Der weinende Junge (2/2)

Und damit, schloss sie den ersten Teil ihrer Erzählung, hatte alles dann begonnen: Es dauerte nicht lange, bis man mich, dümmer noch, das Bild für den Brand verantwortlich machte. Über die lokale Presse und dank eines schlecht recherchierten Artikels im Saarsteinboten von einer Reporterin namens Su Höpfner verbreitete sich das Gerücht, das einzige, was bei diesem Brand nicht zerstört worden sei, wäre das Gemälde des weinenden Jungen. Von da aus war es nur noch ein geringer Schritt zu der Behauptung, das Bild sei verflucht oder bringe Unglück.

Zunächst sei diese Behauptung natürlich nur belächelt worden. Aber immerhin war ein Interesse geweckt, dessen sich das Museum nicht mehr entziehen konnte. Sofort wurde beschlossen, das Bild in die Ausstellung aufzunehmen und ihm einen Sonderplatz in einem Pavillon zu gewähren. Caroline wurde beauftragt, alles über das Gemälde und den Maler ausfindig zu machen und über den Saarsteinboten zu publizieren. Die eigentliche Hoffnung bestand darin, dass Caroline tatsächlich auf weitere Unheimlichkeiten oder Ungereimtheiten stoßen würde, die das Interesse an dem unglückbringenden Gemälde bis zur Vernissage nähre.

Da die Quellen über den Seville sehr dürftig waren und selbst das Internet nur spärlich Informationen bereithielt – alle konzentrierten sich auf die dunkle Atmosphäre der Bilder der weinenden Kinder – reiste sie auch wieder nach Venedig und nach Rom, Sevilla, Barcelona und Madrid. Sie folgte jeder erdenklichen Spur und konnte am Ende tatsächlich mit einen kleinen Ordner mit fundierten Informationen aufwarten. Zufrieden mit ihren Ergebnissen flog sie nach Hause zurück und erfuhr erst nach ihrer Ankunft, was in der Zeit ihrer Abwesenheit alles geschehen war.

Es hatte tatsächlich einen weiteren Brand gegeben, diesmal war das Lager des Saarsteinboten in Brand geraten. Die freie Journalistin Susanne „Su“ Höpfner sei bei dem Versuch den Brand zu löschen ums Leben gekommen. Wie es das Unglück wollte, fand man am nächsten Tag in den Trümmern ihre nicht mehr zu identifizierenden Überreste. Und in der Hand hielt sie eine Ausgabe des Lokalblattes.

Ich wunderte mich, dass man die Leiche aufgrund des Feuerschadens nicht mehr identifizieren können sollte, aber in der Hand noch eine Zeitung übrig geblieben sei. Caroline nickte bedächtig und ergänzte, dass alles noch viel merkwürdiger und schlimmer sei. Denn wie stark musste es die Fantasie der Dörfer angeregt und all die abergläubigen Hirngespinste bestätigt und genährt haben, als in der nächsten Ausgabe des Saarsteinboten stand, das Blatt in der Hand der toten Su Höpfner sei der Artikel über den weinenden Jungen Sevilles gewesen inklusive eines völlig unversehrten Fotos des Gemäldes.

Als sie so weit erzählt hatte, konnte ich ein lautes Lachen nicht mehr unterdrücken. Die Zufälle, die diese Geschichten prägten, waren gewiss außergewöhnlich und bargen auch den Reiz des Unwahrscheinlichen, aber es waren eben nicht mehr als zufällige Übereinstimmungen, vielleicht sogar nicht mal das. Ich verriet ihr, dass sich meiner Meinung nach zu viel an der überheizten Fantasie eines Redakteurs eines kleinen Dorfblättchens festmachen ließ und zweifelte den Wahrheitsgehalt der geschilderten Geschichten mit nur allzu deutlichen Worten des Spottes an. Ich hatte die Hoffnung, dass mein Spott über die unheilvollen Spekulationen des Saarsteinboten meine Sympathie zu Caroline und mein Mitgefühl über ihre tragische Rolle in dieser Geschichte zum Ausdruck bringen konnte. Nur erzielte mein Spott leider nicht die gewünschte Wirkung.

Im Gegenteil, sie wurde sogar schweigsamer, hakte sich bei mir ein und legte den Kopf an meine Schulter, nur um nicht mehr erzählen zu müssen. Sie bedankte sich noch einmal sehr traurig dafür, dass ich gekommen sei und dann meinte sie, dass auch morgen noch ein Tag sei, um weiter über die Menschen von Schwarzholz reden zu können.

Gerade als ich in dieser Nacht in den Schlaf fiel, vermeinte ich merkwürdige Geräusche von draußen zu hören. Es waren jaulende Töne und flüsternde Stimmen, die miteinander um Vorrang kämpften. Ein stetig ansteigender Wind, der vom nahenden Herbst kündete, trug mir diese Töne durch das halb geöffnete Fenster in den nahenden Schlaf hinein und färbte mir meine Träume.

Umso heller und freundlicher erschien mir der kommende Morgen.

Ich hatte schon lange nicht mehr Zeit in unmittelbarer Nähe zu so viel Natur verbracht und war über mich selbst amüsiert, wie sehr inzwischen ein Stadtmensch aus mir geworden war. Das schrille Gezwitscher eines Vogels amüsierte mich, obwohl er mich weckte, noch bevor die Sonne aufging. Ich zog die Gardinen vom Fenster und sah auf einem Ast direkt vor mir einen recht großen, dunklen Vogel sitzen, der mit leuchtend roter Schwanzspitze auf und ab wippte und ein sehr helles Fiepen zum Besten gab. Ich sah aber auch etwas anderes: der Innenraum von Carolines Kombi leuchtete rot. Es dauerte eine Sekunde, bis ich begriff, was da unten vor sich ging. Hastig stürzte ich aus meinem Zimmer und brüllte auf dem Weg zum Ausgang meiner noch schlafenden Freundin zu, dass ihr Auto brenne, hoffend, dass sie davon geweckt werden würde.

Als ich schließlich unten ankam, waren die Flammen im Innenraum unübersehbar. Ich stürzte sofort zu einem der Feuerlöscher, über die ich mich gestern noch gewundert hatte und machte mich ans Löschen. Als Caroline wenig später im eng geknoteten Bademantel zu meiner Seite erschien, war das Feuer bereits unter Kontrolle. Sie sah aus, als würde sie jeden Augenblick in Tränen ausbrechen.

Es stand für mich außer Frage, dass das Dorf mit solchen Aktionen zu weit ging. Aber Caroline schüttelte nur den Kopf und meinte, ich sollte einfach alles so lassen und zum Frühstück hereinkommen.

Ihre stoische Art, mit denen sie diesem Unglück begegnete, machte mich bis weit nach dem Frühstück sprach- und fassungslos.

Auch dass sich weder Polizei noch Feuerwehr bei uns meldeten oder sich einer der Nachbarn nach unserem Befinden erkundete, irritierte, entgeisterte mich sogar.

Die Situation war denkbar irreal geworden und Carolines fröhliche Natur wirkte wie hinter eine dicke Schicht Eis gepackt. Zwar lächelte sie, redete mit sanfter Stimme über Nettigkeiten, die ihr in den letzten Jahren im Dorf zuteil geworden waren, aber sie war nicht ganz sie selbst. Viel zu blass sah sie aus, aber das war kein Wunder, bedachte man, dass sie wahrscheinlich kaum ein Auge zugemacht hatte und dann auch noch weit vor Sonnenaufgang durch ein Feuer geweckt worden war. Sie sah viel älter aus als gestern noch. Und alles an ihr, jedes Lächeln, jede Körperbewegung, wirkte wie von unendlicher Müdigkeit überschattet.

Wenn ich denn mochte, sagte sie mit einem Mal, könne ich in den Akten blättern, die sie über den geheimnisvollen Maler zusammengetragen hatte. Und da mir nichts Besseres einfiel, willigte ich ein.

Es war tatsächlich nur ein schmaler Ordner und ich erwartete auch nicht sonderlich viele hilfreiche oder interessante Informationen. Im Prinzip hatte sie mir abends zuvor ja bereits einen groben Überblick gegeben.

Während sie sich auf der Couch ausruhte, von einer roten, filzigen Wolldecke umschlungen, las ich, was ihre monatelangen Recherchen für Ergebnisse eingefahren hatten.

Franchot Seville war je nach Quelle entweder Spanier, Italiener, Franzose oder Tiroler. Allen Quellen war lediglich gleich, dass er im Januar 1911 geboren worden war und 1981 in Padua starb. Caroline hatte tatsächlich einen Grabstein des Malers aufgetrieben, wo der Vorname allerdings fehlte und statt ein „F“ ein „V“ eingetragen war. Trotzdem stimmten die Lebensdaten überein und die Grabunterschrift lautete übersetzt:

Das Aug’ fängt ein die Schmerzen der Welt
Der Blick übergibt der Welt die Qual

Das Grab war zugewachsen mit dichten Bodendeckern. Aber auf einem zweiten Bild konnte ich erkennen, dass Caroline sich die Mühe gemacht hatte, die Pflanzen zur Seite zu rücken und darunter zwei grobe Steinplatten zum Vorschein zu bringen: auf der einen war eine Sonne eingemeißelt, auf der zweiten befand sich eine Spirale. Sie hatte sich auf der Rückseite des Fotos notiert: Sonne = Gerechtigkeit; Spirale = Lebensspirale.

Das nächste Bild war ein altes Archivbild eines weitreichenden Gebäudes. Über der Tür stand mit geschwungenen Buchstaben: El orfanato; das Waisenhaus.

Die Anstalt war dem Heiligen Antonius gewidmet, dem Schutzpatron aller verlorener Dinge. Weshalb also nicht auch der Schutzpatron verlorener Kinder. Ich las, dass ein Mann, der sich auch als überaus talentierter Maler ausgab, zu Hausmeisterdiensten in der Zeit des Weltkrieges eingestellt wurde. Doch schnell wurde ihm von der christlich geführten Leitung des Hauses verboten, weitere Bilder zu malen. Der ihm gemachte Vorwurf lautete, er habe teuflische Kräfte, die er seinen Bildern einverleibe. Meiner Meinung nach passte die Beschreibung sehr gut zu unserem Seville und so ignorierte ich zunächst einmal Blätter, die andere Spuren favorisierten, mir aber deutlich abwegiger vorkamen.

Caroline zitierte tatsächlich aus einem spanischen Tagebuch eines Priesters, der regelmäßig das Waisenhaus zu besuchen schien. Der berichtete von einem hageren Mann, der vom Krieg nach Sevilla gezogen sei und daher seinen Namen in Seville änderte. Die Bilder, die dieser Mann im Gepäck hatte, wurden als sehr lebhafte Widerspiegelungen der Welt beschrieben. An einer anderen Stelle hieß es: Die Leinwände waren wie Fenster, durch die man nicht nur sehen konnte, sondern die auch zu einem herüber kamen. Hing ein Bild in einem Zimmer an der Wand, hörte man des Nachts die Stimmen, die aus dem Gemälde in die Wirklichkeit drangen. Gemalte Vögel schienen zu singen, Bäume zu rauschen, Wasser gurgelte und am furchtbarsten war: Kirchenglocken begannen zu läuten, von Nacht zu Nacht lauter und eindringlicher. Sie verstummten erst, als das Bild nicht mehr existierte.

Es sind keine menschlichen Kräfte, die hier den Pinsel geführt haben. Es können und dürfen keine menschlichen sein.

Ich wurde immer beeindruckter von der Arbeit und der Leistung, die Caroline da vollbracht hatte. Mir fielen Zeitungsartikel entgegen, die sie aber auch exzerpiert und in Zusammenhänge gebracht hatte. 1961 brannte das Waisenhaus ab. Das Wort „Feuer“ hatte Caroline dick mit rotem Textmarker eingekreist. Knapp über hundertfünfzig Kinder hatten die Feuersbrunst überlebt, die ausgegangen war ausgerechnet von einer Hausmeisterwohnung. Und ich hätte mein Leben darauf verwettet, dass es tatsächlich exakt 179 Kinder gewesen waren, die mit dem Leben davon kamen. Was aus den Kindern wurde, blieb in sämtlichen Artikeln, die Caroline hierzu gesammelt hatte, offen. Es gab einen, der erwähnte, dass der Hausmeister sich für die Vorkommnisse so schuldig fühlte, dass er an einem Weg arbeite, sich vorerst selbst um die Kinder zu kümmern.

Der Rest ließe sich meines Erachtens leicht selbst füllen. Auch die Frage war nun beantwortet, weshalb Caroline ihre Ergebnisse letztlich nicht doch im Saarsteinboten veröffentlicht hatte. Der Nährboten für den Aberglauben war hiermit bereitet und tragischerweise sogar gut recherchiert. Nicht auszudenken, in welche Richtung die Bewohner von Schwarzholz durch diese den Aberglaube nährenden Geschichten getrieben worden wären.

Ich fand zwei weitere aktuelle Zeitungsausschnitte aus dem Saarsteinboten, in denen davon die Rede war, dass es auf der Welt einige verfluchte Bilder gäbe und dass eine Katastrophe heraufbeschworen wurde, wollte man sich nicht darum bemühen, das Bild des weinenden Jungen aus dem Dorf zu verbannen, notfalls auch mit der Besitzerin des Bildes.

Inzwischen begriff ich die Faszination für die Macht des Aberglaubens. Und so drängte es mich, Caroline, die inzwischen eingeschlafen war, liegen zu lassen und nach unten zum Auto zu gehen, um mir nun endgültig selbst einen Eindruck von dem magischen Bild zu verschaffen. Hätte ich doch damals nur geahnt, welche Folgen mein Handeln haben würden! Wie oft habe ich mir selbst den Vorwurf gemacht, vielleicht doch zu ignorant dem Übernatürlichen gegenüber gewesen zu sein. Das Schreckliche schlummert in dieser Welt. Es wartet darauf, durch Dummheit oder Ignoranz geweckt zu werden. Es kann erahnt werden von den einfachsten Gemütern, gespürt werden von den innersten Regungen. Ich würde mich selbst belügen, wenn ich jetzt bestreiten würde, dass allein die Nähe zu dem Bild in dem Kombi in mir ein Gefühl von wachsendem Unbehagen auslöste. Nur überdeckten mein Spott und meine Verachtung, die ich den Menschen dieses Landstriches entgegenbrachte, die sanften Schwingungen feinster Fibrillen meiner sieben Sinne, welche seit meiner Ankunft durch etwas Dunkles und Abgrundtiefes ausgelöst wurde, was diesen Ort hier zu besiedeln gedachte. Es waren ganz leise Alarmglöckchen, ein sanftes Hintergrundgeräusch nur, das ich gekonnt zu überdecken und ignorieren gewagt hatte, aber das nichtsdestotrotz ununterbrochen dagewesen war.

Ich glaubte nicht an einen wahren Grund hinter diesem stets spürbaren Gefühl. Eher war ich gewillt den beiden Männern am Waldrand die Ursache für mein Gefühl zuzuschreiben, die dort standen und sogar mit Ferngläsern mich und Carolines Haus unter Beobachtung hielten.

Durch das gesprungene Heckfenster konnte ich die letzten beiden in Tuch gewickelten Bilder aus dem Auto ziehen und natürlich waren sie völlig unversehrt. Die Naturgewalt des Feuers selbst hatte sich ihrer nicht zu bemächtigen gewagt.

Der Himmel über Schwarzholz war inzwischen zu einer grauen Decke geworden, ein bleiernes Wolkenungetüm, das sich nach in Wirbeln und Knäueln tief nach unten stapelte, von schwarzen Schleiern umwickelt war und gleichzeitig von innen heraus glühte und von kleineren Blitzen marmoriert wurde.

Obgleich es auf die Mittagsstunde zuging, hatte das Tageslicht sich fast völlig zurückgezogen. Ein grauer Dunst erfüllte den Anbau, in welchen ich die beiden Bilder trug und sorgsam auf meinem Bett nebeneinander gegen die Wand gelehnt aufrichtete.

Doch ehe ich die Tücher von den Bildern zog und mich dem Schrecken der Sevilleschen Abbildungen aussetzte, fiel mein Blick auf einen Fetzen Papier, der wohl mit den Bildern eingewickelt gewesen sein musste und mir kurz vor dem Bett auf den Boden gefallen war.

Es war ein ausgeblichenes Papier, schon abgegriffen und dünn, durch das Feuer an den Rändern etwas verrußt, sonst aber noch gut sichtbar. Ich musste das Licht einschalten, um etwas lesen zu können. Aber das Licht ließ sich nicht betätigen, so als wäre eine Sicherung gesprungen. Ich fand ein paar Kerzen und setzte mich in dem flackernden Licht ganz altmodisch an einen Schreibtisch. Erst dachte ich noch, dass die Situation recht klischeebeladen sei, doch dann verlor ich mich auch schon in den Worten auf dem Pergament, deren Schriftbild mir sofort vertraut vorkam. Der spanische Priester von el orfanato di St Antonius schrieb offensichtlich über Franchot Seville. Ich begann zu lesen, ich armer. Ich wollte, ich hätte mich nicht ans Lesen gesetzt. So viel von dem, was anschließend geschah war so eng mit dem vernetzt, was durch dieses Papier durch die Zeit zu mir durchgedrungen war.

Wie viele gebeutelte Seelen müsste der Satan retten, ehe wir ihn nicht als Täuscher, sondern als Erlöser betrachten können? Es sind zweihundert sicher nicht. Wann immer ein dämonischer Geist Großtaten vollbringt, bedarf es des genauen Auges, dessen ich mich rühme, es zu haben. Sei wachsam, sofern du nicht selbst ein Opfer im Spiel der dunklen Mächte sein möchtest.

Rund zweihundert Kinder sitzen nach dem Inferno auf der Straße Sevillas. Ich bin mir sicher, dass sie das nicht täten, wenn wir den dunkelsten Zeitgenossen unserer Tage nicht in unsere Mitte aufgenommen hätten, aber sei es darum. Diesen Fehler bezahlten Francesco und Maria Corolé mit ihrem Leben, weil sie meinten, die größten Teufel hätte das reinigende Feuer des letzten großen Krieges aus der Welt vertrieben. Dass die Glut jenes Weltenbrands ausgerechnet uns einen Dämon wie ein Funkenschlag übersenden musste, konnte keine meiner Warnungen und keine meiner Vorahnungen verhindern.

Er hat sich ein Lager genommen in einer alten Industriehalle, freundlich zur Verfügung gestellt vom Bürgermeister, der ironischerweise kein geringerer ist als Francescos Bruder. Nichts konnte ich verhindern. Meine Rolle in diesem diabolischen Spiel scheint das Entdecken gewesen zu sein.

So zog ich eines Nachts ohne Vorankündigung oder gar einer Erlaubnis des Herrn Corolé zur alten Fabrik, um mich selbst davon zu überzeugen, ob es den zweihundert Seelen gut ginge.

Wie war mein Entsetzen, als ich all das Wehklagen und Schreien hörte, das Weinen und Jammern, die spitzen, schrillen Ausbrüche wilder Verzweiflung. Die menschliche Panik lässt die Stimme übernatürlich schrill klingen, spitz und sich überschlagend. Dass eine derartige Vibration, ein solch grauenhafter Tremolo auch aus kindlichen Kehlen zu dringen vermag, schnürte mir ein Band ums hart schlagende Herz und verschaffte mir den Entschluss, dem Treiben, was auch immer es sei, augenblicklich ein Ende zu setzen.

So überstürzte ich meine Schritte, hastete über Treppen und Absätze, an Maschinen vorbei, dem Stimmengetöse folgend, von denen kein einziger Partizipant mehr fähig zu sein schien, auch nur ein einziges Wort, und seien es „Hilfe“ oder ein simpler Laut des Schmerzes zu artikulieren. In meiner Einbildung sah ich die grausamsten Schrecken, derer ein Mann fähig ist, sie an Kindern zu verüben und empfand das tiefste Abscheu vor dem, der die Tatursache dieser Wehschreie sein sollte.

Dann kam ich zum Zentrum der Qualen, stürzte durch ein Portal und fand doch nichts von dem vor, was ich erwartet hatte. Nichts als Leinwände standen an die blanken Wände der großen Halle gelehnt. Und nichts als Kinder hatte der Teufel hier mit seinem grausigen Talent in zeitlosen Stillstand gebracht. Schmerzverzerrt und tränenüberströmt starrten sie mir alle entgegen. Jede Leinwand ein Bild eines Leids, das so tief, so abgrundtief, bis auf den finsteren Boden der menschlichen Seele reicht. Und am anderen Ende der Halle saß als einzig Lebendiger der Elende, mit seinem zu eng geschnittenen Anzug und den sich am Nacken kräuselnden Haaren, die inzwischen gänzlich ihre Farbe verloren hatten. Er saß da, ausgemergelt und kaum einer Regung fähig. Obwohl ich ihn anschrie, begriff er nicht, dass jemand sich zu ihm begeben hatte. Ich fuhr ihn an, wollte wissen, wo er die Kinder verborgen hielt, in welches Loch er sie gesteckt hatte. Schrie und tobte vor Angst um jede verwunschene Sekunde, in der ich sie schreien hörte, als sei es das Malebolge selbst, was ihre neue Heimatstatt geworden sei.

Je länger er mich ignorierte und mir die leibhaftigen Kinder nicht vor Augen standen, umso eindringlicher bewegten die Laute bis ins tiefste meiner empfindsamen Seele die noch so kleinsten Regungen. Ich sah mich um, sah nach verborgenen Kammern, nach Falltüren, Schächten, … Und immer stärker wurde mein Nervenkostüm bis zum Zerreißen gespannt.

Als ich schließlich wieder zu dem infernalischen Maler blickte, starrte er mich zum ersten Mal unverwandt an. Doch nichts an seinem Blick war noch mehr menschlich. Die Augen starrten, so als habe er zu tief in die dunkelste Dunkelheit geschaut, ausgeblichen und groß und rund, von gelblich roter Farbe durchsetzt.

Ich hörte meinen eigenen Schrei kaum, wohl aber seine Stimme, die nun zu flüstern begann: „Narr! Sie sind hier. Sie sind alle hier.“

Ein Blitz zuckte jetzt ganz dicht an meinem Fenster vorbei.

Ich erinnere mich, dass ich aufschrie. Aber viel von dem, was jetzt kommen sollte, ist in meiner Erinnerung nicht mehr so deutlich vorhanden. Und das empfinde ich noch bei weitem als das absonderlichste. Es irritiert mich, dass die Erzählung des spanischen Priesters mir so lebhaft vor Augen steht und sich dabei so anfühlt, als wolle sie dies auch für den Rest meines Lebens tun. Sie ist mir so farbig, so lebendig und echt, und ganz im Unterschied dazu verschwimmt die Erinnerung an das von mir tatsächlich erlebte. Ich sehe nur mehr Schemen, weiß noch, dass ich aufgeregt geworden war durch die Worte des Tagebucheintrags und zugleich angespannt. Nun lauschte ich natürlich, konnte aber nur den aufgekommenen Sturm hören, der vorm Fenster und über den Wäldern kreiste. Ich hörte das Heulen eines Windes und das Krächzen und Knarrzen von Bäumen.

Meine Augen taxierten die unter den Tüchern verborgenen Bilder.

Mir kam die Geschichte um den teuflischen Künstler mit seinen magischen Bildern noch immer abstrus vor, aber sie war gewiss geschehen. Es mussten wirklich unaussprechliche Dinge gewesen sein, die er den Kindern angetan hatte, nur um sie weinend vor seiner Staffelei zu haben.

Während ich wie hypnotisiert und mit den Gedanken an den Bildern einer fremden Erinnerung festhing, bemühte sich ein hintergründiger Teil meines Verstandes, eine eigene Erinnerung, ein eigenes Erleben zur Oberfläche zu schöpfen. War ich denn nicht damals dabei gewesen, als Caroline die Bilder in Venedig erworben hatte? Da musste ich doch den weinenden Jungen gesehen haben. Es wollte mir nicht zurückkommen. Doch etwas anderes gelang meiner Erinnerung aus den tiefsten Schächten des Erinnerns hervorzukramen.

Ich stolperte entsetzt auf die Beine und stürzte, von einem Augenblick der Erkenntnis getrieben aus meinem Zimmer.

Woran ich mich noch erinnere, sind die Stufen, die von meinem Gästezimmer zum eigentlichen Wohnbereich führten. Ich erinnere mich auch, dass ich auf einmal nicht mehr sicher war, ob der Sturm tatsächlich über dem Dach heulte oder ob die Geräusche nicht tatsächlich aus dem Wohnzimmer drangen. Das Heulen jedenfalls war so laut und durchdringend geworden, dass es mir durch Mark und Bein fuhr. Es war durchsetzt von laut zischendem Schnalzen mehrschwänziger Peitschen, die die Luft durchschnitten. Durchzogen von dem Jaulen und dem Kreischen, das klang, als werde es aus menschlichen Kehlen gepresst. Ich erinnere mich an die rote Decke, die quer über der Couch lag, an die rotgeränderten Blitze, die durch die Fenster das Wohnzimmer zuckend erhellten.

Ich rief nach Caroline, suchte sie in allen Winkeln ihres Hauses, suchte selbst als das Feuer, das sich vom Anbau inzwischen ausgebreitet hatte und den Rest des Hauses mit einer Geschwindigkeit und einer Wucht überrannte, als seien es die Flammen, die aus den zehn Sünderklüften der Hölle selbst gekommen.

Immer lauter musste ich nach ihr rufen, weil das Tosen und Brausen der Flammen und des Sturmes zu einem gewaltigen Rauschen geworden war, unter dem ich zusammenbrach und das Bewusstsein verlor.

Ich weiß, dass Caroline nicht mehr gefunden wird.

Ihr Haus am Ende der Straße ist in Rauch aufgegangen. Zwischen den Trümmern, begraben in der Asche hat man mich, eingewickelt in eine rote, filzige Wolldecke gefunden und wieder zu Bewusstsein gebracht.

Außer mir fand man natürlich noch zwei Ölgemälde:

Ein weinender Junge und ein monochromes Farbspiel, vielleicht die einfache Wand einer Fabrikhalle. Dunkle Farben, die etwas Furchtbares zu verbergen scheinen.

Woran ich mich erinnere? An eine Vergangenheit, die so weit entfernt ist, als wäre des das Leben eines anderen Menschen; an einen Marktstand in Venedig, woran eine glücklich lachende Frau namens Caroline Berger zwei Bilder kaufte, weil sie ihren morbiden Geschmack befriedigten. Die Bilder seien von einem Maler namens Franchot Seville, erklärte uns der Marketender, ein schlaksiger Mann mit zu eng geknöpftem Sakko und dünnen Haaren, aus denen schon längst die Farben gewichen waren. Seine blinden Augen verfolgen mich bis in die tiefsten Gründe des Schlafs der Gegenwart hinein.

(2017)

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