlung für dich darin besteht, uns zu vertrauen und uns zu begleiten, nicht wahr?“ „Wölfe können nicht sprechen“, war das Einzige, was Azlan dazu sagen konnte. Es war nicht mehr als ein verzweifeltes Festklammern an das bisschen Realität, von dem er glaubte, dass er es bewahren konnte. „Und Vögel fliegen nachts nicht in fremde Zimmer um einfach so Menschen anzugreifen.“ „Hitchcock!“, krächzte Azlan verzweifelt. Die beiden kleineren Wölfe tauschten irritiert Blicke aus. „Lass uns keine Zeit verlieren. Wir werden genug Zeit finden, dir alles zu erklären, versprochen! Wir werden dir erklären, dass wir genauso deinetwegen hergekommen sind wie die Krähen. Aber dass wir deine Hilfe wollen und es gut meinen.“ „Ihr seid Wölfe“, es klang so, als ob er das schon einmal gesagt hätte. Der große Wolf, der Hannibal genannt worden war, senkte den Kopf und seufzte. „Komm mit!“, es klang jetzt nicht mehr wie ein Überzeugungsversuch. Es war ein Befehl. „Ich kann nicht“, hörte Azlan sich sagen. „Wie soll das gehen? Ich kann nicht.“ „Bist du verwundet?“ Für einen Augenblick sahen sich alle irritiert an, so als ob es keinen Sinn gab, warum Azlan das gesagt hatte. Azlan zeigte auf den Rollstuhl. Die Wölfe sahen den Metallstuhl an der Bettseite stehen und tauschten dann wieder fragende Blicke. „Ich kann nicht gehen!“, schrie Azlan jetzt. „Ich hab … hier … meine Beine… kein Gefühl… Wie soll ich … wohin …“ „Er kann nicht gehen“, sagte Hannibal jetzt zu den beiden anderen Wölfen. „Das kommt unerwartet“, sagte der kleine Graue. Hannibal nickte. „Hör zu. Sobald wir das Haus verlassen haben, kommen die Krähen wieder. Mindestens so wütend wie eben. Wenn nicht noch mehr. Ich biete dir meinen Rücken an. Aber wir müssen uns beeilen.“ Azlan starrte. Er konnte weder die Situation ernst nehmen, noch wirklich begreifen, was die Worte bedeuteten. „Sie kommen“, sagte der Spöttische jetzt. Sein Fell begann wieder zu glühen. „Der zweite Angriff wird heftiger. Sehen wir zu, dass wir abhauen.“ „Rennt vor!“, knurrte Hannibal. Die beiden Wölfe zögerten nicht. Sie stürzten auf Hannibals Wort sofort aus der Tür. „Jetzt sind wir dran“, sagte Hannibal. „Egal, was du gerade denkst oder fühlst, Azlan, ich verspreche dir, dass es nur eine einzige, richtige Entscheidung gibt. Aber du musst sie selbst treffen. Halt dich an meinem Hals fest und leg dich auf meinen Rücken. Ich bin stark genug.“ Als Azlan sich immer noch nicht bewegte, zischte Hannibal: „Ich bin stark, aber ich bin nicht schnell. Je länger du zögerst, umso ruppiger wird unsere Flucht.“ Jetzt sah Azlan dem Wolf zum ersten Mal in die Augen. Es waren völlig andere Augen als die der Vögel. Es war keine unergründliche Tiefe, kein unterirdisches Brodeln. Das Leben, das darin lag hatte fast etwas Menschliches. Nein, es lag mehr darin als in menschlichen Augen hätte liegen können.  Er konnte es sich nicht erklären, aber er spürte genug Vertrauen zu diesem sprechenden Tier, um sich vorzubeugen, seinen Hals zu greifen und sich daran auf den Rücken zu ziehen. „Gott sei Dank“, sagte Hannibal. „Halt dich fest.“ Dann sprang er los.

Was sagt ihr dazu?