Wie sich alles veränderte; oder: der Busfahrer veränderte alles noch einmal
Seien wir ehrlich, Silvy war in mich verliebt und wir knutschten rum, als wir dreizehn waren. Wir „gingen miteinander“ – so nannte man das damals – aber wir hatten einen gewaltigen Streit darüber, dass ich mich weigerte, echten Journalismus zu machen. Ich hätte Talent, meinte sie und das sollte ich doch nutzen, über die wahren Dinge zu schreiben. Etwa darüber, dass unsere Lehrerin eine Affäre mit dem Pastor hatte. Oder darüber, dass der alte Bauer Hirschleder immer Paranoider wurde, sodass er vielleicht sogar eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellte. Ich sollte etwas schreiben über die wirren Theorien von Horst Belldorf, der in der Kneipe „Zum Eck“ immer davon redete, dass Deutschland kein Land sondern eine Firma sei. Solche Sachen eben.
Aber ich hatte keine Lust über echte Menschen zu schreiben. Ich hatte meine Lektion damals gelernt und schrieb nur Geschichten. Ich behauptete, das Echte käme viel glaubwürdiger rüber als die Realität. Und irgendwann ging mir Silvy aus dem Weg und hielt Händchen mit einem Oberstufenschüler und ich saß zu Hause über meinen Geschichten und schrieb traurig eine Erzählung über eine Frau, die einen Journalisten für einen reiferen Sportler verließ, weil der Journalist keine erfolgreiche Story mehr zustande brachte, keinen Erfolg mehr hatte, wogegen der Sportler einen Pokal nach dem nächsten nach Hause brachte.
Meine Geschichte spielte in Norddeutschland und viele Szenen fanden an einem brausenden Meer statt. Am Ende ermordete der Journalist den Sportler auf einer Klippe und schrieb dann eine Reportage über einen tragischen Unfall des größten Sportlers unseres Jahrhunderts. Damit wurde der Journalist wieder erfolgreich aber die Liebe seines Lebens bekam er nicht zurück.
Es war unfassbar wie gut dieser Text ankam. Mein Vater fand die Beschreibungen gut und meine Lehrerin empfahl die Geschichte weiter. Ironischerweise gewann ich damit einen Schreibwettbewerb und bekam eine Einladung zu einer Siegesfeier in die Hauptstadt. Es war nichts großes, aber das Gefühl war unbeschreiblich. Für eine Erzählung geehrt zu werden, einen Preis mit nach Hause zu bekommen und Leute, die einem zuhören, wenn man den eigenen Text vorliest, das war schon etwas Atemberaubendes. Ich wollte das mein Leben lang machen.
*
Bei uns zu Hause gab es keine Schule. Das Dorf war viel zu klein und unbedeutend. Wir hatten gerade mal eine Kirche, aber die war auch nur ein paar Quadratmeter größer als eine Wald- und Wiesenkapelle. Wer zur Schule wollte, der musste in einen Nachbarort. Aber die waren auch schon wieder ein gutes Stück entfernt, weil um uns herum nur Wald war. Also gab es Schulbusse, hässliche graue Dinger mit quietschenden Türen und uralten Männern, die nach Nikotin stanken als Fahrer. Es gab den kleinen Bus für die Grundschule und die beiden großen Busse: der erste fuhr um sieben Uhr und fuhr nach Westen zum Gymnasium. Der zweite fuhr um halb acht nach Osten zu einem Schulzentrum. Das Schulzentrum war größtenteils für Loser. Es gab Gerüchte, dass dort auf den Fluren öfter mal ein Mülleimer in Brand gesteckt wurde, dass Lehrer bewaffnet in den Unterricht kamen oder dass es mehr suspendierte Schüler als Absolventen gäbe. Natürlich waren das alles Übertreibungen. Aber ich wusste es nicht genauer, weil ich zu denen gehörte, die noch vor Sonnenanbruch nach Westen fuhren.
Man brachte mir dadurch bei, dass die Klugen immer die waren, die früh aufstanden und sich müde zu Tode schufteten, wogegen die Ausgeschlafenen die waren, die gesellschaftlich hinten ab fielen.
Kontakt zu der anderen Schule gab es nie. Aber ich kannte ein paar Schüler, die mit dem Spätbus fuhren und je älter wir wurden, umso weniger wollten wir mit denen was zu tun haben. Eine Zweiklassengesellschaft, so einfach funktioniert das. Alles, was man brauchte, waren zwei Uhrzeiten und zwei Himmelsrichtungen.
Unter anderem Toni saß im Bus nach rechts. Die Keller Zwillinge und Markus Steiner saßen bei mir. Wir unternahmen immer viel miteinander. Aber so richtig gut verstand ich mich nur mit Markus. Zumindest immer dann, wenn er nicht bekifft war. Auch Silvy saß bei uns und der Typ, der sie mir ausgespannt hatte, der inzwischen aber schon wieder eine Neue hatte, eine mit Brüsten, die so groß waren und so in Szene gesetzt wie bei einem Pornostar.
Markus sagte immer, er wünschte, die würde einmal bei ihm sitzen und nicht immer nur ich. Und dann würde der Bus einen Unfall bauen und alle würden durcheinander geworfen und er würde mit dem Kopf genau in ihren Brüsten landen und alles wäre gut.
Aber weder saß sie auch nur für eine einzige Fahrt an seiner Seite, noch bauten wir einen Unfall.
Sie war sogar krank an jenem Tag, als die Sache geschah. Es war Ende Oktober. Es war so kalt wie lange nicht mehr. Und die ganze Luft war klatschnass, obwohl es nicht regnete. Wir zitterten eigentlich alle, während wir an der Bushaltestelle warteten. Am meisten zitterte Markus, der einen furchtbaren Kreislauf hatte. Er war auch ganz blass, im Licht der Straßenlaterne war er sogar grüngelb. Seine pockennarbigen Wangen wirkten eingefallen und seine Augen blickten schläfrig in die Ferne.
„Der Bus ist zu spät.“, sagte Sven Keller und Silvy lachte darüber wie man über einen Idioten lacht.
„Das wär uns jetzt gar nicht aufgefallen.“, sagte sie.
Sven ärgerte sich nicht darüber. Ich schon. Aber ich sagte auch nichts, nicht weil ich keinen Streit wollte, sondern weil ich wollte, dass mir Silvy egal ist.
Es war schwer über sie hinwegzukommen. Vielleicht weil wir uns schon von Kindheit an kannten, weil unsere Eltern immer noch befreundet waren. Weil sich Geschichte und Erinnerungen und Erlebnisse nicht ausradieren lassen. Beziehungen aber schon.
Plötzlich sagte Markus: „Der alte Richter wird sich mit dem Bus wohl genauso verfahren haben wie mit Jacky the Coke gestern Abend.“
Und dann gackerte er plötzlich sein albernes Lachen und die beiden Kellerzwillinge fielen mit ein.
„Was soll das heißen?“, fragte Silvy noch bevor ich die Chance dazu hatte.
„Das heißt“, sagte Arne Keller. „der alte Richter hat gestern ein wenig zu tief ins Glas geschaut.“
„Welcher Richter um Himmels Willen?“
„He Silv, du Milf.“, machte Markus und schnitt ihr eine Fratze. „Wie lange fährst du schon Mitternachtsbus? Nie das Namensschild gelesen. Direkt unter ‚Bitte nicht mit dem Fahrer reden“ steht doch dieses ‚Heute ist Herbert ihr Fahrer – Vielen Dank, dass sie mit Waldbus Erlebnisreisen fahren.’“
Sven fühlte sich genötigt, zu übersetzen: „Der Busfahrer heißt Herbert Richter. Steht so schon seit Jahren auf dem Namensschild.“
„Keine Ahnung, wie der Busfahrer heißt.“, murrte sie und funkelte Markus giftig an.
„Herbert Richter.“, sagte Markus gedehnt. „Weltbekannter Saufkopf und Verschwörungstheoretiker. Solltest mal mit den Menschen in deiner nächsten Umgebung ein paar Worte reden, Miss Sofie. Am Ende entpuppt sich dein Chauffeur noch als Mensch, auch wenn er so schwarz ist wie mein Morgenkaffee.“
Silvy hatte sichtbar Lust darauf, auf Markus zuzuspringen und ihm eine runterzuhauen.
Stattdessen brachte Sven ihn mit einer Handbewegung dazu, sich aus dem Gespräch zurückzuziehen.
„Der werte Herr Richter ist bekannt dafür, jedes Wochenende im kurzen Eck einen langen Abend zu verbringen. Wir waren gestern auch dort und wir sind dort gewesen bis gegen zwei Uhr heut Morgen. Da saß Richter immer noch bei guter Stimmung an der Theke, wenn du verstehst.“, unnötigerweise unterstrich er „bei guter Stimmung“ mit einer Bewegung, als würde er trinken. Und seine Bruder Arne ergänzte: „Richter war gut drauf gestern. Er war so gesprächig wie lange nicht mehr.“
Silvy verzog das Gesicht und erklärte: „Das kurze Eck ist nicht so ganz mein Laden.“ Aber sie war doch etwas neugierig. Denn anstatt hier das Gespräch abklingen zu lassen, hakte sie nach: „Was sind das denn so für Verschwörungstheorien?“
„Das Übliche.“, meinte Arne. Und Sven zählte auf: „Chemtrails, eine Bundesregierung, die ihr Volk absichtlich verblöden lasse, um das Volk auszubeuten. So was wie Matrix ohne Computer. Läuft alles mit chemischem Druck und sein Lieblingswort ist ‚Gleichschaltung’. Das sagt er ununterbrochen.“
„Wir sind wie ein Volk von Tausenden Alices ohne Kaninchenlöcher.“, rief Markus mit verstellter Stimme. Er wankte, spielte den Besoffenen und sprang dann auf die kalte Metallröhrenbank des Bushäuschens. Laut theatralisierte er den besoffenen Busfahrer:
„Haltet euch fest, Kinners. Wir fahren heute ohne zu drosseln den Berg runter. Direkt über die Hat-Sie-Nicht-Mehr-Allee Richtung Endstation Durchgeknallt. Habt ihr brav eure Alu-Helme angezogen? Paul is Dead, Ladys and Gentlemen! Turn me on, Dead Man und Elvis lebt!“, er breitete die Arme aus und tat, als wolle er sich von der Bank runterstürzen wie von einem Hochhaus. Im letzten Moment und mit wedelnden Armen fing er sich und sah Silvy ernst an: „Das ist deine letzte Chance. Danach gibt es kein zurück. Nimm die blaue Pille – Die Geschichte endet, du wachst in deinem Bett auf und glaubst, was auch immer du glauben willst. Nimm die rote Pille, spül sie mit tausend Gläsern Jacky Coke deinen inneren Bach runter und du bleibst hier im Wunderland und ich werde dir zeigen, wie tief das Kaninchenloch reicht.“
„Du bist ein Fall für die Klapsmühle, Marky.“, sagte Silvy halb wütend, halb amüsiert.
Markus johlte noch, dass er von Aliens entführt werden wollte, weil er wenigstens einmal anal berührt werden wollte, aber Sven erzählte auch weiter:
„Er erzählt eigentlich immer das gleiche. Von irgendwelchen Plänen, die noch zurückgehen bis zu den Rothschilds, und es geht darum, dass es irgendwie zwei Gruppen gibt, die um die Weltherrschaft kämpfen und wir sind die Spielfiguren, die absichtlich im Dunkeln gehalten werden. Ein totaler Nonsens.“
„Ich kann mir nicht mal alle Namen merken, mit denen er so um sich schmeißt: Freimaurer, Templer, Rotarier, Rotschild, … das krasseste waren seine Stories über diese Gruppe Brainbirth oder so ähnlich.“
„B’nai B’rith!“, rief Markus mit düsterer, rauchiger Stimme. Verschwörerisch beugte er sich zu uns runter: „Sie waren die wahre Ursache für den zweiten Weltkrieg. Die Juden haben den Weltkrieg ausgelöst und wir deutsche haben ihn für sie ausgeführt, weil die Rothschilds, die Rothschilds, die Roooothschilds schon 1788 in einer sagenumwobenen Schrift veröffentlichten, wie sie mit Hilfe von drei Weltkriegen die Weltherrschaft erreichen wollten!“, und dann lachte er schallend und sprang wieder zu uns runter. Mit jetzt normaler Stimme sagte er ganz schlicht: „Ein Spinner mit Geschichten, die so dämlich sind, dass selbst du sie dir nicht ausdenken könntest.“, und damit meinte er mich.
„Hast ihm aber gut zugehört.“, warf ich ihm vor.
„Er redet ja von nichts anderem. Und wir haben uns verhalten, wie man sich verhalten muss, wenn man es mit einem Spinner zu tun hat.“
„Ihr habt euch über ihn lustig gemacht.“
Entsetzt schüttelte Markus den Kopf über Silvys Vorwurf. „Wir haben ihm zugehört und haben versucht zu verstehen, was er uns da beibringen möchte.“
„Gestern war er aber anders drauf.“, sagte Arne auf einmal. „Viel ernster.“
„Du meinst, viel verrückter.“, korrigierte Markus.
„Nein, ich mein ernster.“, beharrte Arne. „Hast doch selbst gemerkt, dass Richter immer zur Tür gestarrt hat. Wie einer, der verfolgt wird.“
„Klar wird er verfolgt. Vom Verfassungsschutz, vom BND, von den Juden, von den Rothschilds. Ein Säufer darf doch nicht einfach so dummes Geschwätz von sich geben.“
„Aus seiner Perspektive wird er sich wohl wirklich verfolgt fühlen. Wie einer, der die Wahrheit ausspricht, die niemand hören darf.“, vermutete ich, weil ich so was ähnliches wie Mitleid für Richter empfand. Mochte er spinnen, so viel wie er wollte. Aber als Busfahrer war er immer nett und höflich.
Und nüchtern.
„Brr.“, machte Silvy. „Und so einer fährt kleine Kinder zur Schule.“
„Meinst du dich oder mich damit?“, grinste Markus.
„Da kommt er. Also hört auf!“, sagte Sven und tatsächlich:
Der Bus kam durch auf uns zugefahren mit nur einem rechts funktionierenden Licht. Er tuckerte gemächlich zu uns heran und quietschend gingen die Türen auf. Richter saß mit geschwollenen Augen hinterm Lenkrad.
„Immer rein mit euch.“, röhrte er. „Hab n bisschen Verspätung. Also lasst uns nicht lange trödeln.“
Wir stiegen ein. Ich hörte Markus und die Keller Zwillinge lachend nach hinten gehen. Wahrscheinlich hatte Markus ein paar markige Sprüche gegen Richter gesagt. Ich sah mich nach Silvy um, die Richter unauffällig zu mustern versuchte.
„Alles klar?“, fragte ich sie. Erstaunt sah sie mich an.
Sie flüsterte: „Ich find’s komisch, jetzt wo ich weiß, dass er sie nicht mehr alle hat, dass wir“, die Tür schloss sich quietschend. „Setzt du dich zu mir?“
„Klar.“
Sie fühlte sich unwohl.
Wir waren seit Ewig mit Richter in seinem Bus gefahren. Aber mal ehrlich: wer schaut sich seinen Busfahrer schon genauer an? Auch wenn es jeden Morgen der selbe Typ ist. Zum ersten Mal sah Silvy jetzt in ihm den Säufer, der er war. So als habe jemand einen Schleier vor ihren Augen weggezogen. Sie sah, dass er etwas zittrig und unbeholfen das große Lenkrad drehte um wieder auf die Straße zurückzukommen. Sie sah jede Unebenheit seines Fahrverhaltens, das leichte Schlingern, wenn wir in die Kurven stießen und dass er sich immer wieder mit dem Handrücken über den Mund wischte, so als würde er sabbern.
„Ist er schon immer so?“, fragte sie leise.
„Denke schon.“
Ich folgte ihrem Blick. All die merkwürdigen Aufkleber, die komischen Symbole auf seinem Armaturenbrett: Ein gelbes Lambda in einem Kreis auf schwarzem Grund, ein muskulöser Bogenschütze mit den blauen Buchstaben „B“ und „N“. Ein weißes C in einem roten Kreis. Ein weißer Aufkleber mit den verschlungenen Buchstaben: „Ehre, Freiheit, Vaterland.“ Und ein Uncle Sam, der auf einen zeigte und „Wake Up!“ sagte.
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