Lieber Dominik.
Du hast mich neulich gefragt, wie es denn gekommen ist, dass ich nicht mehr gern über die Zeiten an der Universität mit dir rede. Und wie es denn sein kann, dass ich so vorsichtig geworden bin. Bei deinem letzten Besuch muss es dir aufgefallen sein, nicht wahr? Aber du warst zu höflich, nicht darüber zu reden.
Deine Beobachtungen sind wohl wahr. Und die Dinge hängen alle miteinander zusammen, auf eine Art, wie du es dir wohl nicht vorstellen möchtest.
Ich werde dir eben die grausigsten Umstände schildern, die je einem Menschen begegnet sind. Und ich hoffe, du wirst diese Geschichte als zufriedenstellende Erklärung für alles ansehen können.
Kaum einer macht sich heute noch Gedanken über das Grauen. Wir denken, die schlimmsten Dinge, die uns begegnen können seien familiäre Schicksalsschläge oder Naturkatastrophen. Wir halten die Welt fest umschlossen von unserem aufgeklärten physikalischen Weltbild, hab ich nicht Recht? Und wie viel von all dem Verborgenen, dass ich hinter dem Erklärbaren abspielt, pflegen wir zu ignorieren. Wir spüren es, wenn wir nachts durch die dunklen unheimlichen, menschenverlassenen Gassen der Stadt gehen. Wir spüren, wie sich in unserem Nacken die kleinsten Härchen aufrichten und halten es für überspannte Instinkte oder fühlen uns beobachtet und wähnen ein nur allzumenschliches, wenn auch niedriges Treiben in den uns zurückliegenden Schatten, welches uns beäugt und sein Urteil über uns fällt, ohne, dass wir zutun können.
Auch kennen wir alle diese Orte, die uns selbst bei Tag ein widernatürliches Vibrieren im Leib verursachen. Orte, die Menschen seit jeher meiden und denen ein so tief liegender Schrecken innewohnt, dass wir es nicht ertragen können, unseren Verstand darauf gerichtet zu sehen.
Ich rede von genau den Orten, über die schon andere uns beiden lieb gewordene Autoren berichtet haben. Neil Gaiman etwa zeigt diese in seinem Magnus Opus als uralte göttliche Heiligtümer. Oder Steven King redet von dünnen Rissen im Weltgefüge; Narben, die der Realität geschlagen worden sind.
Ich weiß nur, dass ich solcher Art Beschreibungen faszinierend fand, aber nie damit gerechnet hätte, selbst einmal etwas ähnliches, wenn auch nicht gleiches, in meiner Biografie verzeichnen zu können.
Du erinnerst dich möglicherweise noch an Professor Javier. Er war ein kleiner, pausbäckiger Mann mit schütterem grauen Haar und immer beigefarbenen Kleidern. Er hatte sein Büro am Ende der Romanistik, gehörte aber eigentlich zur Germanistik. Und seine Themen lagen grenzwertig oft mit denen der Philosophie, weshalb ich reges Interesse an seinen anfänglichen Seminaren hatte und weil ich ein Standardgast bei ihm war, so lernten wir uns kennen. Das bedeutete, erst erinnerte sich häufiger an meinen Namen, dann grüßten wir uns, wenn wir uns zufällig auf dem Campus trafen, wir gerieten in kurze Dialoge, die erst fachlich, später dann auch ansatzweise privat geprägt waren. An einem Sonntag, es musste ein Wintersemester gewesen sein, denn in meiner Erinnerung war es kalt an jenem Tag, trafen wir uns in der Stadt im Kulturcafé, diesem schwarzen, loftähnlichen Großraumcafé, wo auch wir beide gerne die Zeit verbracht hatten. Wir trafen uns dort, um über eine Seminararbeit zu reden, von der wir beide gerne gehabt hätten, dass sie besser benotet wurde. Und daher wollte er mir Korrekturtipps geben. Das Gespräch kam aber ab, musst du wissen, und er erzählte mir von einem Werk, das ihm in die Hände geraten war.
Er fragte mich zunächst, ob ich schon Werke von Giorgio Agamben gelesen hätte. Das sei ein italienischer Geisteswissenschaftler, der höchst bemerkenswert über den Homo Sacer, den urpsrung des ‚Heiligen’ und des ‚Tabus’ geschrieben hätte.
Als ich verneinte, erklärte er mir, dass es um das Unberührbare ginge, das dem Heiligen und dem Tabuisierten gleich wäre.
„Es gibt“, erklärte mir Professor Javier, „in unserer Kultur ein sehr mächtiges Gefühl, das, wenn es einmal gebrochen wird, die Grundlage darstellt, dass wir einen Menschen als Unmenschlich bezeichnen, bereit sind, ihn konsequent aus der Gesellschaft auszuschließen, ihn regelrecht in ein absolutes Exil zu schicken. Und dieses Gefühl wird gebrochen, wenn das nackte, reine, unschuldige Leben vernichtet wird. Oder machen wir es deutlicher: Uns ist das reine Leben so viel Wert, dass wir jeden, der das reine Leben nimmt, vollständig aus dem Definitionsbereich des Menschlichen ausschließen. Jemand, der einen Säugling mordet, beispielsweise, den Inbegriff des reinen, unschuldigen Lebens, diesen Täter würden wir nur ungern allein als ‚Mörder’ bezeichnen. Er wäre vielmehr ein ‚Monster’, ein ‚Widerwärtiger’, einer, den wir konsequent ausstoßen aus der Menge aller Menschen.“
So redete er. Und er erzählte mir davon, wie Agamben Rückschlüsse zog von diesen Ausstößen hin zur Wirkweisen der Macht und der Souveränität. Es waren philosophische Diskussionen, mit denen ich dich jetzt nicht näher quälen möchte, mein Freund. Größtenteils gab er die Theorien des italienischen Philosophen wieder und kommentierte sie durch eigene Überlegungen. Da ich seine Diskussionen verstand und auf ihn und seine Theorien konstruktiv eingehen konnte, fand er sichtbar Gefallen an unserem Gespräch und wir vertieften unsere Gedanken, bis wir mit einem Mal über Orte sprachen anstatt über Menschen oder über Strukturen der Macht und des Staates.
„Es gibt“, erklärte er mir mit einem Mal mit verschwörerischer Miene, „Es gibt meiner Meinung nach auch ein ähnlicher Umgang mit Orten. Friedhöfe beispielsweise oder stillgelegte psychiatrische Einrichtungen, Folterkammern in mittelalterlichen Burgen oder auch“, und jetzt machte er eine Pause, der man anmerkte, dass er sich mit einem Mal unangenehm fühlte.
„Oder auch?“, hakte ich durch Wiederholung seiner letzten Worte nach.
Er schwieg eine Weile, musterte mich und schien in seinen Gedanken nach einer Entscheidung zu wühlen. Dann fragte er mich, ob ich wirklich Interesse an diesen Gedanken hätte und als ich bejahte, versprach er mir, es mir zu zeigen.
Heute sei es zu spät, wohl aber am Wochenende bestimmt möglich. Wir verabredeten uns für den kommenden Sonntag und er versprach, mich mitzunehmen und nannte das: Philosophische Feldforschung.
Es wird dich nicht überraschen, dass ich mir bis zum kommenden Sonntag das Werk von Agamben kaufte und mich in den höchst komplexen Gedanken des Italieners verschlungen fühlte. Ich fand es sehr faszinierend, wie er die Wortbedeutung „Heilig“, also ‚Sacer’ von den frühesten antiken Spuren nachjagte und so beispielsweise von Sextus Pompeius Festus zitierte:
„Sacer aber ist derjenige, den das Volk wegen eines Delikts angeklagt hat; und es ist nicht erlaubt, ihn zu opfern; wer ihn jedoch umbringt, wird nicht wegen Mordes verurteilt; denn im ersten tribunizischen Gesetz ist festgelegt: Wenn einer denjenigen umbringt, der aufgrund eines Plebiszits sacer ist, dann wird er nicht als Mörder betrachtet“. Daher pflegt man einen schlechten und unreinen Menschen sacer zu nennen.“
Ich stellte indes auch meine eigenen Vermutungen an und formulierte sie schriftlich aus, wie sich das besagte auf heilige Orte beziehen könnte. Vor allem das Bild der psychiatrischen Einrichtung fand ich sehr eingängig. Unter der Vorstellung, dass hier kranken Menschen geholfen wurde, liegt doch oft das Vexierbild einer Folterkammer. Deshalb eignet sich doch dieser unter dem reinen Gewissen geführte Raum als Schreckensraum in so vielen Horrorfilmen. Die Anstalt, die nicht des Mordes wegen verurteilt werden kann, weil lautere Absichten vorgebracht werden können, reine Absichten, zugleich aber klar ist: wer sich der Anstalt entledigt, wer sie niederbrennt beispielsweise, wer mag dem einen Vorwurf machen? Der wird nicht als echter Brandstifter in den Vorstellungen der Menschen wahrgenommen.
Aber, Dominik, ich muss dir sagen, dass es einen echten Unterschied gibt, zwischen den Gedanken, die du dir aus der Theorie gewinnst und der echten Untersuchung. Oder wie Professor Javier es genannt hatte: einer philosophischen Feldforschung.
Insgeheim hatte ich mir viele Gedanken gemacht, wohin er mit mir gehen mochte. Und weil es in der Nähe der Stadt auch ein Konzentrationslager aus den Zeiten des NS gab, hätte sich ein Ausflug dorthin wohl angeboten. Aber nein. Zu meiner nicht geringen Überraschung fuhren wir zur Universität. Und dann gingen wir zuerst in sein Büro, wo wir uns mit Taschenlampen, Notizblöcken, Kreide und Fotoapparaten ausstatteten und dann gingen wir schweigend aus dem Gebäude hinüber in Richtung Bibliothek.
Du erinnerst dich noch an unsere Bibliothek nicht wahr? Ein Klotz war es, mehr nicht. Die höchste Stufe der Enttäuschung für alle Bibliophilen wie uns. Nur ein weißer Quader mit von der Zeit und der Natur abgenutzter Fassade. Eine größere Fensterfront zur Rückseite hin, die zum botanischen Garten ausgerichtet war. Und zwei größere, weiße Türme, in denen die Bücher gelagert wurden.
Dass dies unser Ziel sein sollte, überraschte mich. Aber dann schloss er tatsächlich den Haupteingang auf, wir traten ein und gingen in die Abteilung für alte Geschichte. Dort legte er den Finger an die Lippen und lauschte erst, ob wir auch wirklich alleine waren. Dann zeigte er wortlos auf eine bleiche Tür. Dahinter war nicht etwa ein Lagerraum oder eine Putzkammer. Sondern eine Treppe führte von hier nach unten in einen Keller.
„Die Universität ist tatsächlich viel älter als sie aussieht.“, erklärte er mir, während wir dort hinunter gingen. „Hier wurde schon zu Napoleons Zeiten eine Art Campus errichtet. Tatsächlich sind die meisten Gebäude allerdings inzwischen ersetzt worden. Die beiden großen Weltkriege haben hier stark gewütet. Aber, auch wenn hier nichts mehr so aussieht wie zu Beginn, so haben sich zwei Sachen nicht verändert. Erstens ist der Campus immer ein Campus geblieben. Hier gab es nie einen anderen Zweck als eine Einrichtung des Lernens und des Forschens. Und zweitens“, er hielt auf der Treppe inne und rüttelte so lange an seiner Taschenlampe, bis das Licht hell genug war, um uns den Weg zu leuchten. „Zweitens war an dieser Stelle wohl von Anfang an der Ort, wo die Bibliothek beherbergt wurde.“
Wir stiegen hinab über klamme, steinerne Treppen, die teilweise recht abgenutzt und rutschig waren. Es gab keine Elektrizität und die Luft wurde stickig und kalt. Schließlich, ich weiß nicht wie lange wir bergab gestiegen waren, waren Luft, Wände und Stufen knochentrocken geworden. Am Ende gelangten wir zu einem kleinen Raum mit drei Türen, eine in jede Richtung. Wir wandten uns nach links und kamen in einen breiteren Flur, wo links und rechts immer abwechselnd schwere, schwarze Metalltüren die Wände säumten. Jede Tür hatte einen quadratischen Sichteinlass, der mit Gittern versehen war.
Als ich Javier fragte, was dies für ein Ort sei, antwortete er schlicht mit der Gegenfrage: „Wie fühlen Sie sich hier? Kommen Sie. Gehen wir weiter und konzentrieren Sie sich auf das, wie es sich anfühlt, hier zu sein. Aber reden Sie. Beschreiben Sie es während wir gehen.“
Ich sollte vorgehen und so gab er mir die andere Taschenlampe. Ich leuchtete zunächst in einen dieser Räume hinter den Türen hinein, konnte aber kaum mit dem Strahl der Lampe die Finsternis die da drin war, aufbrechen.