Es war unheimlich, im grundlegenden Sinn des Wortes. Eine vollkommene Finsternis und eine vollkommene Stille, die über allem lag. Raum an Raum und jeder: Nichts an Nichts. Schwärze an Schwärze. Ich beschrieb das mulmige Kribbeln auf der Haut und dass sich meine Nackenhaare hochstellten. Dass ich das Bedürfnis hatte, zu reden oder zu singen oder pfeifen um diese Dunkelheit zu vertreiben. Es ist, sagte ich, erstmal nichts anderes als wenn ein kleines Kind allein in den dunklen Keller runtergehen soll und in jeder Nische, hinter jedem Schatten, einen kleinen Teufel vermutet, eine Hand, die sich nach einem Ausstreckt.
Ich hörte Javier kichern. „Das ist nichts Besonderes, mein Freund.“, sagte er. „Das ist die natürliche Aversion des Menschen gegen die Dunkelheit und gegen das ihm Unbekannte. Weiter. Gehen Sie weiter, und biegen Sie bitte an der nächsten Kreuzung rechts ab.“
Es war ein wahres Labyrinth da unten, wie ich es nicht für möglich gehalten hätte. Nach nur zwei Kreuzungen hatte ich schier vergessen, dass wir uns den Zugang durch die Bibliothek verschafft hatten. Inzwischen musste, wenn ich darüber nachdachte, dieser unterirdische Komplex unter dem gesamten Campus entlang laufen. Es kam mir vor wie ein Netzwerk ähnlich den Katakomben von Paris.
Du musst wissen, dass ich dort einmal eine Führung mitgemacht hatte. Was dort unheimlich und erschreckend ist, ist dass die Wände komplett aus Totenschädeln und Knochen besetzt sind, dass sich ein wahres Mosaik aus zeitlos anmutenden menschlichen Überresten ergibt. Ich leuchtete sogleich bei dieser Assoziation die Wände ab und muss dir sagen, dass es hier furchtbarer war als in Paris, da die Wände glatt waren, so glatt wie uraltes Leder zu sein pflegt. Mit ähnlichen Wülsten und Narben, Rissen und Maserungen. Die Wände fühlten sich auch ledrig an, so als sei der Stein hier unten nicht geschichtet sondern gespannt worden. Und wenn ich dir sage, dass es hier unheimlicher war als in Paris: es lag daran, weil es hier unten nichts gab, was das Unheimliche, das man im ganzen Leib spüren konnte, widergespiegelt wurde durch etwas, das hier gewesen wäre. Nein, es war rein gar nichts hier, nur Gänge, Flur an Flur, Mauer an Mauer, ein Irrweg, der von so großen Ausmaßen war, dass es mich Frösteln ließ.
„Ich hatte ja keine Ahnung, dass der ganze Campus unterhöhlt ist.“, meinte ich.
„Weiter!“, forderte Javier mich auf. Und es war nicht eindeutig, ob er es wegen meines Zögerns sagte, oder weil ich nicht mehr über meine Gefühle sprach.
Ich fuhr weiter fort, ihm alle meine Eindrücke zu schildern, wurde dabei aber zunehmend leiser und schließlich konnte ich nichts mehr reden. Der Mund war mir so trocken geworden wie die Luft. Wir waren in einen großen kreisrunden Raum gelangt. Der Boden war sandig, die Decke dicht über unseren Köpfen.
„Hier.“, sagte Javier plötzlich und führte mich an den Rand der Mauern zu einer mir erst jetzt sichtbar gewordenen achteckigen Öffnung.
„Wo sind wir hier?“, wollte ich fragen, brachte aber keinen Laut über die Lippen.
Ich legte wie hypnotisiert die Handfläche auf die Wand.
Die Wände waren warm und, ich schwöre es dir, Dominik, ich war mir sicher, dass ich sie pulsieren spürte. Natürlich, das musste eine Einbildung sein, ein haptischer Trick, der den eigenen Puls missinterpretiert als den Blutdruck der berührten Wand.
Javier leuchtete mir mit der Taschenlampe direkt ins Gesicht, wodurch ich ihn nicht sehen konnte. Aber seine Stimme hatte einen fiebrigen Klang, leicht zittrig vor Aufregung.
„Wir spüren es beide, nicht wahr?“, meinte er. „Ich bilde es mir nicht ein.“
„Wo sind wir hier?“, fragte ich endlich. Kaum hörbar, aber ich war mir sicher, dass er mich verstanden und gehört hatte.
„Schon zu Napoleons Zeiten wurde hier eine Art Campus errichtet. Ein größeres Areal, mehrere Gebäude. Alle zu dem Zweck, sowohl Bildungs- und Forschungseinrichtung zu sein, als auch mehr … ganz sicher mehr. Spüren Sie es, mein Freund? Sie können es auch spüren, ich weiß es. Schreckliche Dinge verursachen schreckliche Atmosphären. Der Raum hat alles aufgesogen, da bin ich mir sicher. Lauschen Sie doch! Lauschen Sie!“
Wir lauschten. Eine Stille, die so tief zu empfinden war, dass der Verstand damit nicht klarkam und statt dessen Geräusche selbst produzierte: das Rauschen in den Ohren, das Fiepen, ähnlich des Tinitus. Aber nein, dachte ich, es geschieht nicht. In meinen Ohren hätte es vor Stille rauschen müssen oder Piepsen, es hätte Kreischen müssen oder Tosen. Nichts. Die Stille war so absolut, dass mein Verstand und mein ganzer Körper sie nicht auszuschalten verstand.
Ich hatte mich inzwischen abgewandt von Javier und leuchtete mit der Lampe an den kreisrunden Wänden und der Decke entlang und wie durch Zufall überfuhr der Lampenkegel an der jenseitigen Stelle ein kleines Glitzern. Javier sprach weiter, er verfing sich in der Begeisterung über den erlebbaren Abglanz einer ganz eindeutig schrecklichen Vergangenheit.
„Was geschehen ist, das mag unserem Verstand verborgen sein, aber nicht unseren Gefühlen.“
Ich näherte mich dem merkwürdigen Objekt, das mir im Taschenlampenschein aufgeblitzt hatte und ließ Javier weiterreden. Der Schall war hier unten natürlich bizarr verzerrt. Je weiter ich von Javier wegging, umso deutlicher war es mir, dass seine Worte wurden. Ich beugte mich hinab am jenseitigen Ende und berührte das Ding auf dem Boden. Es war eine knapp über dem Boden in der Wand eingearbeitete Schale. Sie war mit Wasser gefüllt, das mein Licht reflektiert hatte. Neugierig sah ich mich um. Es gab hier unten einige solcher Schalen, aber keine trug so viel Wasser wie diese hier.
Javier sprach weiter von einem buchstäblichen „Kitzeln der Nerven“ und davon, dass er auf diese Gänge und Räume aufmerksam geworden sei, als er von dieser Kriegsgeschichte gelesen habe.
Im zweiten Weltkrieg haben Juden hier unten Zuflucht gefunden. Sie wurden nicht gefunden und nicht ins KZ gebracht.
Aber sie hätten auch nicht überlebt.
Ich tunkte meinen Finger in die Schüssel.
Einhundert Juden, erklärte er. Einhundert hätten sich hier angeblich versteckt. Es gibt eine Liste im Dekanat mit den Namen aller hundert Juden. Vornamen. Nachnamen. Alter. Geschlecht. Es ist alles dabei. Und keiner hat überlebt. Von keinem gibt es ein Zeugnis, dass er nach dem Krieg wieder aufgetaucht wäre. Name geändert, wird man jetzt sagen können. Aber nein, es gibt keine Spuren mehr. Und es gibt ja nur diesen einen Ein- und Ausgang, den wir auch genommen haben. Ich habe hier unten schon viele Räume und Gänge abgesucht. Aber es gibt keinen weiteren Ausgang mehr. Wenn, dann hätte nach dem Krieg die Gefolgschaft der über hundert geretteten Menschen wieder dort oben, wo jetzt unsere Bibliothek steht, auftauchen müssen.
Hören Sie, was ich sage, mein Freund?
Ein Ort, der hundert Menschen regelrecht verschluckt hat.
„Ihre Leichen?“, fragte ich. „Hat man ihre Leichen gefunden?“
Ich hatte den Finger wieder aus dem Wasser gezogen und muss dir sagen, Dominik, dass ich nicht weiß, was da wirklich in den Schalen gewesen ist. Denn wenn es wirklich echtes Wasser war, dann kein reines. Es war sehr zähflüssig und leicht klebrig, es war dunkel, fast schwarz. Ich roch daran, und ja, natürlich stank es, aber nicht wie abgestandenes oder totes Wasser riechen mochte. Es roch nach Fleisch, uraltem Fleisch oder nach Blut. Jedenfalls nach Verderben und Elend.
„Javier? Haben Sie das schon gesehen? Was ist das?“
Ich hatte als ich die Flüssigkeit untersucht hatte, die Taschenlampe zwischen Schulter und Kopf geklemmt und das Licht auf die Schale gerichtet gehabt. Beim Sprechen verrutschte mir die Lampe und der Lichtkegel fiel auf etwas am Boden. Ich kniete mich tiefer, musste ganz nah mit den Augen an den Boden heran. Da war etwas. Etwas Eingezeichnetes. Direkt über dem Winkel wo Boden und Wand aneinander trafen.
„Das sind Buchstaben!“, erkannte ich. „Buchstaben, Javier!“
Und es gehörte nicht viel dazu, die Buchstaben als hebräisch zu erkennen. Ich machte hastig ein paar Fotos. Der Blitz leuchtete grell auf und blendete mich. So dass ich zunächst nichts weiter erkennen konnte. Selbst der Taschenlampenschein war matt und brachte mir keine Details mehr. Ich stand also auf und rieb mir die Augen und wartete, starr ins Finstere blicken, bis die Augen sich wieder an das große, gewaltige Nichts gewöhnt hatten.
Und dann war es da.
Wie eine Druckwelle schoss es vom Zentrum des Raums zu den Wänden und durch mich hindurch. Ein eiskalter Schauer jagte über meinen Rücken und wollte nicht enden.
Ich spürte wie ein grauenhafter Windstoß elends durch mich hindurchjagte, als ob dunkle, tief sinistre Töne meine Eingeweiden zum Vibrieren brachten.
„Javier!“, sagte ich. „Javier!“
Aber Javier antwortete nichts.
Was durch mich durch geschossen war, war das von Gewissheit geprägte Gefühl, dass ich die einzig lebendige Seele hier unten war. Aber das konnte nicht sein. Noch vor Sekunden hatte Javier mit mir gesprochen.
„Javier!“, rief ich, diesmal ungleich lauter, schriller.
Ich wünschte mir, die Augen würden schneller die Dunkelheit wieder durchbrechen können und ließ mit wachsender Panik den Strahl meiner Lampe durch die Schwärze gleiten. Er zuckte in alle Richtungen. Ich rannte hinüber, stürzte dabei fast über die eigenen Füße. Dann fand ich wie durch Zufall den Eingang in diesen schrecklichen Raum und rief: „Ich will wieder zurück! Javier! Hören Sie mich. Hören Sie bitte auf mit Ihren Spielchen!“
Hastig, aber noch nicht rennend, eilte ich mich zurück. Ich hatte kein Bedürfnis mehr an diesem Ort zu sein.
Aber ich erinnerte mich daran, dass es auf dem Weg hierher immer unheimlicher und düsterer geworden war. Eigentlich hätte es jetzt mit jedem Schritt also befreiender und leichter werden müssen. Weit gefehlt. Die Finsternis schien drückender und die Gänge enger zu werden. Jetzt war ich mir sicher, dass die ledrigen Wände pulsierten.
Ich tastete mich an den Gängen entlang und wenn ich an einer Kreuzung nach rechts leuchtete, aber kurz einen Blick nach links warf, so war ich mir zu hundert Prozent sicher, dass etwas dort drüber stand und die Wände sich in dem Abgrund des Undurchdringlichen pochten wie die Kammern eines Herzens.
Meine Schritte wurden hastiger.
Ich hörte hinter mir ebenfalls Schritte, war mir aber nicht sicher, ob ich diese noch für Javiers Schritte halten sollte. Ich rief nach ihm ohne Antwort zu erhalten. Warum sollte er das tun, fragte ich mich. Welche Art von psychischem Spiel setzte er mich da aus.
Dominik ich sage dir, hätte ich den Weg einfach herausgefunden und hätte ich oben angelangt für den Rest meines Lebens nie wieder etwas von Javier gehört oder gesehen, das Grauen wäre mir nicht so tief in den Eingeweiden und in den Grundfesten meiner von da zersplitterten Seele eingeschrieben. Ich weiß, ich hätte nach natürlichen Erklärungen gesucht und die mindeste wäre gewesen, dass unter unserer ehemaligen Universität Katakomben lägen, in denen Menschen einfach verschwinden. Das wäre immerhin ein unerklärlicher Schrecken gewesen, mit dem ich etwas hätte anfangen können, weil es der gewöhnliche Spukschrecken gewesen wäre, wie er uns auch bei Gaiman und King und Lovecraft und Poe zu begegnen pflegt: das Unerklärliche, Mystische, für das es bestimmt ganz einfache Lösungen gegeben hätte, für die ich aber nicht stark genug gewesen wäre, sie zu erforschen.
Aber nein. So einfach war es mir nicht vergönnt.
Denn ehe ich den Ausgang fand, stürzte ich in einem dieser endlos wirkenden Flure zu Boden, rutschte über den sandigen Boden und spürte einen stechenden Schmerz auf meinem Gesicht. Ich lag zunächst wie benommen und für einen kurzen Augenblick hielt mein Körper ganz wie von selbst die Luft an, um sich mit dem Schmerz abzufinden. Auch mein Herz hörte für einen kurzen Augenblick auf, voller Panik zu jagen, so als habe der Schmerz meinen Körper kurz wieder in die Realität zurückkatapultiert und als wisse mein Körper und mein Verstand, dass alles in Ordnung sei und nur meine Fantasie mir einen Streich einjage.
Doch in dieser kurzen Sekunde war tatsächlich alles still. Ich hörte nicht mehr meinen eigenen, gehetzten Atem, nicht mehr das Rauschen und Tosen meines Blutes in meinem Körper. Ich hörte nicht den Luftzug der durch meine überhetzte Flucht mir entgegen stob.
Ich hörte mit unfassbarer Klarheit das Flüstern weiblicher Stimmen: פה נקבר, flüsterte es. Und dreimal die Worte: תהיה נפשו/נפשה צרורה בצרור החיים.
Du weißt, ich kann kein Hebräisch, verstand aber jedes Wort, als wären es die universelle Sprache. Ich verstand, wie sie mir zuraunten: Hier ist es verborgen! Ihre Seele, eingebunden in das Bündel des Lebens! Willkommen! Willkommen im Herzen des Pleroma! Ha-Male! Ein unendliches Meer! Ha-Male!
Frag nicht, wie ich aus den Gängen herauskam. Frag nicht, was es für Stimmen waren, die mich seither verfolgen bis in die tiefsten Träume hinein.
Es waren Stimmen, bei denen ich mich nicht entscheiden kann, ob ich sie dir als ur-menschlich oder als unmenschlich beschreiben soll.
Aber ein letztes noch.
Auch wenn ich tatsächlich von Professor Javier nie wieder etwas hörte und ich eigentlich auch nie wieder etwas mit diesen Katakomben, ja mit der Uni selbst nie wieder zu tun haben wollte, so gibt es noch ein kleines Nachspiel.
Ich zog noch in diesem Wintersemester fort, wie du weißt nach Kaiserslautern, um weit weg zu sein und den Rest meines Studiums aus der Ferne zu absolvieren. Du weißt auch wie schnell ich fertig wurde mit allem und wie unruhig ich seitdem geworden bin.
Aber auch wenn es ein halbes Jahr später war, dass mir die Kamera von damals wieder mit ihrem Speicherchip in die Hände fiel. Wie groß und intensiv war mein Schrecken, wie nah fühlte ich mich wieder dieser abgrundtiefen Finsternis, dieser Fülle an Schrecken und Schwärze, als ich die Bilder nichtsahnend auf meinem Computer abrief und die hebräischen Zeichen wieder entdeckte.
Mein damaliger Mitbewohner war, wie du weißt, halb-jüdisch. Er konnte aus frühen Kindertagen Hebräisch lesen. Zufällig stand er hinter mir als die Bilder auf dem Computer erschienen. Ich war sprachlos, fragte ihn nicht, aber er las fast automatisch die Worte vor und erklärte mir:
„Das ist die übliche Grabinschrift der Juden. Aus dem ersten Buch Samuel: Seine Seele sei eingebunden im Bund des Lebens. Dann: ha schochet u-vodek: das bedeutet: ‚Der Schächter und Prüfer’; saken: ‚der Alte’; Gershom Javier; niftar lewet olamo: Begraben im Haus der Welt.“