Der Zwischenfall im Wald (1)

Wie alles begann; oder: Kinderstreiche

Markus Steiner hatte mit acht diese dämliche Idee, sich ein Bettlaken an den einen Balkongeländerbalken zu knüpfen und sich dann von dort oben runterzuschwingen. Er rief alle seine Freunde zu sich, damit es Zeugen von seinem heroischen Unfug gäbe. Dann wickelte er sich den Stoff der Bettlakenliane um die rechte Faust und nach einer sehr kurzen aber unfassbar stolzen Rede sprang er vom steinernen Geländer und schwebte für einen unsagbar glorreichen Augenblick wie Indiana Jones in der Luft. Mit hochgeröteten Wangen sauste sein kleiner Körper nach unten, wurde von dem Bettlaken tatsächlich für einen Augenblick gehalten, so dass wir alle glaubten, er würde tatsächlich erfolgreich sein. Dann zerrte sein Körpergewicht aber an dem Laken, das wiederum zerrte an dem Balkongeländerbalken. Und der eigentlich doch recht massiv aussehende Stein brach und Markus stürzte zwei Stockwerke tief hinab. Er klatschte wie ein nasser Sack in ein Brombeergestrüpp und wurde zusätzlich von dem auf ihn stürzenden Bettlaken bedeckt. Den größten Schaden aber trug er davon, dass der Stein dann auch noch auf ihn fiel. Er hatte Schrammen im ganzen Gesicht, aber der linke Arm war gebrochen.

Seinen Eltern verriet er, er sei auf der Straße beim Fahrradfahren gestürzt und den Schaden am Balkon übernahm eine Versicherung.

Markus Steiner war für uns in der Burglandstraße der Held. Und als hätte seine Aktion den Startschuss gegeben, begannen von da an die absonderlichen Versuche, den kindlichen Irrsinn auf die Spitze zu treiben.

Wir waren genug Kinder und wo genug Kinder zusammenkommen, da gibt es auch genug irrsinnigen Mist, den man sich einfallen lassen konnte.

Die Keller Zwillinge etwa bauten aus allem möglichen Schrott, den sie dem Lumpenkrämer vom Wagen heruntergestohlen hatten, Rennautos. Sie bauten vier Stück und dann forderten sie wahllos die anderen alle zu Wettrennen heraus. Es wurde ein komplizierter Rennplan entwickelt, wie ein Wettbewerb mit zehn Kinder und vier Rennautos entscheiden würde, wer der beste Rennfahrer sein würde. Aber nach dem ersten Rennen landete Sven Keller mit seinem roten Rennfahrzeug in einem Teich und damit war der Bauer, dem das beste Renngrundstück dieser Erde gehörte aufmerksam auf uns geworden und von da ab hinter uns her. Er ließ sogar einen Zaun bauen und einen Wachhund abrichten. Der Typ hatte schon immer Züge von Verfolgungswahn gehabt. Jetzt lebte er sie offensichtlich an uns aus.

Toni Reichenbach, das wohl hässlichste Mädchen, das man sich vorstellen konnte, veranstaltete einen wirklich üblen Skandal, weil sie die „Spring in den Schweinestall“-Mutprobe erfand du gewann, weil sie die einzige war, die sich wirklich traute, sich von einem Wasserfass auf die Schweine zu stürzen. Ein Mastschwein, das schon einige Schönheitswettbewerbe gewonnen hatte, brach sich dabei die Hüfte und eine schwangere Sau, die auf den Namen Hertha hörte, bekam eine massive Fehlgeburt.

Louis und Jenny gruben einen Tunnel, weil sie glaubten, es gäbe unter der Erde eine unentdeckte Menge Gold. Über Nacht lief das Loch aber voll Wasser und übers Wochenende stürzten der stark besoffene Bürgermeister und seine angeschwippste Affäre dort hinein, wo sie zwar nicht ertranken aber immerhin zwei Scheidungen auf einen Schlag auslösten.

Wir waren eine Generation von Vollidioten, die einfach eine Menge Spaß hatten, ohne dass wir wussten, was wir da alles taten.

Der einzige, der keinen Ärger zu verursachen schien, das war ich. Aber das lag daran, weil man mich brauchte, um die ganzen Scherereien aufzuschreiben. Die Idee kam von Markus Steiner. Als er seinen Bettlaken-Lianen-Stunt plante, hatte er mich früh eingeweiht und von mir verlangt, dass ich alles schriftlich dokumentieren sollte.

„Eine Zeitung!“, hatte er es genannt. „Ich will, dass ich mit dieser Nummer in die Zeitung komme.“

„Welche Zeitung wird über einen Achtjährigen berichten?“, fragte ich zurück. Und seine Antwort war ein simples: „Eben!“ Und seine Augen funkelten und dann erzählte er mir, dass es nur eine einzige Zeitung geben würde, die sich für unsere Kindereien interessierte, nämlich die, die wir selbst gründeten. Ich war also zum Kinderzeitungsredakteur geworden und hatte in diesem Sommer alle Hände voll zu tun. Ich sollte alles aufschreiben, was wir so verbockten. Und Silvy Hinch, meine Nachbarin mit den großen dunklen Augen und den Wimpern, in denen man Träume einfangen konnte, war meine Fotografin.

Als ich fertig war mit der Zeitung hatte ich keine Idee, was ich mit all den Texten anfangen sollte und so naiv ich war, ich fragte meinen Vater. Der las die Dokumentationen aller Scherereien durch und wurde von Text zu Text leichenblass.

„Das geht schief.“, sagte er am Ende. „Was um alles in der Welt … hast du damit vor?“

„Das ist eine Zeitung.“

„Das seh’ ich.“

„Die werden wir wohl beim nächsten Straßenflohmarkt oder beim Dorffest verkaufen.“, die Wahrheit war, dass keiner von uns je darüber gesprochen hatte, was mit meinen Texten geschehen sollte. Ich hatte auch nie nachgefragt und so hatte ich jetzt einfach in Sekunden eine Antwort auf die Frage gefunden, die ich mir selbst noch nie gestellt hatte.

„Ach du Mist.“, meinte mein Vater.

Und dann hätte er viel machen können, ehrlich gesagt. Ich bin mir auch sicher, dass er über alle Varianten nachgedacht hatte. Er könnte mich und meine Freunde verpfeifen. Er könnte mich bestrafen für all das, was die andern getan hatte, weil er ja eben nur mein Vater war und nicht der von den andern. Er konnte zur Polizei gehen. Zu den andern Eltern. Oder:

„Ich sag dir, was wir machen. Wir müssen das hier überarbeiten.“

„Ist es nicht gut?“

„Es ist zu gut.“, erklärte er mir. Und dann sagte er mir, was passieren würde, wenn ich das hier so verkaufen würde. Er erzählte mir von dem Ärger, den wir alle bekommen würden für gebuddelte Löcher, gebrochene Schweinshüften und Bürgermeisterscheidungen. Was ein paranoider Bauer mit Elektrozaun und Wachhund mit uns anstellen könnte, was eine Versicherung tun würde und warum ich, als derjenige, der alle den Ärger verursachen würde, wahrscheinlich zusätzlich noch der Dumme und Ausgestoßene im ganzen Dorf wäre und warum kein Kind mehr mit mir spielen würde.

„Aber wir haben uns doch so viel Mühe gegeben!“, war der letzte klägliche Versuch, mit meinen Enttäuschungen klarzukommen. Ich hatte wirklich verdammt viel Mühe in diese Zeitung investiert. Dass jetzt alles kaputt sein würde, weil ich an der Realität scheitern würde, das gefiel mir natürlich überhaupt nicht.

Also setzte sich mein Vater hin und tat das einzig coole: Er brachte mir bei, wie ich die Geschichten erzählen konnte, ohne sie direkt zu erzählen.

Aus Markus Steiner Geschichte wurde tatsächlich eine Fantasieerzählung eines Jungen, der im Dschungel aufwuchs und mit einer Liane von einem ausbrechenden Vulkan herunter sprang.

Beim Wettretten machten wir aus den Seifenkisten (das war ein Wort meines Vaters, das ich nicht kannte, aber ich schätzte, es bedeutete „selbstgebautes Rennauto“) selbstgebaute Fahrräder. Aus dem Bauernhof machten wir eine Industriehalle und aus dem Teich machten wir einen Stausee. Nach diesem Prinzip wollten wir auch die Geschichte mit Toni und dem Sprung in den Schweinestall verändern. Aber das erwies sich als schwieriger, weil die Situation so „einzigartig dämlich“ war, wie mein Vater sagte. Ich machte aus den Schweinen erstmal ein anderes Tier, aber damit war die Geschichte immer noch kenntlich und dass ich statt von Toni von einer ausgedachten Anja sprach, meinte mein Vater, mache es noch nicht besser, weil meine Beschreibung sehr eindeutig zuzuordnen sei.

„Und was jetzt?“, fragte ich.

„Jetzt müssen wir ablenken.“

Er markierte in meinem Text die Passage, in der ich den Schweinekober beschrieb und das ganze Bauernhaus und die Atmosphäre des Tages. Dann sagte er, ich solle ein ganz anderes Haus beschreiben. Aber das war nicht so einfach getan wie gesagt. Es fiel mir schwer über ein anderes Haus zu schreiben, weil mir die Fantasie dafür fehlte.

Am nächsten Tag und nachdem mein Vater sieben verschiedene, hundsmiserabele Versuche gelesen hatte, packte er mich kurzerhand ins Auto und wir fuhren drei Stunden lang irgendwo hin. In ein Dorf, dessen Namen ich noch nie gehört hatte und von dem mein Vater sagte: Niemand habe je von diesem Dorf gehört. Dort suchten wir ein x-beliebiges Haus und er sagte, ich soll einfach dieses Haus beschreiben. Wir gingen sogar hin, läuteten an der Tür und taten, wir hätten uns verfahren und ich müsse mal auf die Toilette. Am Ende hatte ich einen Text, bei dem ich sogar den Namen der fremden Familie übernehmen, das dunkle Wohnzimmer mit den Husselfiguren beschreiben konnte und die Idee umsetzte, aus Schweinen Hühner zu machen. Ich schrieb die Geschichte so um, dass meine Anja in den Hühnerstall stürzte und dabei die Tiere unter sich allesamt zerdrückte, dass etliche Eier zerbrachen und Anja nachher so aussah wie ein missratenes Omelett mit Federn. Als Grund für den Sprung gab ich eine Mutprobe an. Trotzdem blieb es die furchtbarste Geschichte, weil es auch die furchtbarste Geschichte war, die wir angestellt hatten.

Zu guter Letzt hatte ich also dank meines Vaters Einfluss eine vernünftige Zeitung mit Geschichten, die allesamt irgendwie der Wahrheit entsprachen, bei denen wir aber sicher waren, dass kein Erwachsener unseres Dorfes erraten würde, was es tatsächlich damit auf sich hatte. Es waren Geschichten, die für die Erwachsenen so rüberkamen, als wäre ich ein fantasiebegabter junger Schriftsteller mit Erzähltalent. Dabei würden meine Freunde aber voller Stolz sich selbst darin entdecken und mich dafür loben, dass ich alles so wunderbar dokumentiert hätte.

Jetzt war das große Problem, dass Silvys Fotos nicht mehr passten. Wir wählten gemeinsam die schlechtesten Bilder aus: verwackelte Aufnahmen, die mit viel Fantasie sowohl zu unseren Geschichten als auch zur Realität passten.

Am Ende verkauften wir verdammt viele Ausgaben der Zeitung.

Den einzigen Ärger, den ich einfuhr, war, weil ich die Sache ohne Erlaubnis verkaufte und damit konnte ich leben.

Ich war so stolz auf mein Ergebnis, dass mir zwei Dinge bewusst wurden: Ohne meinen Vater hätte ich statt Erfolg eine Menge Ärger und wahrscheinlich ein beschissenes Folgejahr erlebt. Und zweitens: Ich wollte dieses Gefühl mein Leben lang immer wieder und wieder haben: ich wollte Schriftsteller werden. Von da an begann ich zu schreiben, was ich erlebte. Aber immer so, dass es echt war, aber nicht wahr. Verstehen Sie, was ich meine?

 

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