Der weinende Junge (1/2)

Southern trees bear strange fruit
Blood on the leaves and
Blood at the root
(Billie Holiday)

Seit Caroline Berger verschwunden ist, gibt es für mich keinen richtigen Schlaf mehr. Ich hatte die letzten Tage mit ihr verbracht und ich hatte das Schreien und das Weinen gehört, als die Katastrophe über sie gekommen war. Obwohl die Polizei überall gesucht hatte und Carolines Familie sogar über die Sozialen Netzwerke des Internets Bilder von ihr in die Welt verteilt hatten, konnte sie nicht gefunden werden, so als wäre sie vom Erdboden verschluckt worden, wie man so sagt. Ich bezweifelte von Anfang an, dass jede angestrebte Bemühung erfolgreich verlaufen würde. Und wenn es noch einen Erfolg geben würde, ich wollte nicht dabei sein, wenn man sie findet. Mir kommt ein kalter Schatten über die Seele, wenn vor meinen geistigen Augen ihr Bild erscheint.

Ich hatte Caroline Berger auf meiner ersten Tour als Reiseschriftsteller für den Andernort-Verlag kennengelernt. Sie war meine Expertin für neuere Kunstgeschichte, insbesondere für die Kunst aus den Jahren kurz nach dem zweiten Weltkrieg und für Künstler aus dem Süden Europas.

Sie hatte einen etwas morbiden Geschmack, wie ich zugeben muss. Sie mochte am liebsten die Bilder, die einen dunklen Nachgeschmack hatten oder denen etwas Sinistres anhaftete. Sie begleitete mich damals für zwei Monate durch Italien. Und allein in Venedig kaufte sie an einem kleineren Marktstand in einer gut versteckten Seitengasse, die nur über die Zufahrt eines Kanals zu erreichen war, drei sehr düstere Ölgemälde eines Künstlers namens Franchot Seville.

Nachdem mein Projekt in Venedig abgeschlossen war, kehrten wir beide nach Deutschland zurück. Sie hatte ein kleines Häuschen in einer waldigen Gegend im Westen des Saarlands. Und wie sie mir verriet, waren die Saarländer sehr heimatverbunden und ortstreu. Sie schwärmte geradezu von ihrem Heimatdorf, ein kleines Fleckchen Erde, wo sie ihre Kindheit schon verbracht hatte und das sie groß gezogen hatte. Wir blieben in Kontakt, was dank moderner Medien immer recht einfach ging. Ich hatte auf meinen Reisen oft festgestellt, dass die Welt dank Internet kleiner und gemütlicher geworden war. Auch wenn wir uns de facto aus den Augen verloren, schrieben wir uns beinahe regelmäßig und chatteten miteinander. So erfuhr ich, dass sie anfänglich zwar sehr wohlwollend und geradezu liebevoll in ihrem Heimatdorf Schwarzholz aufgenommen worden war, aber immer öfter mischten sich kleine Schwermutanfälle in unsere Gespräche, bis sie mir gestand, dass das Leben in diesem Dorf nicht mehr ganz so einfach war.

Nach und nach hatten sich die Menschen in ihrer Umgebung aus albernen Gründen zurückgezogen. Der Aberglaube der alten Dorfbewohner machte ihr zu schaffen und dann berichtete sie mir, dass es einen schweren Unfall gegeben habe, für den sie sich überhaupt nicht verantwortlich und gar beteiligt gefühlt hatte, bis ihr nach und nach neben Abweisung auch Aggressivität entgegenschlug.

Und dann schickte sie mir eine Mail und bat mich, sie zu besuchen, denn sie fühle sich einsam und von all ihren Freunden und Bekannten verlassen. Unsere Brieffreundschaft schien ihr letzter Ankerpunkt im Leben zu sein.

Die venezianischen Bilder dieses Sevilles waren die Ursache für ihre Einsamkeit geworden, wie sie mir in jener Nacht mitteilte, als ich zu ihrer Wohnung kam.

Gestern noch hatte ein wunderschöner Sommer über ihrem Dörfchen gelegen. Aber am Tag meiner Ankunft hatte sich in Schwarzholz der das hügelige Dorf umschließende Buchenwald bereits rot gefärbt. Die Sonne ging gerade unter, wodurch die rotgold gefärbten Himmelszüge die Baumwipfel aufleuchten ließen und in der hangaufwärts gerichteten Hauptstraße, die, je weiter man fuhr, immer holpriger und schlaglöchriger wurde, strahlten die alten Fassaden der windschiefen Häuser, als wären es statt ihrer Paläste.

Ich telefonierte gerade mit meinem alten Verleger, der Caroline auch flüchtig gekannt hatte. Und als ich ihm sagte, dass ich gerade Schwarzholz einfuhr und ihn warnte, dass ich nicht wusste, wie gut der Empfang noch weiter sein würde, schickte er sich an, mich vor Caroline zu warnen. Er sagte mir, dass sie ihn in den letzten Wochen mehrfach kontaktiert hatte und auch wenn er selten zu diesem Wort neigte, er rang sich dazu durch, Caroline als aufdringlich und sogar als „vielleicht gefährlich“ zu bezeichnen. Deswegen erschauerte ich fast als Carolines Haus vor mir sichtbar wurde. Es war das letzte Haus der Hauptstraße, die tatsächlich in einer Sackgasse endete, von wo aus man tiefer in den Wald hinein wandern konnte. Ein kleiner Parkplatz gegenüber ihres Hauses hielt gerade Platz genug für fünf kleine Autos. Eins davon gehörte ganz offensichtlich Caroline, ein blauer Opel Kombi. Der großzügige Kofferraum war vollgestopft mit alten Bildern, Decken und Tüchern. Er sah tatsächlich so aus, als ob er die beste Zeit hinter sich hatte: die hintere Seite war verrostet, ein paar Dellen hier und da, die Seitenscheibe an der Rückbank war gesprungen. Aber als ich näher kam, sah ich, dass der Schaden viel größer und vor allem andersartiger geartet war, als ich anfangs angenommen hatte: Die Räder waren nämlich allesamt platt, wahrscheinlich aufgestochen. Und auf die Heckscheibe hatte jemand „Schlampe“ geschrieben, wahrscheinlich mit Malerfarbe und einem breiten Pinsel. Beide Parkplätze neben ihrem Wagen waren noch frei. Also wagte ich es, dort zu parken und wunderte mich noch, dass direkt vor meinem Wagen, an eine schmale, bemooste Mauer gelehnt, zwei Feuerlöscher standen. Beim Aussteigen sah ich ein älteres Ehepaar, das am Waldrand stand und mich feindselig musterte.

Als ich dann auf dem Weg zu Carolines Haustür war, einen Koffer in jeder Hand, sah ich ihnen noch einmal in die Gesichter hinüber. Sie standen vielleicht fünfzig Meter von mir entfernt und natürlich standen sie im Halbschatten des Waldsaums, aber ich hätte blind und naiv sein müssen, wenn ich ihren Hass nicht wahrgenommen hätte, der mir gefühlt physisch entgegenschlug.

Ich musste über diese Ängste lächeln und hoffte inständig, dass auch Caroline stolz und erhaben über diesen feindseligen Gefühlen stehen konnte.

Es gibt Menschen, denen kann man ein halbes Leben nicht nahe sein, man verändert sich, verliert sich, sucht sich, findet sich neu und dann steht man dem eigentlich Fremdgewordenen gegenüber und ein einziges Lächeln genügt, dass einem wieder wohl wird und man sich genau wie beim ersten Mal wieder nahe ist binnen Sekunden.

Carolines Lächeln war so offen und herzlich, dass ich mich sofort wohl und zu Hause bei ihr fühlte. Ich hatte fast sogar ein schlechtes Gewissen, nicht schon viel eher einfach grundlos bei ihr vorbeigeschneit zu sein.

Dann führte sie mich durch ihr Haus, zeigte mir die offen angelegten Zimmer und den Anbau, in dem ich für die nächste Zeit Quartier beziehen konnte.

Sie ließ mich auspacken, dann aßen wir gemeinsam zu Abend und wagten anschließend einen gemütlichen Rundgang durch das Dorf, auf das ich einerseits zwar durchaus neugierig war, andererseits aber auch im Interesse meiner Freundin schon von Anfang an Antipathie empfand. Wenn mich die Reisen, zu denen mich mein Beruf gebracht hatten, etwas gelehrt hatten, dann das: Ein Mensch, der fürchtet, ist, je irrationaler die Angst, umso skrupelloser und daher umso gefährlicher.

Sie erklärte mir dann auch schnell die wichtigsten Ereignisse, die zu ihrer Sonderrolle im Dorf geführt hatten.

Alles begann tatsächlich mit einem ihrer venezianischen Gemälde. Es ging um ein einziges Bild, das Portrait eines weinenden Kindes, ein Junge mit pausbackigem Gesicht und rot geränderten Augen. Er war sehr naturalistisch und detailliert gemalt und auf der linken Wange hing ihm noch eine dicke Träne. Die Haare hingen etwas zerzaust, wenn auch strähnig in seine Stirn hinab. Er sah den Betrachter aus dem Bild heraus unvermittelt an und selbst Caroline gab zu, dass dieser Blick, der so voller Trauer und Schmerz steckte, auch ihr Unbehagen verursachte. Aber genau dies, fuhr sie fort, sei es auch, was dieses Bild so besonders machte.

Ich sollte verstehen, dass es eine Sache sei, ein weinendes Kind zu malen oder eine hässliche Landschaft. Aber jeder, der genug Talent besaß, war dazu imstande etwas Schönes auf die Leinwand zu bringen. Schöne Dinge können uns oft ganz leicht bewegen, indem Sie uns nämlich gefällig entgegentreten und gut inszeniert sind. Aber in der Malerei ein negatives Gefühl, ein Unwohlsein oder sogar Abscheu bis hin zu Ekel hervorzurufen, dazu gehöre mehr als Talent.

Sie verglich das mit der Literatur, wohl damit ich das besser verstehen könne. Was, wollte sie wissen, wären die wohl schwersten Gefühle, die man in der Schriftstellerei hervorrufen könne.

Ich gestand ihr, dass ich da raten müsse, weil ich mir darüber nie Gedanken gemacht hatte. Und so kam ich nach kurzer Überlegung zu „Lachen“. Es sei wohl am schwierigsten, einen Menschen durch eine erzählte Geschichte zum Lachen zu bringen. Amüsieren, gestand ich, sei sicher einfach, auch dass jemand beim Lesen vielleicht schmunzele. Aber ein wirkliches, herzhaftes Lachen, das hielt ich für sehr schwer.

Vielleicht sagte ich das aber auch nur, weil mir selbst die wirklich humorvollen Schreibstile nicht gelingen wollten und sowohl ich als auch mein Verleger mich daher als recht humorlos ansahen.

Sie dachte über meinen Tipp nach, dann fragte sie, was ich denn über Angst dächte. Und da meinte sie echte Angst. Nicht das kurze Unwohlfühlen, das wohlige Schauern, das einen überkommt, wenn man im Dunklen die Kellertreppe hinabsteigen müsse. Das Gruseln, das einen überfalle, wenn man durch eine undurchschaubare Nacht wandere. Sie rede von Angst, echter Angst, die einen dazu brächte, das Buch wegzulegen oder zumindest einen inneren Kampf hervorriefe, das Buch weiter zu lesen.

Niemand, gestand ich, könne dieses Gefühl in der Kunst hervorrufen. Denn die Kunst sei nur ein Spiel mit der Realität. Es gab Regeln in der Kunst und eine dieser Regeln war, dass die Kunst eben nicht die Realität ersetze. Ein Gemälde könne einem zwar Furcht einflößen, aber es könne einen ja nie angreifen oder verletzen. Und daher war jede echte Angst, wie sie das nannte, völlig irrational und ignoriere die Regeln und die Naturgesetze. Und so sei es auch mit Büchern. Man wisse, dass ein Buch keinen Einfluss auf das eigene Leben haben kann. Ein Buch kann eine Figur enthalten, die einen zu erschrecken vermag. Aber sie kann nie aus dem Buch austreten und ernsthaft gefährlich werden. Wenn deshalb – gesetzt der Fall, es handele sich um ein wirklich gutes Buch – Neugier über den Fortgang der Geschichte und Angst vor der Figur einander begegnen, dann wird dieser Kampf auf jeden Fall von der Neugier gewonnen, weil sie rational die besseren Argumente hat.

Meistens werden die Leser solcher Bücher am Ende auch belohnt und die erschreckenden Figuren erleiden das Schicksal, das sie verdienen.

Sie stimmte mir zu und dann sah sie mir tief in die Augen und erklärte mir feierlich, dass genau dies der Grund sei, weshalb alle Kunstwerke, die an eben diese Irrationalität grenzten, die ihr nicht nur Furcht, sondern etwas kurz vor Angst einflößten, Respekt verdienten. Mochten die, die das nicht verstehen, sie als morbide oder gestört verurteilen. Das sei ihr so gleichgültig wie nur was. Aber sie umgab sich gern mit dem Zauber des Grenzensprengenden, dessen sicherer Indikator das Unheimliche sei.

Dieses Bild nun eben, der weinende Junge von Franchot Seville, hatte von Anfang an ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen und den Eindruck des Furchtbaren hervorgerufen. Es sei allerdings auch schwer zu beschreiben, gestand sie. Ob es nun die dunklen Farben seien, der fast monochromatische, dunkle Hintergrund, der direkte Blick des Kindes, oder ob es der simple inhaltliche Kontrast sei zwischen der Unschuld des Kindlichen und der Verletzbarkeit der menschlichen Seele, die wie ein zersplitterter Spiegel hinter diesen tränenden Augen sichtbar geworden war.

Sie wusste es nicht festzumachen, vielleicht sei es die Summe, die den Eindruck ausmachte. Aber Tatsache war, dass sie nicht die einzige sei, die so fühlte.

Womit sie zum ersten Ereignis kam. Es musste ein halbes Jahr nach ihrer Rückkehr ins Saarland passiert sein. Und hatte damit zu tun, dass sie sich vorgenommen hatte, bei einem landeskundlichen Museum sich ehrenamtlich zu engagieren. Im Zusammenhang mit einer Ausstellung für die sie Bilder zum Thema Märchenhafte Kinderzeit beisteuern wollte, erinnerte sie sich wieder an das Bild des weinenden Jungen. Das lag noch unausgepackt in einem Lagercontainer in der Nähe. Gemeinsam mit dem jungen Museumskurator Jan Siebert fuhr sie dorthin und gemeinsam durchsuchten sie die in speziellen Gemäldekisten gelagerten Schätze. Sie hatte ihm das Bild vom weinenden Jungen grob beschrieben, wohl aber nicht dessen intensive Wirkung auf das menschliche Gemüt. Und selbst wenn, als Siebert auf den Seville stieß, als ihn der intensive Blick dieses Jungen traf, der von Schmerz und Qual durchzogen war, durchfuhr das Entsetzen wie ein glühender Blitz den Mann. Die Hände verkrampften sich wie unter starken Stromschlägen an dem Rand des Gemäldes, zugleich stieß es ihn aber auch zurück, sodass er rücklings in dem engen Container stolperte.

Das Buch „Vistas pintores modernos“, eins der wenigen wissenschaftlichen Werke, welches Franchot Seville wenigstens erwähnt, nennt ihn in einem Atemzug mit Theodor de Bry, Füssli, Goya, Pickman und anderen Malern, deren Oeuvre für außergewöhnliche Reaktionen und Wirkweisen bekannt sind. Weder über den weinenden Jungen findet man hier etwas Genaueres geschrieben noch über andere konkrete Werke des Malers. Aber immerhin scheinen zwei Dinge verbrieft zu sein: einerseits handelt es sich um einen sehr auffälligen Maler mit einer zwar vagen aber nichtsdestotrotz in der Kunstwelt wahrgenommenen Biografie, andererseits gibt es eine Liste von 179 Gemälden, die zweifelsfrei Seville zugeordnet sind.

Über die Gemälde heißt es, ihr Fotorealismus sei derart tief, dass man bei adäquaten Lichtverhältnissen den Eindruck gewänne, Tränen oder Schweißperlen würden tatsächlich über die Haut nach unten rinnen. Die Augen der Kinder auf den Gemälden scheinen den Betrachter sehr intensiv zu fixieren. Unter ihren Blicken fühle man sich unruhig, verfolgt, es sei abgeraten, sich den verstörenden Bildern dieses Malers auszusetzen, wenn man selbst über eine labile Natur verfüge oder anfällig sei für die Auswüchse einer ungesund lebhaften Fantasie.

Ob Siebert nun eine solche anfällige Natur hatte oder nicht, jedenfalls habe der Schrecken ihm tief in den Gliedern gesessen und er hatte sich vierundzwanzig Stunden Bedenkzeit erbeten, ob Bilder dieser Art nun in der Ausstellung Platz finden könnten oder nicht.

Doch eine Entscheidung sollte nicht mehr notwendig sein, denn noch in der selben Nacht gab es auf dem Containerhof ein größeres Feuer und der überwiegende Teil aller Gemälde, die Caroline in ihrem Leben gesammelt hatte, fiel den Flammen zum Opfer. Die einzigen Bilder, die unversehrt geblieben waren, hingen nun in ihrer Wohnung oder lagen im Kofferraum ihres Kombis.

 

zur  Fortsetzung geht es hier lang: Teil 2

Was sagt ihr dazu?