Nicht jeder Mensch auf dieser Welt hat Träume.
Ich rede nicht von Hoffnungen oder Sehnsucht. Ich rede von echten Träumen. Den Bildern und Filmen, die einen im Schlaf heimsuchen.
Wer viel träumt, hat in der Regel die Hoffnung, irgendwann einmal diese Träume bestimmen und kontrollieren zu können. Auf der anderen Seite macht es auch einfach nur Spaß, sich dem hinzugeben, was einem das Kleinhirn vor die mitternächtlichen Füße wirft.
Seit Freud besteht das Bedürfnis, Träume zu deuten. Man glaubt ja allgemein, dass der Traum ein Spiegelbild der Seele sei. Und man glaubt, dass man jederzeit zu mir kommen könnte, um mir die Traumgeschichten anzuvertrauen. Immer ist da einer, der mich fragt, was das alles zu bedeuten hat. Als ob ich Psychologie studiert hätte.
Lennart träumt Agententräume.
Er ist ein großer 007-Fan. Er kennt die Automarken und die Gadget-Highlights zu jedem einzelnen Film. Er weiß wie jedes Bondgirl heißt. Wo die Storys spielen und im Gegensatz dazu, wo die Filme in Wahrheit gedreht worden sind. Ich stelle mir ehrlich gesagt vor, dass er jeden Morgen vor seinem Spiegelbild steht und sich selbst fragt: „Na, wen werden wir heute retten, Eure Majestät.“
Die ruhigen Momente bei Lennart sind keine ruhigen Momente.
Er erzählt mir seine Träume zwischen Tür und Angel, in der Unimensa, auf der Autobahn, im Treppenhaus – wenn ich vollgepackt bin mit Einkaufstüten – etc.
Meistens stirbt einer.
Ich meine: in seinen Träumen.
Dann schaut er gequält aus, aber irgendwie auch über sich selbst und seine eigene Fantasie amüsiert.
Einmal erzählte er mir, dass er nachts beobachtet habe, wie eine Frau mit gelockten Haaren sich auf seinem Balkon einen Kopfschuss gab. Er glaubt nicht an Geister, aber er hatte ein ungutes Gefühl. Und so habe er nachschauen wollen. Und er war ehrlich enttäuscht, niemanden auf der Straße liegen gesehen zu haben.
„Du wohnst im vierten Stock.“, antwortete ich.
„Das interessiert meine Träume doch nicht.“
Lennart träumt gerne. Das kann ich super nachvollziehen. Ich liebe es, zu träumen. Da ist einem die Nacht nicht verlorene Zeit. Daher kann ich auch verstehen, dass es ihn ärgert, wenn vierundzwanzig Stunden lang zwei Fußgängerampeln direkt vor der Haustür den Blinden mitteilen, dass sie nicht über die Straße zu gehen haben.
„Warum nachts?“, fragt er entrüstet.
„Weil Blinde auch nachts nichts sehen.“, erwidere ich.
„Aber da fahren doch gar keine Autos.“
„Immerhin genug. Ich meine: eins reicht doch schon um einen Blinden zu überfahren. Der ist nachts genauso tot wie tagsüber.“
Er schaute verärgert drein. Und erneut rutschte die eine Augenbraue nach oben, was ich inzwischen gelernt habe, dass es in Wahrheit das drohende Anzeichen einer Lennart-Geschichte ist.
„Ich habe jedenfalls Schlafprobleme durch das ewige Klopfgeräusch auf der Straße.“
„Du wohnst im vierten Stock.“, sagte ich.
„Ich höre es bis ins Schlafzimmer.“
„Ok, hör zu. Du kannst da nichts machen.“, erwidere ich. „Du wohnst direkt an der Hauptstraße und keine hundert Meter Luftlinie vom Hauptbahnhof entfernt. Du hast von Anfang an gewusst, dass es auch nachts laut sein wird, oder?“
„Die Züge stören mich nicht.“, brummt er. „Die rauschen an einem Stück vorbei. Die Autos sind laut.“, er nickt. Und nach einem kurzen Schweigen: „Aber dieses Signal von der Ampel geht die ganze Nacht. Kann man das irgendwo an der Ampel leiser drehen?“
„Was?“
„Ob da ein Lautstärkeregler ist.“
„Ich … äh … ich hoffe ehrlich gesagt nicht.“
„Wir bauen gerade Styropormodelle.“, war seine unvermittelte Antwort. Er redete mit mir, so als ob ich gar nicht anwesend wäre oder gar nicht mitreden würde.
„Man kann nichts leiser drehen.“, versuche ich es noch mal. „Hast du schon mal einen Lautstärkeregler an einer Ampel gesehen? Das wäre genauso blöd wie ein Helligkeitsregler.“
„Da ist doch ein Knopf dran. Es wäre doch ok, wenn er nur piepst, wenn es gerade grün ist. Aber nicht dieses ständige Klopfen bei rot und das schnelle Klopfen mit Piepen bei grün. Nachts ist die Fußgängerampel ziemlich lange rot.“
„Dieses Geräusch stört dich wirklich, was? Das ist alles jetzt nicht einfach nur dummes Gerede?“
Er antwortet wieder nur mit der Augenbraue.
„Styropor lässt sich gut in Form schneiden.“
„Wovon redest du?“
„“Ich hab mir extra für das Styropor ein passendes Werkzeug gekauft. Ein heißer Draht. Das Ding war ganz schön teuer.“
„Wow. Nur für ein einziges Seminar mit Styropormodellen?“, auf einen Schlag begreife ich, was das komische Gefühl in meinem Magen zu bedeuten hat. „Lennart?“, frage ich allarmiert. „Was hast du vor?“
„Ich kann damit 3D-Objekte modellieren.“, er zog aus seinem großen Repetoire der Blicke einen, der mich entfernt tatsächlich an James Bond Filme erinnerte. An Blofield.
„Weißt du wo das Signal der Ampeln herkommt?“, fragte er düster.
Betont deutlich machte ich: „Was – hast – du – vor?“
„Ich baue so was wie einen Helm.“, erklärte er mit ruhiger, fester Welterobererstimme. „Dann gehe ich vorm Einschlafen immer runter und stülpe den Helm über die Ampelanlage. Dort drüber, wo das Signal rauskommt. Es sind vier Ampeln. Aber an das Styropor komm ich ganz günstig dran.“
Es dauerte eine Weile, bis ich das Bild soweit aus meinem Kopf verdrängen konnte, um wieder Worte zu finden, die dazu ausgelegt waren, ihn davon abzubringen, diesen Unfug zu treiben.
Am Ende jedenfalls meinte er: „Aber einen Helm darf ich mir doch machen?“
„Einen Helm?“
Er hielt sich die Ohren zu. Und jetzt wirkte er ganz erschöpft. Wie einer, der schon seit Jahren nicht mehr geschlafen hat. Wehleidig verkündete er: „Dabei will ich doch einfach nur schlafen.“
Es ist ja nicht so, als ob er der einzige Mensch auf der Welt wäre, der Blödsinn im Kopf hat. Nur hat sein Blödsinn Methode. Er ist Architekturstudent, und gar nicht mal schlecht ist er. Mit der größten Konzentration, die er selbst „Sorgfalt“ nennt, arbeitete er an seinen Modellen. Dabei musste er in den ersten Semestern einen eigenen Rhythmus finden. Wer auch immer gesagt hat, dass Fleiß ein Garant für Erfolg ist, der muss sich eines Besseren belehren lassen. Fleiß kann durchaus hemmend sein. Etwa, wenn ein Modell entworfen werden muss, um zu erkennen, ob der Student ästhetisches Raumgefühl hat – Ordnen Sie drei Quader in der Farbe ihrer Wahl auf einem kleinen Platz an und dann lassen Sie mich bewerten, ob das gut aussieht! – und ein Student anschließend drei Modelle präsentiert, weil er sich nicht einig war, welches die beste Variante darstellen mag. Eine solche Art von Fleiß hindert den Architekturstudenten bisweilen seinen Tag auf die übrigen Kurse zu konzentrieren, die ja noch recht zahlreich und energiebedürftig auf ihre eigene Vollendung harren.
Nichtsdestotrotz hat Lennart ein ästhetisches Raumgefühl. Er ist kreativ. Und er war und ist im höchsten Maße – und das meine ich jetzt als Kompliment – verbissen, diese Kreativität an den Tag zu fördern, so wie man das auch mit Rohdiamanten macht, und sie anschließend dahingehend poliert, dass es die strahlendste Tugend des Lennart sein wird.
Ich sagte es an anderer Stelle bereits, und ich bin nur allzubereit es hier wieder zu wiederholen: Neugierige und wissbegierige Menschen sind mit die liebsten. Nicht etwa, weil die sich wahrhaftig etwas sagen lassen, sondern, weil sie ernsthafte Fragen stellen und nicht weglaufen, noch ehe die Antwort ausformuliert ist.
Bei Lennart gehört zur Kreativität gottlob sei Dank die Tugend der Neugierde. Damit prägt er seine Kreativität. Übereifrig lernt er an der Architekturtheorie, interessiert sich aber im gleichen Maß für die Kenntnisse anderer. Daher war es auch naheliegend für ihn, sich dem Baustellenarbeiter zu nähern, der ein paar Wochen nach Vollendung seines Helms gerade an eben jener besagten Ampelanlage hantierte, die ihn Nacht für Nacht vom seligen Träumen abhielt.
„Kann man hier die Lautstärke irgendwo regulieren?“, war ganz sicher seine erste Frage. Und weil er so naiv und unschuldig dreinzuschauen versteht, war der Arbeiter auch ganz bestimmt stolz darauf, als Fachmann für Lennart auserkoren zu sein.
Als er mir dann später in der Mensa berichtete, dass es doch einen Lautstärkeregulierer gab, jedoch im Innern der Vorrichtung, bekam ich es mit der Angst zu tun.
„Du willst doch nicht heute Nacht das Gerät abschrauben und es leise drehen?“
„Nein“, winkte er ab. „Mir hat der Arbeiter erklärt, dass es eine gesetzliche Vorschrift gibt, wie Laut Ampeln sein dürfen, besser gesagt: müssen. Ganz bestimmt gibt es da auch eine DIN, die es verbietet, die ganze Nacht über Krach zu machen. Ich habe den Mann auch gefragt, wo man so eine DIN finden kann.“
„Und?“
„Ich hätte früher fragen müssen. Nach einer Stunde war er ziemlich wütend auf mich und hat mir nicht mehr geantwortet.“
Ich blickte vom Essen auf.
„Nach einer Stunde was?“
„Ich will wissen, wie so eine Ampel funktioniert.“, sagte er gequält. „Was machst du heute Mittag?“
„Ich fahre ins Saarland.“, erklärte ich ihm. Er wirkte traurig. „Dann werde ich allein aufs Amt müssen. Ich finde diese DIN!“, er wirkte sehr zuversichtlich.
Und er fand sie.
„Die war super schwer im Archiv zu finden. Hättest du gedacht, dass ich der erste bin, der nach einer Ampellautstärkenverordnung fragt?“
„Was machst du jetzt mit deiner DIN?“, wollte ich wissen.
Er zuckte die Achseln.
„Na was, jetzt sag schon?“
„Ach weißt du, man gewöhnt sich an den Lärm da unten. Wenn Fußballspiele in der Stadt sind, schalten die sogar die ganze Ampelanlage übers Wochenende aus. Da haben die alle Ampeln einfach abgestellt. Und ich kann in Ruhe schlafen.“
Die Blinden müssen bei Fußballspielen also zu Hause bleiben. Sonst werden sie überfahren.
und dann? was hat er denn dann mit dem helm gemacht? nicht übergestülpt?
In voller Wahrheit weiß ich es gar nicht mehr. 😆 ich glaube er hat begonnen, ihn sich selbst anzuziehen und festgestellt, dass man mit helm gar nicht gut schlafen kann.