Der rumänische Dodekaeder

Niemand hatte mir je etwas von ihm erzählt. Aber jetzt, da er verstorben und ich der letzte noch verifizierbare Anverwandte ausfindig gemacht worden war, erfuhr ich von ihm.

„Wir sprechen seinen Namen nicht aus.“, sagte der alte Verwalter, der mich durch das Haus führte. „Und wir alle sind erleichtert, dass er endlich gestorben ist. Langezeit sah es ja so aus, als ob selbst der Tod sich seiner nicht annehmen wollte.“

Jedesmal wenn dieser Verwalter von meinem toten Verwandten sprach, verzog sich sein Gesicht in Abscheu und Spott.

„Es ist noch nicht einmal alles sortiert. Die Firma wünscht, dass alles zunächst gesichtet und gelistet wird, ehe das Testament vollständig wirksam wird und der Besitz an sie übertragen werden kann. Es geht da auch um eine staatlich wirksame Sache, …“, er verschwieg den Rest.

Ich hatte mir früh die Frage erspart, um welche Art Mensch es sich gehandelt hatte. Denn das ganze Haus verriet schon genug. Halb verfallen stand dieses windschiefe Gebäude am Ende einer verwahrlosten Straße, umzingelt von Wildwuchs der dornigsten Sorte. Die Fassade bröckelte, die Fenster sahen halb eingestürzt aus. Läden hingen halb herab. Das Dach war sicher undicht und im Innern roch es nach uraltem Urin und Kohl und die komplette Bandbreite zwischen Armut, Schimmel und Verwesung. Ich war ernsthaft schockiert zu hören, dass der Bewohner zwei Bedienstete angestellt hatte. Aber, wie beide mir lebhaft versicherten, sie wohnten weder selbst im Haus, noch hatten sie Auftrag, etwas am Haus zu gestalten. Sie durften lediglich Essen und Trinken bringen, sich um seinen ausgemergelten Leib kümmern, ihn mit merkwürdigen Ölen einreiben, die schlimmer stanken als alles, was je auf dieser Welt gegoren und verdorben war.

Die eine Bedienstete, ein bildhübsches junges Mädchen, dessen Blässe und deren leicht verblödeten Augen mir verrieten, dass sie kaum je am echten Leben teilgenommen hatte, war fast stumm. Wenn sie sprach, verstand man sie fast nicht. Was musste das für eine Gesellschaft gewesen sein, fragte ich mich.

Der Verwalter, der auch der zweite Diener im Haus war, führte mich von Raum zu Raum und schließlich gelangten wir in das hinterste Zimmer, ein dunkles Büro voller Bücher und merkwürdigem Brimborium. Hier entschuldigte er sich.

„Ein wichtiges Telefonat wartet auf mich.“, sein Blick musterte mich streng und dann meinte er: „Aber ich warne sie davor, auch nur eine einzige Sache zu berühren. Wir haben längst noch nicht alles erfasst und wir erwarten gerade in diesem Zimmer schlimmes. Grauenhafte Dinge hat er hier vollzogen. Schrecklich, unchristliches Gewerk. Ich war indes ein wenig herumgestreift und hatte mit dem Finger einen Globus zum drehen bringen wollen, da schnauzte er erneut, dass er es ernst meine. „Nichts anfassen. Und wenn sie über genug Verstand und Sensorik verfügen, dann halten sie die Finger fort von diesem grauenhaften Ding auf dem Schreibtisch. Wir wagen es nicht einmal, es anzusehen.“ Und mit den Worten „furchtbares Gewerk“, stapfte er die Treppe wieder zurück und dann rief er über die Schulter: „Nichts anfassen, verdammt. Ich bin ja gleich wieder da.“

Und dann war er fort und ich stand da, umringt von uralten Folianten, von deren Buchrücken man kaum noch lesen konnte, wessen Autor die inwendigen Zeilen verfasst hatte. An den Wänden hingen verstaubte Bilder mit verblasstem Goldzierrat. Geometrische Forschungen waren auf großen Bögen, die auf dem Boden ausgebreitet waren, ausgeführt. Damit die Skizzen nicht wieder zusammenrollten, lagen zur Beschwerung in Glas eingefrorene zur Ewigkeit verdammte Anemonen; Kugeln, so dick wie Fäuste. Mindestens vier Globen zählte ich in dem mich umgebenden Wust. Einer davon verzeichnete Länder, die ich nicht zuordnen konnte und war beschrieben in einer mir fremden Sprache.

Durch das Fenster, das mit Silberstreifen und bunten Glaseinfassungen zu Mosaiken verziert war, drang das letzte Tageslicht in den Raum hinein, blass bunt verfärbt, ließ es diesen uralten, wurmzerfressenen Schreibtisch erstrahlen wie einen schäbigen Altar. Die Schubladen waren allesamt halb oder viertel geöffnet. Unmengen von Studienpapier. Was hatte dieser Alte hier bloß geforscht. Von welchem Wahnsinn geleitet hatte er all diese Skizzen angefertigt, aus denen kein klarer Verstand sich einen Sinn zusammenreimen vermochte.

Dann fiel mein Blick tatsächlich auf dieses alte Holzschächtelchen. Auf den ersten Blick dachte ich, es sei kaum mehr als eine nette Spielerei eines filigran arbeitenden Drechslers. Entfernt erinnerte es mich an jene platonischen, kristallinen Formen, die ich von Escher-Bildern her kannte. Es ruhte auf einer großen, teils aufgerollten Papierrolle und sah dort Zeichnungen desselben, sowie die Worte: „Rumänisches Dodekaeder“.

Zwei Seiten dieses merkwürdigen Gebildes waren mit ringförmigen Löchern versehen, die einem einen Blick durch es hindurch gewährten. Auf zwei anderen gegenüberliegenden Seiten ragten sternähnliche Dornen hervor, die man drehen konnte und ich sah auf einer Fläche eine eingravierte Schrift.

Neugierig bewunderte ich das Kleinod von allen Seiten und setzte mich dabei in den abgenutzten Lehnstuhl hinter dem Schreibtisch, jenem Ort, wo auch der verstorbene Vorbesitzer garantiert sein halbes Leben verbracht hatte.

Durch die Löcher blinzelte ich durch das Dodekaeder hindurch und sah, wie fein auch im Innern mit eingeritzten Zeichnungen das Artefakt gearbeitet war. Wie Kupfergold glänzte das Objekt in meiner Hand. Es erschien mir recht warm und ein sanftes Vibrieren, ähnlich dem, das dem Summen sich nähernder Insekten beischwingt, schien von ihm auszugehen.

Ich hielt es über mich, spielte damit, wie gefangen von dem überaus feinsinnigen Kunstwerk. Bewundernd drehte ich an den Dornen und lauschte diesem anschwellenden Klang, der wie aus weit entfernten Äthern durch das Halbdunkel dieses verwunschenen Zimmers waberte. Der Geruch nach verdorbenem Fleisch wurde mit einem Schlag intensiver. Ein jäher Ekel durchfuhr mich. Aber es war ganz sicher schon zu spät. Öffnete sich doch, narbenähnlich, am Rande meines Sichtfelds, etwas in der längst mich flirrend umgebenden Luft. Aus dem, was ich anfangs für ein vibrierendes Summen gehalten hatte, war ein rasselnder Atemzug geworden, der durch jeden Riss, jede Spalte dieses uralten Gemäuers hindurchzog, mit unendlicher Langsamkeit ausgestoßen und laut, unfassbar laut, als wäre das, was da atmete weltengroß.

Obwohl ich mich um keinen Millimeter mehr bewegt hatte, knackten mir alle Knochen im Leib erst nacheinander, Sekunden später dann alle gemeinsam und so wie die Fäulnisluft durch den Spalt des Irgendwo durch das Zimmer wie ein Orkan hindurchjagte, so sehr verschlug es mir die Fähigkeit des Atmens. Ich spürte, so als wär ein Unbeteiligter aus mir selbst geworden, wie mein Körper den Mund aufriss, nach Luft schnappte, wie meine Hände sich an den Armlehnen verkrampften und es mir den Leib zu zerbersten drohte, als sei ich von einer Sekunde zur nächsten in die unendlichen, kosmischen Tiefen des luftleeren Raums eines Weltalls gestoßen.

Schwärze jagte regelrecht in mich hinein. Und ich spürte, wie ich nie zuvor gespürt hatte, den ganzen Raum von einer Bösartigkeit geflutet, die es mir leicht machte, in grenzenlose Ohnmacht zu fallen.

Wer dann von dem Schreibtischstuhl erwachend sich erhob und den Diener mit finsterstem Grinsen erwartete, hatte nichts mehr mit dem zu tun, der den Raum vor wenigen Minuten betreten hatte.

„Es hat also wieder funktioniert?“, fragte der Diener unbeholfen.

„Der Übergang“, sprach die Stimme noch etwas ungewohnt aus der für sie neuen Kehle. „ein neuer Zirkel hat begonnen.“

„Sehr wohl.“, sprach mein Diener. Und reichte einen Spiegel, so dass jener, der den rumänischen Dodekaeder wieder zurück auf seinen Platz legte, sein neues Antlitz für diesen Turnus betrachten konnte.

Was sagt ihr dazu?