Der Siebte Himmel (1/2)

 

Das Licht im Siebten Himmel wurde heruntergedreht, bis es gerade hell genug war. Die runde Bühne wurde durch ein separates Licht beleuchtet; das deutlichste davon waren LED-Schläuche, die von zwei Säulen herabhingen. Außerdem brannten auf den meisten Tischen warme Windlichter.

Die Atmosphäre war entspannt. Als Jess ihren Gitarrenkoffer öffnete, verebbte ganz langsam die Geräuschkulisse im Raum. Die meisten Gäste hatten Weingläser vor sich stehen. Ein paar wenige hatten in den letzten Minuten noch etwas zu Essen bestellt. Jess selbst bekam noch ein Bier gebracht. Die Bedienung fragte sie noch: „Sonst alles okay?“

„Alles gut, danke!“, murmelte Jess. Die Gitarre schmiegte sich an sie heran und ihre Finger legten sich wie von selbst an die Saiten.

Das ist mein ältester Begleiter, dachte sie und lächelte sanftmütig. Ins Mikrofon sprach sie: „Schön, dass ihr alle gekommen seid.“, mehr brauchte es ihrer Meinung nach nicht für eine ordentliche Begrüßung.

Sie schaltete den Verstärker ein und spielte Trouble I’ve had all my Days als Opener:

 

Trouble, had it all my days
Trouble, had it all my days
Seem like trouble, carry me to my crave.

 

My Momma told me, before I left her door
Lord, Momma told me
Gonna have trouble, Girl every where you go.

 

Ihre Stimme schlug einen sehr milden Ton an. Es klang versöhnlich und überhaupt nicht wie das böse Mädchen, das man vom Text hätte erwarten können. Sie verstand den Song immer wie der Song einer Missverstandenen, eine, die immer alles richtig machen wollte, und der die Welt das nicht gönnte.

Der anschließende Applaus verriet, dass ihr Publikum Gefallen an ihren Songs hatte. Sie waren natürlich nicht frenetisch, das war von einem so sanften Opener auch nicht zu erwarten. Aber in den Blicken konnte Jess ablesen, dass ihr Funke übergeschlagen war.

Sie spielte jetzt seit sieben Jahren Gitarre. Seit vier Jahren stand – oder besser: saß – sie auf Bühnen wie dieser. Vier Jahre Gelegenheitsauftritte hatten ihr die nötige Ruhe gegeben und sie von jeglichem Lampenfieber geheilt.

Wie hatte Beiderbeck damals gesagt: Das ist keine lange Zeit, die du da spielst, aber hey, du klingst, als wärst du mit der Gitarre zur Welt gekommen.

Während sie sich beim Publikum für das Zuhören und den Applaus bedankte, suchte sie die Reihen ab, ob Beiderbeck irgendwo zu sehen wäre. Beiderbeck, Jess nannte ihn Bix, war der einzige, den zu sehen sie heut abend ehrlich gefreut hätte. Statt dessen sah sie aber nur unbekannte Gesichter. Und deshalb entschied sie sich spontan dafür, See that my Grave is kept clean zu spielen. Sie begann aber mit der dritten Strophe: „Did you ever hear that coffin sound? It means, that there’s another poor boy down in the ground.“

Mal sehen, dachte sie, wo uns der Abend noch hinführt.

Die Woche hatte ja alles andere als gut begonnen. Steven, nennen wir ihn mal ihren Manager, aber streng genommen gibt es kein Wort, das ausdrücken kann, was Steven für sie immer gewesen ist; Steven hatte ihr gesagt, dass er aufhören wollte. Mit eigentlich allem. Grund seien die derzeitigen „Herausforderungen in der Familie“. Und damit allein und mit der daraus folgenden Enttäuschung, ihren langjährigen Freund und Begleiter in der Musik verlieren zu müssen, hätte sie ja noch umgehen können. Aber als sie ihm mehrfach antwortete, dass sie es trotzdem nicht ganz verstehen könne, hatte er gesagt: „Du verstehst das nicht. Du singst vielleicht zu viel vom Tod. Wenn du dich stärker mit dem Leben beschäftigen würdest, könntest du es vielleicht verstehen, JJ.“

„Tut mir leid, dass ich nicht so scheiße klug bin wie du.“, hatte sie ihm geantwortet und den Dolch damit zu tief in ihre langjährige Freundschaft gestoßen. Sicher, er hatte ihr als Abschiedsgeschenk noch diese letzte Runde an Auftritten besorgt. Aber sein Abschied war jetzt mehr als nur ein „ich mache diese Arbeit nicht mehr“. Es war kein „komm, und lass uns Freunde bleiben.“ Er hatte „Auf wiedersehn, JJ.“, gesagt und sie zum Abschied fest gedrückt. Aber eigentlich war es ein Lebwohl gewesen und JJ wusste nicht, ob sie ihn überhaupt noch einmal wiedersehen würde.

Welche Geschichte wird’s heute, Jess? Erzählst du uns von Casey Jones’ Tod beim großen Zugunglück in Vaughan, Mississippi und wie er mit der Hand an der Bremse im Führerhaus starb aber dabei allen anderen Passagieren das Leben rettete?

Sie sah auf. Im Publikum saßen vorwiegend alte Leute. Die Sorte, die abends ausging, wann immer im Dorf etwas gespielt wurde. Direkt am Tisch vor ihr, saß ein alter Mann mit viel zu weit geöffneten Brustknöpfen am Hemd. Er hatte sich weit zurückgelehnt und den linken Arm um seine Begleiterin geschlungen. Sie war eine vorgebeugte, alte Dame mit grauen Haaren und robuster Statur, ein stahlkaltes Blitzen in den Augen aber zugleich ein sehr breites Lächeln auf glänzenden, vollen Lippen. Das genaue Gegenteil von Leuten wie Steven und Beiderbeck, dachte Jess und schloss die Augen.

Welche Geschichte? Eine von mir. Bin grad so in der Stimmung.

Und was gibt es privateres als eine Gruppe von alten Menschen, die du nur an diesem einen Abend zu sehen bekommst.

Once – and that’s it.

„Ich war zwanzig als ich den ersten echten Bluessong hörte.“, begann sie. Dass man keine langen Umschweife und Einleitungen zu machen hatte, war auch etwas, was sie vom Blues gelernt hatte. „Ich würd gerne andere Wörter benutzen, glauben Sie mir, aber es war ein echt beschissener Tag gewesen. Jeder, der mich heutzutage kennt, wird mir das nicht glauben, aber damals war ich verlobt, fest gebunden in einer Beziehung, die so fest war, als hätte man den Verlobungsring um den Hals gelegt anstatt an den Finger. Mein Freund – nennen wir ihn“, sie dachte kurz nach, dann dachte sie scheiß drauf und nahm den erstbesten Namen, der ihr einfiel: „nennen wir ihn Steven, mein Freund war drogenabhängig. Natürlich nicht von Anfang an. Als ich ihn kennenlernte, hatte er mit Drogen nichts am Hut. Aber es stellte sich heraus, dass er die Sache nur auf Pause gestellt hatte. Ich rede übrigens von Marihuana.“, ergänzte sie und räusperte sich. Ihr war immer bewusst, dass die Dinge, über die sie sprach, meistens Dinge von einer Welt waren, in der keiner ihrer Zuhörer je gelebt hatte. Das machte die Sache leichter. Sie konnte die Dinge beim Namen nennen und gleichzeitig war es nicht mehr, als die Geschichte aus einer anderen Welt. Ganz so, als hätte sie mit den Worten begonnen „Es war einmal“. Ihr Leben war für Leute wie die hier, nichts als ein Märchen. Ein düster klingendes aber doch weit, weit von der Realität entferntes Märchen. „Die Leute glauben, dass das eine sanfte Droge ist, und die Leute, die es nehmen, halten sich vor dem Wort ‚Drogen’ gern den Bauch vor Lachen, weil das, was sie tun, etwas Sanftes ist, versteht ihr? Man raucht ein wenig und wird ruhig gestellt, zufrieden und vielleicht etwas albern. Man wird nicht aggressiv, das Leben treibt an einem vorbei.“, ganz wie von selbst hatten ihre Finger begonnen, einen Blues-Rhythmus zu spielen. „Das ist harmlos. Wenn man nur endgültig davon loskommen würde. Ich glaube, dass es da so einen Punkt gibt, wissen Sie? Wenn der Kiffer diesen Punkt erreicht oder überschreitet, dann übergibt er die komplette Kontrolle an den Rauch. Mein Steven sagte dazu: Der Rauch schlägt seine Krallen in deinen Kopf. Nach ein paar Jahren verliert man seine Konzentration, man wird fahrig, beginnt zu zittern. Man ist einer der lebenden Toten. Und das war mein Steven. Und ich war so dumm, es ein paar Jahre lang nicht zu merken. As ich irgendwann merkte, wie krank er und unsere Beziehung waren, war es vielleicht sogar schon zu spät.“, die Gitarre hatte eine kleine Melodie begonnen. „Übrigens war nicht ich es, die die Sache beendete. Er entschied sich dafür, mich für seine Geliebte fallenzulassen. Seine Geliebte war der Rauch. Er konnte da eigentlich nicht mal etwas dafür. Wie er selbst sagte: Der Rauch schlägt seine Krallen in deinen Willen.“

Don’t you mind, people grinning in your face
Don’t you mind, people grinning in your face
You just bear this in mind, a true friend is hard to find.
Don’t you mind, people grinning in your face

Sie hatte keine Tränen in den Augen, aber genug Bitterkeit in der Stimme. Sie spürte, dass ihr das Publikum an den Lippen hing und den Sound und die Worte in sich einsogen. So, wie es sein sollte.

„Das sind deine Geschichten.“, hatte Steven ihr gesagt. „Erzähl um Gottes Willen immer deine Geschichten.“

Es tat weh, seine Stimme in ihrer Erinnerung zu hören. Ganz gleich, was sie zu ihm gesagt hatte, mit ihm zu brechen, war vielleicht der größte Fehler ihres Lebens gewesen.

„Du hast die größte Scheiße erlebt und den größten Glammer. Man kann ja wirklich sagen, was man will, JJ, aber dein Leben war geil.“

„Nein, Steven, ich hatte einfach nur von allem das beste. Vom der Asche und vom Konfetti.“

Jess zwang sich zu einem Lächeln und beendete ihre Geschichte, während die Gitarre den Song einfach weiterspielte.

Drüben an der Bar, wo sowieso nicht so viel Platz war, zwängte sich jemand zwischen die schon Sitzenden und brachte einen kurzen Moment Unruhe ins Publikum. Das erste, was sie dachte, war: „Lass diesen Typen nicht in mein Haus, dem folgen die Fliegen!“, weil das so ein Spruch war, wie ihn Beiderbeck gesagt hätte, da war sie sich sicher.

Ein krummer, stämmiger Rücken, der in eine viel zu enge Lederjacke gepresst war. Oben drauf steckte ein stämmiger Hals. Der Kopf war mit klebrigen, schulterlangen Haaren verziert. Der Typ sah so aus, als wär er sein Leben lang durch den Regen gelaufen. Und doch hatte er auf seinen bleichen Lippen ein geradezu selbstzufriedenes Grinsen.

So genau war er von hier aus nicht zu erkennen. Aber er sah nach Ärger aus. Wie einer der Typen aus einem Johnny Cash Song, der mit dem letzten Akkord den ganzen Laden zusammengeschlagen hatte.

Auf ungemein selbstverliebte Art, hing er also da drüben auf dem Hocker und hielt sein Bierglas die ganze Zeit fest, als ob er sich davor schützen wollte, es unvermittelt abgenommen zu bekommen. Dabei lehnte er sich so auf die Theke, dass er Jess ansehen konnte und gleichzeitig nicht den Ausgang in den Rücken bekam. Bequem sah es nicht aus. Aber es schien ihm auch nichts auszumachen. Als die Nummer beendet war, applaudierte er nicht, aber er bleckte die Zähne wie ein Wolf.

„Steven hat übrigens bei mir zu Hause gewohnt und während ich auf der Arbeit war und das Geld für uns verdiente, hat er sich seine Drogen zu uns an die Haustür kommen lassen. Er hat die Deals bei mir auf der Fußmatte abgeschlossen. Er hat mir am Ende geschworen, dass nie ein einziger Dealer auch nur einen Fuß in unsere Wohnung gesetzt hat. Aber er hat das Haus auch nie verlassen müssen dafür. Es gab da so etwas wie ein Lieferservice. Eine Telefonnummer, die er hat anrufen müssen und das Zeug ist zu uns geliefert worden. Ich erinnere mich an die Diskussionen, was eine weiche und was eine harte Droge ist. Aber am Ende sind Drogen das, was dich zum Lügen bringt. Und von Lügen hab ich die Nase echt voll.

Das nächste Lied ist eigentlich so gar nicht mein Stil. Aber mein Manager meint, dass meine Stimme und meine Gitarre so richtig gut zu diesem Lied passen. Also sing ich ihm zu Liebe jetzt das nächste. Auch wenn er heute Abend nicht hier ist.“

Sie begann „Let me stay awhile“ von Waylon Jennings und bemühte sich, dass der Song nicht so schnulzig und countrymäßig klang wie im Original.

Mit einer solchen Nummer im Gepäck musste man sich ja billig und abgedroschen fühlen.

Als sie aber zum Refrain kam, fiel ihr Blick wieder auf diesen Fremden. Und er machte diese Bewegung. Ein kleiner Wink nur mit dem Zeigefinger an der Schläfe.

Sie übersprang einen Vers und wäre fast zu früh in den Refrain gekommen.

Zum Glück hatte sie Erfahrung genug, um mit einem gewinnenden Lächeln und der Wiederholung des letzten Verses, wieder in den Song zurückzufinden.

Was ist los, lachte die Stimme von Bix in ihren Gedanken. So nervös heute? Ist nicht dein Tag, was?

Bix, wo bist du?

Du weißt, wo ich bin. Frische Luft schnappen.

Sie hätte weiß Gott was für frische Luft getan.

Es gibt Tage, an denen du nicht richtig atmen kannst, JJ. Entspann dich einfach. Ist ja nicht so, als ob du Herzschmerzen hättest.

Im Unterschied zu Bix klang Stevens Stimme heute tröstender und teilnahmsvoller. Schon merkwürdig. Beide waren sie nicht hier und trotzdem stellte sich ihr Verstand vor, sie säßen jetzt beide hier bei ihr.

Sieh ihn nicht an, sagte Stevens Stimme zum Beispiel. Aber im selben Augenblick hatte auch Bix etwas zu sagen. Und natürlich war es das genaue Gegenteil: Jetzt sieh dir den an, Jess! Aus welchem Gehege ist der denn ausgebrochen? Und ich dachte, die Wölfe wären fort aus Deutschland.

Oh ja, er sah wirklich aus wie ein Wolf. Mit diesen gebleckten Zähnen und den langen Haaren und dieser düsteren Aura. Ein Wolf, der sich in die Stadt verirrt hatte, sich nicht wohlfühle und sich versuchte wegzuducken, während er gleichzeitig auf der Lauer lag. Fiese Augen hatte er auch.

Jess kannte solche Typen. Wenn man lange genug on Tour war, begegnete man eben nicht nur der netten Sorte Mensch.

Als ob der Wolfsfremde ihre Gedanken hätte hören können, verwandelte sich sein spöttisches Grinsen in ein nach innen gekehrtes Lächeln und er drehte ihr für den Rest des Songs den Rücken zu. Das machte es erträglicher, in die Pause zu kommen.

Schließlich beugte Sie sich vor und bedankte sich beim Publikum fürs Zuhören.

„Wir werden eine kurze Pause machen müssen. Aber nicht lange, versprochen.“ Sie stellte den Begleiter, den sie noch länger als Steven an ihrer Seite wusste, auf den Halter und knippste die Mikrophone aus.

Kleine, gemütliche Locations, so hatte sie sich das von Steven gewünscht. Und es war wie immer gewesen: er wusste genau, was sie meinte und seinetwegen saß sie jetzt im Siebten Himmel und sie sollte sich wohlfühlen, weil sie genau das hatte, was sie sich wünschte! (Be careful what you wish for, JJ. Es könnte in Erfüllung gehen!)

Sie könnte jetzt genausogut eine große Halle füllen. Und der alte Steven hätte sie bestimmt zu drängen versucht, ihrer Karriere gemäß aufzutreten, während er sie gleichzeitig für ihren Wunsch nach dem Kleinen, Privaten, umso mehr …

Die Bix-Stimme in ihrem Kopf war verdächtig still. Er harrte darauf, was jetzt kommen würde:

… während er sie für ihre Bescheidenheit umso mehr mochte. Bix, er mag mich. Mehr nicht. Verdammt nochmal, er ist mein ältester Freund. Und er ist schon länger in meinem Leben als du! Ich hab dir von Anfang an gesagt, dass du damit kein Problem haben darfst.

Vielleicht bin ja gar nicht ich es, der ein Problem damit hat, Jess.

Sie schüttelte den Kopf, so als könne sie damit die nervigen Gedanken vertreiben und beschloss, heute Abend doch etwas Alkoholisches zu trinken.

Allem voran brauchte sie heute Abend Konzentration.

Und das bedeutete, dass sie bestimmte Teile ihres Lebens heute Abend einfach ignorieren musste. Zwei Teile, um genau zu sein.

Sie stand am Tresen und winkte dem Barmann zu. Es war ein junger Kerl, vielleicht gerade mal ein Student. Kaum alt genug, um ernst genommen zu werden. Aber er war nett und er lächelte so schön unschuldig.

Gerade wollte sie sich wieder mit dem Bier in der Hand abwenden, als ihr jemand die Hand auf den Oberarm legte.

„Na?“, sagte der Wolfsfremde. „Sie sind sehr gut heute Abend. Das Publikum liebt sie.“

„Dankeschön, wenn es ihnen gefällt.“, ein zweiter Versuch, wieder zur Bühne zu kommen. Ein nettes, aber abweisendes Lächeln und ein kurzes Heben des Glases. Nur leider funktionierte es nicht. Der Fremde stand im selben Augenblick auf und drückte sie mit sanfter Gewalt auf den Hocker neben sich, ehe sie protestieren konnte, hatte er schon zu sprechen begonnen: „Ein Missverständnis! Ich mag ihre Musik gar nicht.“

„Bitte?“

„Ein Missverständnis. Es ist das schlimmste, was uns passieren kann, aber es ist so leicht möglich. Ich möchte nicht, dass sie mich missverstehen. Aber ich fürchte, ich bin zu ungeschickt, richtig auszusprechen, was ich eigentlich sagen möchte.“

Sie war so irritiert, dass sie ihn wirklich gar nicht verstand. Wer bitteschön redete denn so? Außerdem war seine Stimme für seine Statur ein klein wenig zu hell und es lag ein Knirschen und etwas Unbeständiges, Unruhiges darin, so wie bei einem Radio, das jeden Augenblick den Empfang zu verlieren drohte.

„Sehen Sie, wenn man über ernste Sachen redet, etwa über einen gemeinsamen Bekannten, dann gibt es ganz viele ganz gefährliche Stellen in einem Dialog. Sie haben Ihre Vorstellung von unserem Bekannten und ich habe meine Vorstellung. Ich sage zum Beispiel, was unser Freund gesagt hat und Sie missverstehen die Absicht hinter den Worten, weil Sie zum Beispiel von anderen Gefühlen ausgehen als tatsächlich im Spiel waren.“, er seufzte. Aber immerhin ließ er sie jetzt los.

Der Barmann kam vorbei und blieb demonstrativ in ihrer Nähe. Auch er beäugte argwohnisch den Wolfsfremden.

„Ich bin wegen Steven hier.“, sagte der Fremde ganz ruhig.

„Ist etwas passiert? Hat er einen Unfall gehabt oder sowas?“, sie wusste genau, dass dieser Fremde nichts mit einem Unfall zu tun hatte. Und genauso sicher wusste sie auch, dass wenn sie jetzt das Telefon nehmen würde und Steven zu Hause anrief, er munter sein würde, überrascht, von ihr zu hören und keine Ahnung hätte, dass dieser merkwürdige Fremde jetzt vor ihr saß.

Wie überrascht wäre er wohl? Komm schon, Steven, auf einer Scala von 1 bis 10, wobei 10 die Apokalypse darstellt: …

Der Fremde zeigte ihr wieder sein Wolfsgrinsen. Und dann trank er ganz genüßlich das Bier, das vor ihm stand.

„Er hat vor sieben Jahren mal im Poker einen fantastischen Gewinn eingestrichen.“, meinte der Fremde schließlich.

„Schön für ihn.“, sagte sie schlicht. „Was hat das mit mir zu tun?“

Alles, sagte Bix’ Stimme in ihrem Kopf. Bei Steven hat immer alles etwas mit dir zu tun, Schätzchen. Du bist seine kleine Nachtigall.

„Hier sind wir jetzt an der gefährlichen Stelle, von der ich eben geredet habe. Jetzt, liebe JJ, kannst du beginnen, mich falsch zu verstehen. Dabei ist es verteufelt wichtig, dass du alles richtig begreifst. Wir haben nämlich einen ganz besonderen Einsatz gehabt, bei diesem Spiel. Und zwar dich. Steven wollte, dass deine Karriere nicht einknickt, sondern nach oben schießt. Und deshalb hat er jemanden wie mich gebraucht.“

„Jemand, der im Hintergrund die Fäden in der Hand hält?“, fragte Jess lauernd.

Aus dem Wolfslächeln wurde ein gefährliches, bellendes Lachen. Er winkte in Richtung Bar und ließ sich noch ein Bier bringen.

„Na, so kannst du das sagen, Schätzchen.“

Ich bin nicht dein Schätzchen, dachte sie. Gleich wirst du mir noch verraten, was du alles investiert hast für mich und meine Karriere.

„Sieben Jahre.“, sagte er dann und es sah aus, als rolle er mit der Zunge im Mund genüsslich einen süßen Geschmack hin und her.

„Vor sieben Jahren war euer Pokerspiel?“, sie dachte nach. Was genau war vor sieben Jahren zwischen ihr und Steven gewesen? Sie rechnete. Das war dann wohl …“

„Genau 1999.“, beantwortete er ihre Frage. „Um ganz genau zu sein: am 11. August.“

„Da waren noch die ‚The Blue Valentines’ aktiv.“, dachte sie laut.

The Blue Valentines waren bei weitem nicht die beste Bluesband gewesen, in der sie je mitgespielt hatte. Aber es war die ungezwungenste. Man hatte sich zufällig getroffen, hatte keinen wirklichen Druck gehabt, weil es für niemanden in der Truppe wirklich was Ernstes gewesen war. Man machte Musik zum Spaß. Und vielleicht war es diese ungezwungene Art gewesen, warum es ihre erste richtig erfolgreiche Tour gewesen war. Sie hatten damals bei ihren Auftritten über die Stadtfeste wirklich Leute begeistern können. Das war damals noch bevor Bands wie Momford & Son groß rauskamen. Und sie hatten, rückblickend, diese Soft-Country-Blues-Welle – oder wie man die auch immer nennen wollte – schon ein wenig vorweggenommen. Sie hatten nur eine Handvoll Lieder im Repetoire gehabt. Aber selbstgeschriebene. Und die hatten funktioniert.

Die Gruppe hatte nur ein Jahr Bestand gehabt. Aber es war eine schöne Erinnerung. Vielleicht sogar eine der besten.

„Ja, ich weiß.“, sagte der Fremde genüsslich. „Ein kleine, nette Musikgruppe, bei der es noch um Spaß und nicht um irgendwelchen Druck ging.“

„Sie haben uns damals gehört?“, hakte Jess nach.

„Nein.“, lachte er. „So hat unser gemeinsamer Freund Steven über die Gruppe geredet. Ich persönlich mache mir gar nichts aus Musik.“, und dann kam wieder dieses bellende Lachen.

Steven war damals noch ihr allerbester Freund gewesen. Der Typ, mit dem man durch dick und dünn geht, dem man alles anvertrauen kann und der einem immer einen guten Ratschlag zusteckt oder eine Couch anbietet, auf der man crashen kann, wenn es zu Hause mit dem drogensüchtigen Partner mal wieder zu viel wird.

Das war die gloreiche Zeit der großen Lügen gewesen. Da war das große: „Nein, ich nehm keine Drogen“, das noch größere: „Ich hab keine Ahnung, ob er mir die Wahrheit sagt.“ Und das allergrößte „Hauptsache, wir lieben uns.“

Der Fremde deutete mit dem Kopf auf die Bühne.

„Ich fürchte, du musst wieder zurück, Jess. Da werden einige schon unruhig, weil du dich so lange hier mit mir unterhältst.“

Irritiert schüttete sie den Rest ihres Glases in die Kehle und stand auf. Bevor sie aber zurückgehen konnte, hielt er sie mit einem festen Griff am Oberarm auf.

„Hör zu, eine Sache noch: Ein Deal ist ein Deal. Ich hab meinen Wetteinsatz bei Steven gehalten, aber da ist noch eine Sache. Jeder gute Deal hat immer auch eine dunkle Seite. Jetzt wäre Steven an der Reihe, seinen Teil der Schuld abzuleisten. Und bevor es soweit kommt, da dachte ich mir, vielleicht hat die gute Jess ja Lust, ihrem alten Freund, dem sie so viel zu verdanken hat, beizustehen. Wenn du bereit bist, einen Deal einzugehen, dann wäre unser guter Steven schuldenfrei. Und du ahnst ja gar nicht, was ihm das bedeuten würde.“

Es gibt Menschen, denen ein Grinsen so gut steht, wie das Zähnenfletschen einem über dem Kamin hängenden, abgetrennten Raubtierkopf.

Jess riss sich los und ging zurück zur Bühne. Dreimal hatte ihr dieser Fremde gesagt, dass es wichtig wäre, ihn nicht falsch zu verstehen. Aber um ehrlich zu sein, hatte sie nicht das Gefühl, dass man ihn richtig verstehen konnte.

Diese Art von Mensch war ihr zuwider. Kein Klartext, nur um den berühmten heißen Brei rumschwänzeln. Immer Zähne zeigen, immer die Hände zu Fäusten geballt oder um ein Bierglas gelegt.

Jess bildete sich ein, genug solcher Typen zu kennen. Und deswegen schüttelte sie jetzt jeden Gedanken an ihn ab, so wie man sich ein kratziges Fell abwerfen würde, das einem über die Schultern gelegt worden war.

„Ich bin wieder da.“, säuselte sie ins Mikrophon. „Tut mir leid. Ich hab mich mit einem Fan ein bisschen verquatscht.“

Sie rutschte sofort wieder in einen professionellen Modus. Und die Stimme vom guten alten Bix ertönte wieder in ihrem Kopf: „Geschichten! Erzähl uns von dir.“

„Er hat mich gefragt, wie ich angefangen hab.“, log sie. „Das ist eine gute Frage. Alles begann mit meiner ersten Band.“, wieder eine Lüge. Aber eine, die nicht wehtat. „The Blue Valentines waren eine nette Abwechslung auf Stadtfesten. Und das hier war sowas, was wir spielten. Die Nummer hat mein bester Freund damals geschrieben.“ – Nennen wir ihn Steven, schoss es ihr durch den Kopf. „Er hat den Song nach mir benannt: It’s Jess time.“, sie grinste und war dankbar, dass genug Leute darüber amüsiert lachten. „Ich entschuldige mich jetzt schon. Keine Ahnung, wann ich das zum letzten Mal gespielt hab. Mal sehen, ob ich es überhaupt noch drauf hab.“

Sie hatte es noch drauf.

Es gibt Songs, die brauchen nur zwei Akkorde, und schon ist man wieder drin. Das Geheimnis bestand darin, welche Licks man zwischen die Akkorde setzte, um das Lied einzigartig zu machen. Und dann kam es nur noch darauf an, dass man das Herz des Songs spüren konnte.

Naja, so schwer wird dir das jetzt ja nicht fallen, oder?

Immerhin ging es bei Steven und ihr immer um Vertrauen, – oder nicht?

Wenn es nach Steven gegangen wäre, dann hätten The Blue Valentines sich nie aufgelöst. Er hatte sie davor gewarnt, dass Solo keine Karriere zu machen war. Aber sie hatte ihm gesagt, dass sie es wenigstens versuchen wollte.

„Komm schon, Steven. Es geht doch um nichts. Nicht wirklich. Wenn alle Stricke reißen, werde ich wieder Musiklehrerin und bringe kleinen, pickligen Jungs das Gitarrespielen fürs Lagerfeuer bei.“

„Du bist mehr Wert, JJ.“, hatte er ihr prophezeit.

„Sieh mich nicht so mitleidig an!“, warnte sie ihn. „Es gibt immer eine Bühne und es gibt immer noch einen Song zu spielen für mich. Ich geh nicht unter. Versprochen!“

Steven hatte ihr auch die ersten Aufträge für das Solo-Projekt an Land gezogen. Kleine Gigs in Kellern und Kneipen und Gaststätten wie der Siebte Himmel.

Aber noch vor dem ersten Auftritt hatte er sie abgeholt und mit verschwörerischer Miene durch die Stadt gefahren. Mit keinem Wort hatte er verraten, wo es hingehen sollte. Und dann war das Ziel ein dubioser Industriebau in der Stadtmitte am Fluss gewesen. Die anderen Häuser hatten eingeworfene Fensterscheiben. Aber hier, Steven nannte es die Kreativschmiede des Saarlandes, gab es ein großes Leuchtschild mit Noten drauf und alles sah clean und fast schon steril aus.

Steven hatte einen Termin reserviert. Sie gingen rein, fanden ein Studio vor und in nur zwei Stunden hatte JJ ihre erste Platte aufgenommen. Einfach so.

„Wer bezahlt das?“

„Ist schon bezahlt.“, erklärte ihr Steven, nahm sie in den Arm und küsste sie auf die Wange.

Damals hatte das magisch geklungen, so wie der ultimative Gefallen, von einem Seelenverwandten zum andern. Aber jetzt eben nicht mehr, wegen dieses Wolfsfremden da unten im Publikum, der ihr gierig beim Spielen zuschaute, so als liefe ihm tatsächlich das Wasser im Mund zusammen wie bei einem Ausgehungerten vor dem Großen Fressen.

Jetzt war aus der Magie der Vergangenheit sowas wie eine Drohung geworden.

Ist schon bezahlt, Jess. Mach dir keine Sorgen. Für deine Karriere ist gesorgt. Sieh ihn dir an, da hinten sitzt er. Er hält die Fäden in der Hand und ich hab einfach nur dafür gesorgt, dass der Strippenzieher für uns beide zum richtigen Augenblick an den richtigen Fäden zieht.

So ein Unfug. Was war das schon für eine Karriere gewesen? Ja, sie hatte CDs verkauft, hatte neue aufgenommen und sich von einem größeren Studio anwerben lassen. Sie hatte zwei großartige Preise abgesahnt und sich einen Namen verschafft. Aber am Ende saß sie jetzt doch in diesem Siebten Himmel (der, bei Tageslicht betrachtet, garantiert nur halb so himmlich war).

Und weißt du was, Steven? Ich bin hier glücklicher als auf der großen Showbühne.

Bix hatte Manchester immer geliebt. Er wäre am liebsten jeden Monat dort aufgetreten. Und Jess hätte es ihm gerne ermöglicht. Aber Manchester war auch so ein großer Laden mit viel zu hellem Licht und viel zu viel Technik und einem Publikum, dem man nicht in die Augen sehen konnte.

Denen sagte man: „Hi Folks, thanks for letting me play here for a while.“

Und sie applaudierten wie eine seelenlose Masse.

Ihr Song war zu Ende und Jess bildete sich ein, dass sie jetzt deutlich mehr Applaus erhielt als vor der Pause. Der Song war einfach so vorbeigegangen, ohne, dass sie ihn selbst richtig wahrgenommen hatte.

Nur die letzten Töne hallten ihr irgendwie noch nach. Dabei war sie nahtlos zu ihrem nächsten Song übergangen. Ohne es bewusst gesteuert zu haben, war sie in die Harmonie von „Heart Rain“ gerutscht, ihrem ersten erfolgreichen Song, der die CD-Verkäufe enorm angekurbelt hatte.

And if you’re my sun / I believe, I believe / It’s a heart rain today. / A hard heart rain.

Das war ein Song, den das Publikum überraschend mehr geliebt hatte als sie. Wenn Steven nicht darauf bestanden hätte, den als dritten Track aufs Album zu setzen, hätte sie ihn vielleicht sogar komplett verworfen. Sie hatte mit dem Lied ihren Frieden gefunden, weil er etwas war, was zwischen ihr und Steven immer eine Brücke geschlagen hatte.

„Wirst du irgendwann erzählen, wie es zu dem Song gekommen ist, JJ?“

„Ist das alles, was du dazu zu sagen hast?“

Stevens Augen, dieses dunkle Braun, so undurchsichtig und verschlossen. So blank und warm und leer und voll zugleich.

„Das ist kein Song, Jess. Das ist ein Hit.“

„Ich weiß, dass du das nur sagst, weil du es nochmal tun willst.“

Zwei Dinge spürte sie ganz warm und intensiv: die Sonne, die ihr auf den nackten Rücken schien und seine Blicke, die – wie er selbst sagte – nie wieder so wie gestern sein würden.

„Seit wann willst du schon mit mir schlafen?“, hatte sie ihn gefragt.

„Das ist wieder eine dieser Fragen, Jess.“

„Die keine Rolle spielen?“, sie grinste breit.

„Die keine Rolle spielen.“

Dann drehte sie sich auf den Rücken, achtete aber darauf, dass das dünne Bettlaken ihre Vorderseite vor seinen Blicken schützte.

„Bist du in mich verliebt, Steven?“

„Möchtest du, dass ich das bin?“

In Heart Rain, das sie eben geschrieben hatte, nachdem sie mit ihrem besten Freund Sex gehabt hatte, hieß es: „If I want you to stay, so just, ’cause I’m goin away.“

„Nein, ich werde die Geschichte nicht erzählen, wie es zu diesem Song gekommen ist, Steven.“, das war kein Versprechen gewesen, was sie ihm da gegeben hatte. Es war ein Schwur.

„Wieso muss es mit dir immer kompliziert sein?“

„Ich wäre auch viel lieber so wie du.“, gestand sie ihm und dann schmiegte sie sich mit ihrem Kopf an seine nackte Schulter. „Mit dir ist immer alles so verdammt einfach.“

„Und das kannst du nicht einfach genießen und zulassen, hab ich recht?“

„Hör zu, Steven. Es war kein Fehler, was wir beide heute Nacht getan haben. Es war gut, wirklich.“

„Das ist doch gar nicht die Frage, JJ. Die Frage ist, ob es das Richtige war. Ich will dich unter keinen Umständen dieser Welt verlieren. Ich bin für alles bereit. Nur nicht dafür, dass alles zerbricht, hörst du, Jess?“

Und was er nicht sagte, war, dass er sie liebte. Das brauchte er auch nicht. Im Unterschied zu sonst, stand dieser Satz wie ein Naturgesetz, felsenfest und unumstößlich, in seine Augen geschrieben. Es leuchtete so klar und deutlich aus der Intensität seines Blickes heraus, dass es ihr schauerte, dass sie das noch nie wahrgenommen hatte. All die Jahre.

(Fortsetzung folgt)

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