Ich wollte in dieser Woche eigentlich keine Suppe mehr.
Mein Gewissen war genug beruhigt.
Aber manche Krankheiten sind widerborstiger als man sich das wünscht. Vier Tage vor dem angekündigten Besuch hatten die Viren sich bei uns bereits eingenistet und nach und nach jedes einzelne Kind und schließlich auch die Erwachsenen recht streitbar und standhaft überfallen. Jetzt war der zweitägige Besuch vorbei und vier Tage später lebten in unserem Haus immer noch zu viele Krankheitserreger.
Wir schwelgten in der Erinnerung, wie gut doch am letzten Wochenende das Essen gelungen war – wenn es auch Rinderbrühe hatte sein müssen – und wie nahrhaft, moralisch wertvoll ‚echt’ und vor allem wie gesund dieselbe doch gewesen war, als uns der Gedanke kam, dass in unserer Tiefkühltruhe noch drei falsche Suppenhühner auf uns warteten.
Bis jetzt hatte ich die Frage verdrängt, was der Unterschied zwischen einem als Suppenhuhn etikettierten Huhn und einem Tiefkühlhuhn sein mochte. Streng genommen war es natürlich klar, dass ein Huhn ein Huhn war. Und alles, was ich von meiner Frau erfuhr, beschränkte sich auf die Tatsache, dass ich das Huhn vor dem lösenden Bade gut waschen sollte.
„Ich wasche Essen grundsätzlich, bevor ich es zubereite“, konterte ich.
„Wasch es gut.“, sagte sie und als ich nicht verstand, was sie wollte, sagte sie es ein drittes Mal: „Wasch es gut.“
Dann blieb ich allein in der Küche zurück und löste die Plastikhaut von dem gefrorenen Geflügelklotz. Ich witzelte, dass sich das komisch anfühle, diese enge Plastikhaut von dem rosigen Fleisch zu schälen.
„Es sieht aus als ob ich einer Domina helfe, den Lack auszuziehen.“
Ich bekam keine Antwort, entweder weil sie mich nicht mehr hörte, oder weil es nichts gab, was man meinen dummen Sprüchen antworten konnte.
Nur so zum Spaß ließ ich an den Schenkelspitzen das Plastik ein wenig stehen und legte den Kopf schräg: ja, ein wenig erinnerte das Plastik dort jetzt an Stiefelchen und grundsätzlich erinnerte mich dieses formvollendete Suppenhuhn an eine Domina. Keine Ahnung, was diese Assoziation auslöste. Ich begann jedenfalls das Tier zu schrubben.
Ich rieb über die pockige Haut und ließ das warme Wasser großzügig darüber laufen. Ich bedauerte derweil, nie in meinem Leben Jamie Oliver gesehen zu haben und dabei erfahren zu haben, wie man eine Zwiebel richtig schneidet oder ein Suppenhuhn
(es ist kein echtes Suppenhuhn. Es ist ein Tiefkühlhuhn!)
wäscht.
Die Haptik von rohem Fleisch gefällt mir grundsätzlich nicht. Ich kann jeden verstehen, der von Hühnchenwaschen zum Vegetarier wird. Ich kann aber auch Leute verstehen, die da gar nichts dabei empfinden und deshalb reiße ich mich zusammen und wasche brav und ordentlich weiter.
Wenn auch nicht lange. Denn mein Blick fällt auf einen glänzenden Fleck. Und als ich genauer hinsehe …
„Schatz.“, rufe ich.
„Was?“
„Erinnerst du dich, dass wir uns gefragt haben, ob es einen Unterschied gibt zwischen einem Suppenhuhn und einem Tiefkühlhuhn?“
„Nein.“, sagt sie wahrheitsgemäß.
Ich ignoriere das: „Ich weiß es jetzt.“
Sie steckt den Kopf rein, weil sie doch ein wenig neugierig ist.
„Die Innereien.“, sage ich.
„Klar.“, sagt sie und geht wieder.
„Was mach ich mit denen?“
„Wirf sie weg. Wir essen keine Innereien. Oder willst du sie? … Herz, Leber, Nieren …“
„Um keinen Preis der Welt!“, sage ich bestimmt.
„Also denn: raus damit und wegwerfen.“
„Wie?“
„Was meinst du mit wie?“, will sie wissen. Sie klingt etwas genervt. Eigentlich ist sie ja die Kranke. Sie braucht ihre Ruhe. Und ich hatte ihr versprochen, dass ich mich um sie kümmere. Zu jeder ordentlichen Pflege gehört ein ordentliches InRuheLassen.
„Das ist da drin.“, sage ich, was offensichtlich ist.
Und weil es zu offensichtlich ist, geht sie weg und lässt mich im Stich.
Dabei ist hier alles offensichtlich nur eben nicht der Weg. Ich meine: Die Ausgangssituation ist klar und das Ziel. Aber der Vogel ist so steifgefroren und fest, dass man nichts bewegen kann. Die Innereien sind in einer Plastiktüte und die ist im inneren des Vogels an die Innenseite desselben festgefroren.
Kurzerhand biege ich dem Vogel die Schenkel auseinander – versuche es zumindest und komme mit Mühe und Not mit zwei Fingern, Daumen und Zeigefinger hinein. Mein erster Impuls, ist wieder an die Domina zu denken. Und deshalb drehe ich den Vogel kurz hin und her und komme zu dem Ergebnis, dass meine Finger dort stecken, wo eigentlich der Kopf sein müsste. Ich atme erleichtert auf. Aber nur kurz.
Weil sich nichts bewegt muss das Fleisch aufgetaut werden. Und weil ich nun mal am Waschbecken stehe, drehe ich die Temperatur voll auf und beginne das Tier zu duschen.
Ich geh raus, unterhalte mich mit meiner kranken Frau, kehre frustriert wieder zurück, weil sie sich weigert, mir einen Rat zu geben außer „du schaffst das“.
Und dann beginnt die Tortur.
Das Fleisch wird nur langsam weich, die Finger können immer tiefer in die kalte Finsternis des Hühnchenkörpers eindringen und das Plastik ist so dünn gestrickt, dass es jederzeit abzureißen droht, weshalb ich nur die eine Chance habe: Ich muss mit den Fingern so tief rein, dass ich die Tüte von allen Seiten ablösen kann.
„Papa?“
Ich schreie auf und drehe mich um.
„Was?“
Meine Tochter steht da und glotzt mich an. „Ich kann nicht einschlafen.“
„Versuch’s halt.“, sag ich.
„Papa?“
„Ja?“
„Was hast du da auf der Faust stecken?“
„Ein Hühnchen, mein Schatz.“
Sie ist fünf. Zeit für eine ordentliche Portion Schreck am Abend.
„Achso.“, macht sie und geht tatsächlich wieder zurück ins Bett.
Ich stopfe den Vogel in die Mikrowelle. Auftaufunktion. Fünf Minuten.
Natürlich starre ich rein und beobachte den Vogel, wie er sich dreht, weil ich ja sonst nichts zu tun habe.
Dann wieder die Prozedur.
Es ist ein Gefühl, das dich nicht mehr verlässt. Wenn das kalte Fleisch sich langsam schmatzend um deine Finger schließt. Wenn ich mich bemühe, kann ich die Schenkel langsam spreizen.
Ich bin kurz davor, die Unmengen an warmem Wasser, die über den Vogel laufen, auszunutzen und einen Taufvorgang zu beginnen.
„Agathe!“, würde ich dann nämlich sagen (denn ich würde das Tier Agathe taufen), „Agatha, mach die Schenkel breit. Ich will doch nur dein Herz gewinnen.“
Und hinter mir wieder: „Papa!“
Schuldbewusst fahre ich herum und tupfe mir mit der sauberen Hand den Schweiß von der Stirn.
„Klappt immer noch nicht.“
„Mach noch einmal die Spieluhr an, das klappt sonst auch immer, oder?“
„Darf ich im großen Bett schlafen?“, das Elternbett? Klar, warum nicht? Hast uns ja schon angesteckt. Mit den Viren aus dem staatlich geprüften Virenschutzprogram, abgekürzt Kindergarten. Was braucht deine kranke Mutter schon Platz? So ein wenig Nähe, dass man sich kaum noch um die eigene Achse drehen kann, wirkt manchmal wahre Wunder.
Ich sage: „Nein.“
Sie fragt: „Warum?“
„Dein Bettchen ist doch schon warm. Unseres ist kalt. Da liegt ja keiner drin.“
„Auch wieder wahr.“, murmelt sie und taumelt zurück in ihr Bett.
Brav gemacht, denke ich, und wende mich jetzt wieder meinem Feind zu.
Inzwischen komme ich schon mit Zeige- und Mittelfinger ganz tief hinein. Einziger Nachteil: der Flügel ist gebrochen und ein spitzer kleiner Widerhaken hindert mich daran, die Hand wieder so aus dem Hals rauszuziehen, dass ich blessurenfrei bleibe.
„Man glaubt’s ja nicht.“, stöhne ich.
„Was denn?“
Ich schrecke wieder auf und sehe diesmal meine Frau.
„Geh weg!“, schnaube ich.
„Hast du die Faust in das Huhn gesteckt?“
„Da klebt ein Sack drin.“
„Aha.“
„Aus Plastik.“
„Aha.“
„Mit Innereien. Hab ich schon gesagt: dünnes Plastik.“
„Hm.“
„Wer macht so was? Nein im Ernst? Wer steckt einem Vogel einen dünnen Plastiksack mit Innereien in den Körper und friert das ganze dann ein? Gibt es hier einen Trick? Ich meine, irgendwie muss das doch gehen?! Fast hätte ich das Huhn ins heiße Wasser geworfen.“
„Schon aufgetaut?“
„Sogar unter heißem Wasser getauft.“, sage ich und halte ihr die Vogelfaust unter die Nase. „Agathe heißt sie.“
„Warum Agathe?“
„So heißen bei mir Hühner.“, erkläre ich knapp.
„Aufschneiden.“, sagt sie.
Ich starre sie entgeistert an.
„Aufschneiden. Mit einer Hühnchenschere. Die an den Imbissbuden haben so was.“
„Wir aber nicht.“, fauche ich, den Vogel drohend zwischen uns haltend.
„Nimm ein Messer. Aber pass auf. Schneid dich nicht wieder.“
Das war nicht nötig gewesen, denke ich. Und strecke die Faust wieder unters Wasser.
Eine viertel Stunde später gab ich meiner Frau das notwendige Recht und Agathe machte Bekanntschaft mit dem schärfsten anwesenden Küchenmesser.
Als ob der Gott des Gemetzels über uns gefahren wäre, versenkte ich Agathe in der Sud. Sie sah genauso wenig wie ich noch gut aus. Der Sack war nicht geplatzt. Die Innereien schön brav im Mülleimer. Aber das Gefühl auf den Fingern ging nicht weg. Vor allem, weil das viele Wasser die Haut trocken gemacht hatte.
„Nächstes Mal Rinderbrühe.“, gab ich geknirscht von mir, als meine Frau das Ergebnis mit Schweigen bewunderte.
„Zwei.“, sagte sie so sanft es ihre vom Husten gebeutelte Stimme zuließ.
„Zwei was?“, fragte ich.
„Zwei sind noch im Gefrierfach.“, sie küsste mich ins Genick und taumelte ins Bett, wo die Tochter bereits auf sie wartete.
Pingback: Das Suppenhuhn (1/2) | Odeon