Der Siebte Himmel (2/2)

 

„Das war für die Liebe.“, sagte sie. „Ich weiß, dass diese Nummer immer geliebt worden ist. Aber ich weiß nicht, ob man ihr je angemerkt hat, dass sie eigentlich ein Liebeslied ist.

Mir ist da aber noch eine andere Geschichte eingefallen, die ich heute erzählen will.“, sie räusperte sich, trank einen Schluck Wasser und rieb sich mit der flachen Hand über die Stirn. Ihre Finger waren zu trocken zum Spielen. Deswegen rieb sie sich mit Daumen und Zeigefinger die Augenbrauen glatt. Das war ein Trick, den sie von Bix hatte.

„Die Augenbrauen fetten dir die Finger. Sonst kannst du irgendwann an einem Abend nicht mehr die Saiten richtig greifen.“

„Ein Glück, dass ich so dicke Augenbrauen habe, was? Und ich dachte immer, das würde mir nie zugute kommen.“

„Ich hab mal mit meinem besten Freund geschlafen.“, sagte sie unvermittelt. „So beginnt man eigentlich keine Geschichte, nicht wahr? So enden Geschichten vielleicht. Aber hier ist es anders herum. Alles beginnt damit, dass ich mit ihm geschlafen habe, obwohl ich nicht in ihn verliebt war. Ich kannte ihn schon mein Leben lang, wissen Sie. Wir waren Seelenverwandte. Two peas in a pot. Und es war genauso, wie all die Tausend anderen Geschichten, die sie schon gehört haben. Der Junge und das Mädchen waren so lange befreundet, bis sie mal ausprobierten, ob da nicht auch noch mehr sein könnte.

War es nicht.

Ich meine: mehr. Es war nicht mehr.

Und wenn Sie jemals hören, dass irgend einer kommt und ihnen sagt, dass die Menschheit viel besser dran wäre, wenn alle mehr Sex miteinander hätten, dann antworten Sie einfach, dass es keine bessere Waffe auf dieser Welt gibt als Sex. Wenn es darum geht, Freundschaften zu töten, dann steht Leidenschaft ganz oben in der Liste.

Nein, warten Sie. In einem von eintausend Fällen, einigen sich beide, dass es ein Fehler war und man kehrt wieder erfolgreich zurück, Freunde zu sein.

In einem von tausend Fällen ist die Freundschaft stärker als jedes andere Gefühl. Und als jede Leidenschaft.

Und so war es bei mir. Ich kehrte zurück zur Gitarre.“

Und Steven heiratete zwei Jahre später eine Barbara mit aufgeblasenen, immerzu rosa gefärbten Wangen. Eine Buchhalterin in einem Tonstudio am Ende der Welt, der man ein Haus kaufen musste.

„Eine für die man die Reiseschuhe in den Schrank stellt, Jess.“

Bix und Jess fanden sie dumm und viel zu einfach gestrickt. Aber Bix sagte: „Alter, wenn sie dich glücklich macht, ist das alles, was zählt.“

Und Steven sah zu Jess rüber und sagte zu Bix: „Das ist richtig.“

Sie war eine Frau, für die man auch bereit war, den Job nur noch vom Büro aus zu machen. Eine, mit der man ein herzklappenkrankes Kind zur Welt brachte, und die einem daran auch noch die Schuld gab. Als ob Krankheiten oder Geburtsfehler nach Verantwortlichkeiten verlangten!

„Du musst das verstehen, Jess. Ich muss aufhören. Ich will aufhören. Herausforderungen in der Familie.“

Und dann schließt sich der Kreis.

Sie verlangt das von dir, hab ich recht. Es geht darum, was sie will. Nicht du.“

„Darum geht es hier doch gar nicht. Es geht nicht um dich oder mich oder um Barbara. Es geht um ein behindertes Kind. Mein Sohn, Jessica. Es geht um Tom!“

So hast du mich noch nie genannt. Fällt dir das eigentlich auf, Steven?

Und warum war Bix nicht hier? Warum hatte er den Raum verlassen, damit sie und Steven reden konnten. Das machte alles so schrecklich privat und persönlich. Es machte alles so sehr nach einer Sache, bei der es um das Ding zwischen Steven und ihr ging. Nicht wahr? Es geht um uns beide, Steven. Um nichts anderes. Selbst Bix hat das verstanden.

„Herausforderungen, Jess.“

„Ich versteh das nicht.

„Natürlich verstehst du das nicht.“, platzte es aus ihm heraus. „Du verstehst das nicht. Du singst vielleicht zu viel vom Tod. Wenn du dich stärker mit dem Leben beschäftigen würdest, könntest du es vielleicht verstehen, JJ.“

„Tut mir leid, dass ich nicht so scheiße klug bin wie du.“

Sie spielte ihre ganz eigene Version von Boom Boom von John Lee Hooker. Eine deutlich aggressivere und wütendere Version mit dem berühmten Gitarrenlick.

Und dann spielte sie noch eine Nummer von Dave van Ronk, eine bluesige Version von Girl von den Beatles und dann noch zwei von ihrem letzten Album. Keine weitere Geschichten. Auch kein weiterer Gedanke mehr an Steven.

Sie bemühte sich, an nichts zu denken. Aber während der letzten beiden Lieder erwischte sie sich dabei, dass sie Ausschau hielt.

Aber Bix war nicht zu sehen.

Nur der Wolfsfremde mit dem gefährlichen Grinsen.

 

„Na?“, begann er die Unterhaltung.

Sie saßen jetzt nebeneinander am Tresen und er hatte bewusst lange gewartet, um sich wieder zu ihr zu setzen. Nach der Show hatte sie sich an den Tresen gesetzt und sofort waren Leute zu ihr gekommen, um mit ihr über Musik und über den Blues zu reden. Normalerweise empfand sie das als sehr angenehme Momente der Nähe, die auch nicht dadurch getrübt wurden, dass sie in den Stunden vorher so viel Privates von sich preisgegeben hatte. Das war gleichgültig. Um sie herum, das waren immer noch einmalige Fremde. Und noch nie hatte jemand zu ihr gesagt: „ich war schon auf so vielen Shows von Ihnen, …“

Sie ließ sich zu dem ein oder anderen Bier einladen, aber nie so viel, dass sie es später bereuen würde. Alkohol verträgt sich nicht mit der Wahrheit, sagte Bix gerne. Wahrheit gehört in die Stille, und Alkohol macht Sachen laut.

Als der Wolfsfremde sich endlich zu ihr setzte, waren nur noch eine handvoll Gäste im Laden und die wenigsten interessierten sich jetzt noch für Jess. Als sie dem Wolfsfremden ins Gesicht blickte, wusste sie, dass er auch eine Ewigkeit für dieses Gespräch gewartet hätte. Ungeduld gehörte definitiv nicht zu den Charakterfehlern dieses Typen. Jetzt bemerkte sie, dass er etwas müde wirkte. Aber die Wangen und die Augen glühten vor Erwartung. Sie musste wieder daran denken, dass sie ihn vorhin als Ausgehungerten wahrgenommen hatte. Ausgehungert und gierig. Und Hunger und Gier wurden nie von Erschöpfung und Müdigkeit unterdrückt.

Aufeinmal hatte Jess Angst vor dem Kerl. Wie immer, wenn Jess Angst bekam, zog sie es vor, als erste anzugreifen:

„Von allen schmierigen Typen, die so bei einem Konzert auf mich zukommen, sind sie defintiv der schmierigste.“

Er war nicht beleidigt, sondern grinste nur wieder sein Wolfsgrinsen.

„Da sind sie nicht die erste, die mir das sagt. Aber die meisten sagen mir das erst beim zweiten Treffen.“

„Ich hatte eben kein Interesse daran, auf dieses zweite Treffen zu warten, um Ihnen das ins Gesicht zu sagen.“

Er lachte.

„Hören Sie, ich weiß nie, ob ich richtig verstanden werde, Jess. Das ist eins meiner ganz großen Probleme. Ich kann nicht gut reden. Nicht so gut wie Sie. Sie sind eine geborene Erzählerin. Die Leute haben die ganze Zeit an ihren Lippen gehangen und gehofft, dass sie noch mehr erzählen würden.

Der Beruf des Geschichtenerzählers gibt es leider schon lange nicht mehr. Und die guten Lieder, die Geschichten erzählen, sind auch gerade ab aussterben.“, fuhr er fort.

„Mein Freund, Bix, hat mir mal gesagt, dass jeder Mensch eine Stärke hat. Und die, die ihre Stärke kennen, das sind die Königinnen und Könige. – Was ist Ihre Stärke?“

Er dachte kurz darüber nach, dann entschied er sich für: „Timing. – Wahrscheinlich ist es das. Ich hab das unverschämte Glück, immer im richtigen Augenblick aufzutauchen.“

„Na, Glück scheinen Sie ja wohl beim Pokerspiel gegen Steven nicht gehabt zu haben.“

Er lehnte sich zurück und musterte sie durch ein zusammengekniffenes linkes Auge. Das rechte hatte er ganz geschlossen. Es wirkte, als würde er sie zu lesen versuchen. Dann wandte er sich ab und trank sein Bier mit langen, genussvollen Zügen.

„Ich weiß nicht, auch wenn man mir das nachsagt, ich bin genausowenig ein Spielertyp, wie ich ein Geschichtenerzähler oder Musikliebhaber bin. Nein, das ist nicht so meins. Beim Spielen verlieren die Menschen schnell den Bezug zu ihren Seelen. Aber lassen wir das jetzt. Ich wollte doch von Deals reden und nicht über mich.“

Jess drehte sich jetzt ebenfalls ab und sagte: „Ich hab kein Interesse an Deals.“

„Nicht so hastig!“, er legte seine Hand genau wie vorhin wieder an ihren Oberarm. Aber diesmal war es nur eine Berührung, kein festes Zupacken.

„Ich will das nochmal erklären, gönnen Sie mir doch den zweiten und letzten Versuch. Steven hat beim Poker also diesen Deal gewonnen, der Ihnen sieben Jahre lang Erfolg beschert hat. Das Studio, wissen Sie, die erste Platte, die Auftritte in den kleinen Schuppen, dann der gute Absatz der ersten und der bessere Absatz der zweiten Platte. Die Vermarktung von Heart Rain, …“

„Das waren also Sie? Und was wollen Sie mir damit sagen, dass ich nicht so gut gewesen wäre, wenn Sie im Hintergrund nicht die richtigen Fäden gezogen hätten?“

„Nein nein!“, machte er schnell. „Sehen Sie, schon wieder so ein Missverständnis. Sie sind so gut wie Sie sind, Jess. Da kann ja kein Deal der Welt etwas dran machen. Sie haben das Talent, das Ihnen von Gott oder von einer guten Fee oder was auch immer in die Wiege gelegt worden ist. Ich bin nicht für Talente zuständig. Nur für Erfolg. Das ist was vollkommen anderes. Ich sagte doch: meine Stärke ist das Timing. Nicht mehr und nicht weniger.“

„Und was hab ich jetzt damit zu tun? Wenn Sie mir sagen, dass morgen mein Erfolg genauso Vergangenheit ist wie Steven, dann ist das halt so. Ich hänge nicht wirklich an diesem Bussiness, wissen Sie. Mir gefällt die Musik. Der Erfolg ist mir -“

„Egal.“, vervollständigte er. „Das kann ja sein. Aber um ehrlich zu sein, wollte ich das nicht sagen. Sehen Sie her. Bleiben wir doch bei dem Bild mit den Fäden ziehen. Stellen Sie sich vor, am Ende der Fäden hängen keine Menschen sondern Glöckchen. Sie ziehen an einem Faden und dann klingelt die Glocke. Und wenn sie loslassen? Dann pendelt und schwingt die Glocke einfach noch ein bisschen weiter und zwar so lange, wie sie eben hin und her schwingt. Für das Läuten der Glocken braucht es keinen mehr wie mich. Ich bin nur für das erste Anschlagen des Klöppels da. Ich rede also nicht von der Karriere, die nach den sieben Jahren irgendwie verlaufen wird. Dafür sind Sie dann ganz allein verantwortlich, Jess. Mit ihren Entscheidungen, auf welchen Bühnen Sie stehen wollen, welche Songs Sie spielen, welche Geschichten Sie wie erzählen, wie das Publkum gerade drauf ist, … Das alles hat mir mir nichts mehr zu tun. Ich bin, wie gesagt, …“

„Für das Timing zuständig.“

„Genau.“, er grinste. „Nein, mir geht es um die Schattenseiten der Geschäfte, die ich mache. Sehen Sie, ich sagte bereits: Jeder gute Deal hat immer auch eine dunkle Seite. Und in unserem Fall sieht das so aus: Wenn ich an der einen Strippe ziehe und das Glöckchen ‚Jess’ zum Läuten bringe, dann hört irgendwo anders irgend ein Glöckchen auf zu Bimmeln.

Man sagt mir viele unschöne Sachen nach, Jess, das können Sie mir glauben. Aber keiner hat mich jemals unfair genannt. Und in meinem Verständnis von Fairness, passt es überhaupt nicht ins Bild, wenn ich einfach irgend ein x-beliebiges Glöckchen verstummen lasse, verstehen Sie? Nein? Ich sehe an Ihren Augen, dass Sie noch auf die Pointe warten. Also gut, lassen Sie mich das kurz machen: Als ich vor sieben Jahren dafür sorgte, dass das Glöckchen ‚Jess’ zu bimmeln begann, da hab ich auch dafür gesorgt, dass stattdessen das Glöckchen ‚Steven’ aufhörte zu läuten, jetzt klar? So war der Deal. Ein Glück für ein anderes. Wenn Sie eine Seele auf der Waage in den Himmel schicken, dann muss auf der anderen Seite auch eine Seele liegen, die zum Teufel fährt.“

Jess lief es kalt den Rücken runter. Ihre Haut zog sich so zusammen, dass sie glaubte, ihr würde die Haut auf dem Rücken in Streifen reißen.

„Ich kann mir nicht vorstellen, wie …“

„Hören Sie auf damit, Jess.“, unterbrach er sie unwirsch. „Wir haben nicht die Zeit, um Ihre Fantasie in Anspruch zu nehmen. Ich möchte auch ehrlich gesagt gleich ins Bett fallen. Man wird alt und hat nicht mehr den Luxus, dass die Nächte so lang sind wie die Tage. Außerdem will das Bier wieder raus, verstehen Sie. Und wenn ich jetzt zur Toilette gehe, dann will ich, dass sie in der Zeit meiner Abwesenheit über meinen Vorschlag nachdenken.“

Er trank sein Glas in einem Zug leer.

„Was auch immer die Fantasie hier sagt. Steven ist verantwortlich für die Karriere von Jess. Und Jess wird jetzt verantwortlich für das Glück von Steven.“, er atmete tief ein. „Wenn ich will, dann ziehe ich wieder an einer Strippe, ok? Ein Glück für ein Glück. Wenn wir beide wollen, dann heben wir heute Nacht wieder eine nach unten gesunkene Waagschale nach oben und senken eine andere hinab. Aber Jess“, jetzt stand er auf und richtete sich das Hemd und den Mantel, den er trug und der hinter ihm beim Sitzen eingeknickt war. „Ich habe es eben gesagt: das Jess-Glöckchen bimmelt jetzt aus. Das liegt nicht mehr in meiner Verantwortung. Damit der Deal fair bleibt, müssten wir einen anderen Faden finden, ein anderes Glöckchen, das zu bimmeln aufhört, damit das Steven-Glöckchen wieder glücklich erklingen kann. Denken Sie drüber nach, ich geh inzwischen pinkeln.“

Das ist ein gewaltiger Spinner, hab ich Recht?

Ich weiß nicht, Bix. Keine Ahnung, was ich denken soll.

Inzwischen war Jess allein im Siebten Himmel. Der Mann hinterm Tresen sagte ihr, dass sie ruhig noch bleiben könne. Er müsse noch eine Stunde warten, bis sein Boss mit den Schlüsseln käme. So lange muss der Laden eben laufen, selbst wenn ich nur trockene Stühle bedienen kann.

„Stört es, wenn ich Musik anmache?“

„Nein.“, Jess schüttelte den Kopf und der Barmann stellte ihr noch einen „aufs Haus“ vor die Nase.

„Sie haben echt Talent. Ich bin beeindruckt. Und für ein Autogramm von Ihnen, geb ich Ihnen sogar noch einen aus.“

„Brauchen Sie nicht.“, sie lächelte matt und unterschrieb auf einem Bardeckel. Er steckte sich den Deckel in die Brusttasche seines Hemds und strahlte sie an.

Er wirkte irgendwie niedlich.

Auch wenn er viel zu jung war, noch kaum Bart hatte und viel zu glatt und unreif wirkte, er erinnerte sie an Bix.

Du hättest kommen sollen, Bix. Du bist immer gekommen.

Aber sie kannte die Antwort, deswegen brauchte es keine innere Stimme, die ihr was sagte.

Sie zog das Handy und wählte. Es läutete nur dreimal, dann hörte sie Steven: „Jess?“, fragen. „Was ist los? Es ist Mitten in der Nacht.“

„Ich hab den Gig hinter mir.“

„Gut. – Alles gut gelaufen? Ist was passiert?“

„Hab hier einen merkwürdigen Typen sitzen, der mir was von Poker erzählt.“

„Ok? Und?“

„Steven, ich –“, sie brach ab. Nach ein paar Sekunden sagte er: „Ich weiß.“, sie hörte, dass er das Zimmer verließ und jetzt hustete er etwas lauter. Sie sah auf die Uhr. Wahrscheinlich hatten sie schon geschlafen gehabt. Er war vom Handy wach geworden. Ob Barbara auch wach war? Sie mochte es bestimmt nicht, dass er mitten in der Nacht ausgerechnet von Jess angerufen wurde.

„Wie oft haben wir uns schon gestritten im Leben?“, fragte sie und rieb sich nervös über die Stirn.

„Ungefähr so oft, wie wir miteinander Sex hatten.“, sagte er. Und das kam wie eine Holzkeule. Seit fast sieben Jahren hatten sie nicht mehr darüber geredet. Sie hatten es mit keinem Wort erwähnt. Das war auch irgendwie sowas wie ein Deal gewesen. So etwas wie eine stumme Vereinbarung.

Und was bedeutet es jetzt, dass er es laut ausspricht? Dass es wertlos geworden ist?

„Bix und ich haben uns auch gestritten.“

„Das tut mir leid, Jess.“, das wiederum klang weniger verbittert als der Satz vorher. Aber es klang verletzt, und zwar tief verletzt.

„So wie ich deine ‚Herausforderungen’ nicht verstehen kann, so konnte er nicht verstehen, wie es mir wehtut, wenn wir beide …“ Was, Jess? Was seid ihr jetzt? Getrennt? Ist es das, was du sagen willst?

Du verlierst nur einen Freund, und selbst das nicht. Eigentlich verlierst du nur einen Manager. Ihr könnt euch immer noch regelmäßig treffen und über alte Zeiten quatschen. Das könnt ihr jetzt. Das habt ihr vorher nicht gekonnt, weil es noch keine alten Zeit gegeben hat, verstehst du?

Halt die Klapp, Bix, du verstehst nicht.

Doch, ich glaube, ich verstehe. Es geht hier gar nicht um einen Managerjob oder um einen Freund, hab ich recht? Es geht hier um mehr.

„Er sieht die Dinge anders als wir beide, Steven.“, sagte Jess ins Telefon.

„Ja, du – hör mal, Jess …“

„Nein, nein, lass mich. Bitte.“

„Jess!“

„Nein!“, machte sie bestimmt. Es war so heftig, dass der Barmann zu ihr rüber sah. Jess wandte sich mit einem entschuldigenden Lächeln, nach dem ihr überhaupt nicht zumute war, ab und senkte die Stimme.

„Steven. Ich vermisse dich. Und das schon lange. Ich weiß nicht, ob ich dir oder ob ich mir oder sonstwem immer was vorgemacht habe, aber …“

„Jess!“, Stevens Stimme war nur ein erschöpftes Flüstern. So klingen Tiere, wenn sie kurz davor sind zu sterben.

Jess fühlte sich elend.

„Ach komm, ich sag doch nur, dass ich dich vermisse.“ Und zwar seit etwa sieben Jahren. „Ich will dich nicht verlieren, ok?“

„Jess, es ist spät. Lass uns die Tage nochmal reden, ja? Ich muss morgen früh raus. Tom hat morgen einen Arzttermin. Es geht um sein Herz. Es gibt da so viele Komplikationen, …“

Er ist besser dran, ohne dich, Jess. Und weißt du warum? Weil jeder Mann besser ohne dich dran ist.

Bix!

Lass mich. Ich will an die frische Luft, ja? Ich will darüber nachdenken, ob du es Wert bist, Jess.

Bix! Komm heut Abend bitte, ja?

„Steven, was haben wir getan?“, fragte sie.

„Viel. Zu viel, um am Telefon darüber zu reden. Ich muss los, Barbara ist wach geworden. Wir reden. Aber nicht mehr um diese Uhrzeit.“

Dann hatte er aufgelegt.

Dann hatte er die Tür hinter sich geschlossen.

Und war zurück ins Bett gegangen.

Und war die Treppe nach unten gegangen und auf die Straße und werweißwohin.

„Na?“, der Wolfsfremde ließ sich müde neben ihr auf den Hocker fallen. Er sah aus wie einer, der jeden Augenblick sterben würde. Aschfahl war die Haut geworden, fast gelblich. Und die Zähne sahen nicht mehr so aus wie Reißzähne, sondern wie eine Prothese, die zu groß war und das Gesicht unnötig deformierte.

„Jess, ich hab geredet, ich hab getrunken, ich hab der Musik zugehört und ich hab das Bier unter brennenden Schmerzen wieder rausgepinkelt. Sowas kommt mit dem Alter. Da kann das beste Timing nichts dran ändern. Ich werd dann jetzt gehen. Es sei denn, wir beide finden eine Übereinkunft.“

„Gehen Sie.“, sagte Jess. Sie fühlte sich genauso elend und müde wie der Wolfsfremde aussah.

„Gut.“, der Fremde nickte und stand auf. Er wagte tatsächlich keinen zweiten Anlauf mehr. Er hatte seine Rede gehalten, wie er sie vielleicht auch vor sieben Jahren vor Steven gehalten haben mochte. Er hatte geredet, gepokert und gedealt. Ein Strippenzieher.

Wenn bei einem Pärchen einer Drogen nimmt, Jess, dann sind meiner Erfahrung nach immer zwei süchtig. Der eine kann die Finger von den Drogen nicht lassen. Der andere ist süchtig nach dem Gefühl der moralischen Überlegenheit.

Das ist nicht wahr, Bix. So bin ich nicht.

Beweis es! Jetzt und hier! Beweis es!

Da war dieses Bild, an das sie vorhin schon gedacht hatte. Sie, wie sie im Bett lag und die Sonne ihren Rücken in breiten Streifen wärmte. Und er, der am Kopfende saß und ihr beim Schreiben zusah.

„Nicht dein Ernst, JJ. Jetzt willst du schreiben?“

„Sei still. Einen besseren Augenblick zum Schreiben gibt’s ja wohl nicht.“, sie biss sich auf die Lippen und genoss es, wie er ihren nackten Körper mit den Blicken abtastete.

Es kam Jess so vor, als ob dieses Bild auf der Oberfläche ihres Getränks trieb. Während sie das Glas sanft drehte, glitten sanfte Wellen über diese Erinnerung hinweg ohne sie zu trüben.

„Halt.“, sagte sie laut.

Der Wolfsfremde hatte die Tür schon erreicht, jetzt drehte er sich um.

„Wie läuft das? Soll ich irgendwo unterschreiben? Mit Blut oder so?“

Er lächelte. Und jetzt war es wieder der Wolf, der sie ansah. Der Wolf, der gierig vor seiner Beute saß und der das kostbare Fleisch schon zu schmecken glaubte.

„Hier.“, der Wolfsfremde hatte einen Zettel aus seiner Manteltasche gezogen und schob ihn zu ihr rüber. Eine helle Seite und eine dunkle. Auf der hellen Seite stand ihr Name. Sie drehte ihn um und auf der Rückseite stand „Steven“. Es war seine Schrift.

„So machen wir das?“

Er nickte und als sie auf den Tresen blickte, lag da ein neuer, leerer Zettel.

Auf die eine Seite schrieb sie „Bix“. Und auf die andere „Tom“.

Dann gab sie den Zettel zurück.

„Sieben Jahre.“, sagte der Wolfsfremde zu ihr.

„Ein Glück gegen ein Glück.“, sie hatte kaum noch Stimme.

„Es ist eine gute Nacht für einen Deal.“, meinte der Wolfsfremde selbstgefällig. Dann setzte er sich und gab ein Zeichen, dass er doch noch einen trinken würde.

Sie sah ihm dabei zu, wie er den Zettel ganz langsam in seine Tasche steckte, so als wolle er ihr zeigen, dass sie es sich jederzeit nochmal anders überlegen konnte.

(06/2017)

One thought on “Der Siebte Himmel (2/2)

  1. Pingback: Mystery Blogger Award | Odeon

Was sagt ihr dazu?