Der Ekel – Essay

Nietzsche schrieb in Jenseits von Gut und Böse: „Der Ekel vor dem Schmutze kann so groß sein, dass er uns hindert, uns zu reinigen“.

Ja, diese Art von Ekel kann lähmend sein. Selbst das Abwaschen des Schmutzes verursacht uns Widerwille. Das ist perfekte Zwickmühle, nicht wahr? Einerseits ekeln wir uns vor uns selbst, weil dieser Schmutz sich ausgerechnet an uns festhält. Andererseits werden wir ihn nicht los, weil wir ihn berühren müssen, um ihn abzustreifen. Natürlich sprechen Nietzsche und ich nicht von echtem Schmutz. Der ist selbstverständlich metaphorisch gemeint. Schmutz wird moralisch übersetzt und mit allen Gefühlen verstanden, die sich einstellen, kaum dass wir gegen unser Gewissen gehandelt haben. Wer gegen sein eigenes Gewissen handelt, der beschmutzt sich und der widert sich selbst an. Der ekelt sich vor dem, was die Übeltat in einem hinterlassen hat fast noch mehr als vor der Übeltat selbst. Ja, manchmal da kann der Schmutz so groß sein, dass er einen Ekel hervorruft, der noch größer ist als das ungebändigte Verlangen, uns zu reinigen.

Dabei ignorieren wir vor lauter Schmutz an uns, dass der ja irgendwo her kommt. Dass wir eigentlich selbst verantwortlich sind für das, was uns den Selbstekel beschert hat. Wir zeigen im Angesicht unseres Gewissens nicht mit dem Finger auf die eigentliche Verantwortung, sondern nur auf die Konsequenzen. Das ist eine so urtümliche Eigenart der Menschen, als ob es ihm biologisch eingeschrieben wäre, nie den Blick auf die Wahrheit zu richten, sondern immer nur knapp daran vorbei.

Ich erinnere mich an meinen Biologieunterricht in der 6. Klasse. Wir behandelten das menschliche Auge und zur Sprache kam der berühmte „blinde Fleck“. Unsere Lehrerin erklärte uns, dass dieser blinde Flecke genau im Zentrum unseres Sehens läge. Wenn wir zum Beispiel Nachts den Sternenhimmel beobachten wollten und unseren Blick exakt auf einen einzigen Stern fokussierten, dann würde dieser stecknadelkopfgroße Lichtpunkt genau in diesen blinden Fleck fallen und je mehr wir uns auch anstrengten, umso unsichtbarer und unkenntlicher würde der Stern für uns werden. Wollte man einen Stern fokussieren, so müsse man genau an ihm vorbei sehen. Knapp daneben und dann, sozusagen wie im Nebenbei, würde der Stern uns sichtbar werden.

Ich erinnere mich, dass ich fragte, ob man dann überhaupt jemals einen Stern ganz genau sehen könnte (eine unsinnige Frage, wohlgemerkt, weil sie nur wiederholte, was eigentlich erklärt worden war). Und ich erinnere mich an die Antwort. Sie sagte nämlich mit ganz ernster Stimme: „Die Wahrheit kann man als Mensch immer nur sehen, wenn man daran vorbei schaut.“

Ich erinnere mich deshalb so gut an die Worte, weil ich es ein Jahr später versucht hatte, als langsam ein Teenager aus mir wurde und ich die Wahrheit hinter der jungen Liebe verstehen wollte. Ich versuchte angestrengt, an den Gefühlen vorbei zu sehen, damit ich sie wie vom Rand aus betrachten könnte. Und ich versuchte mich selbst, wenn ich in den Spiegel sah, dadurch zu betrachten, dass ich an mir vorbei schaute.

Ich versuchte durch den Blick an dem Eigentlichen vorbei, das Wirkliche hinter den Dingen genau in den Blick zu kriegen. Und das war wirklich ein merkwürdiges Kunststück. Ich hielt es Jahrelang für eine außergewöhnliche Idee, eine, die mir eigen war und sonst niemandem. Bis ich eines Tages wie durch Zufall bemerkte, dass das eine große Illusion war. Wenn es um einen selbst ging oder um Verantwortung oder um Schuld, dann sahen eigentliche alle immer nur an der Wahrheit vorbei. Es ist für alle viel leichter, Fehler im Irgendwo zu finden, nur nicht bei sich selbst. Es ist viel leichter, Hass gegen die anderen zu empfinden, weil man sonst sich selbst in den Fokus richten müsste. Es ist viel zu leicht, Angst und Fluchtbedürfnis gegen Gewalt und Angriffslust zu vertauschen, weil man dann einfach an der eigenen Entscheidung vorbeistarren kann und an dem Schmutz, den man sich selbst auferlegt und dem Ekel über genau diese Tatsache.

Das an den Dingen vorbeisehen, das befreit einen vor dem Ekel. Aber nicht vor dem Schmutz. Das Übermaß an Ekel richtet den eigenen Blick neu aus. Es verschiebt den Blick so weit, bis die Wahrheit im blinden Fleck landet und das Ekelgefühl und das schlechte Gewissen sich in Wohlgefallen auflöst.

Nietzsches Aphorismus geht noch um drei Worte weiter. Er schreibt ja, dass der Ekel uns hindern kann, uns zu reinigen. Anstatt aber von diesen Hinderungs-Mechanismen zu sprechen, benennt er ganz klar, was die Reinigung in dieser Metapher wäre. Er ergänzt:

„uns zu ‚rechtfertigen’“.

Und wenn der Schmutz so groß ist, dass der Ekel uns lähmt, dann ist es gleichgültig, ob es eine Selbst-Rechtfertigung ist, an die er denkt, oder die Rechtfertigung vor den anderen.

Bemerkenswert, dass heutzutage die Rechtfertigungen auf dem Rückmarsch sind. Das deutet auf sehr viel Schmutz hin. Und sehr viel Ekel.

Was sagt ihr dazu?