Der Zug der Wölfe (1)

In den Nachrichten nannten sie es den Zug der Wölfe. Auf einer Karte lief ein rotes Band Richtung Süden und wurde dabei immer breiter und halbkreisförmiger.  Als ob sich das Rudel während ihres Zugs vermehrt, dachte Andrew Yelzin. Er wusste, dass er zu dumm war, um die komplexesten Nachrichten immer richtig zu verstehen. Aber er wusste auch, dass es kein Sinn hatte, immer wieder sogenannte Experten zu interviewen, was die Ursachen für das merkwürdige Verhalten der wilden Tiere sein könnten. Denn Ursachen spielten im Leben selten eine Rolle. Von Experten abgesehen interessierte sich auch niemand dafür. Die meisten Menschen wollten eigentlich nur wissen, wie man sich zu verhalten hatte. Aber als die Nachrichtensprecherin mit den aufgeblasenen Lippen sagte, die betroffenen Menschen sollten sich am besten einfach zu Hause einsperren und abwarten, knurrte Andrew widerwillig den Fernseher an. „Dumme Nuss“, beschimpfte er die Sprecherin. „Ich lass mir gar nichts sagen. Vor allem keinen Unsinn.“ Als die Karte vergrößert wurde und zum ersten Mal die Namen von Dörfern und Städten lesbar waren, erkannte Andrew, dass die rote Linie sich sehr nah zu seinem Haus hinbewegte. Die Sprecherin sagte bedeutungsvoll: „Ich wiederhole!“ und dann – als ob sie geradewegs mit Andrew Yelzin sprechen würde – „Verriegeln Sie die Tür, verbarrikadieren Sie die Fenster. Bleiben Sie in Sicherheit.“ Er schaltete den Fernseher aus. Damit erlosch nicht nur die einzige Lichtquelle in seinem Zimmer, das nervige Rauschen, das er einfach nicht los wurde, hörte auch auf. Und damit erlosch ein großer Teil dessen, was ihn aggressiv machte. Jetzt war nur noch Natur zu hören. Konkret bedeutete das: der Wind heulte ihm um die schäbige alte Hütte und der Schnee klatschte ihm gegen die Fensterscheiben.  Seit vier Jahren lebte er jetzt schon hier draußen, im Zentrum größter Einsamkeit und Kälte. Er hatte in dieser Holzhütte Stürme überlebt, war beim Jagen in eine Bärenfalle getappt, die er selbst ein paar Jahre zuvor ausgelegt und dann vergessen hatte. Er hatte einen Finger verloren und bestimmt sogar einen großen Batzen Gefühl für Realität. Aber nicht ein einziges Mal hatte er daran gedacht, sich einfach einzuschließen und abzuwarten bis alles vorbei war.  Andrew war das, was man einen Widerstand nennen konnte. Er widerstand der Natur, widerstand der Einsamkeit, dem Tod. Er widerstand allem, was sich erdreistete, sich ihm in den Weg zu stellen. Schwerfällig beugte er sich zur Seite, angelte eine Flasche Whiskey aus einer Holzkiste und trank einen großen Schluck aus der Flasche. Das Außenthermometer zeigte -30 Grad an. Das war keine Temperatur für ein Wolfsrudel. Wölfe lebten hier in der Taiga gar nicht. Sie waren nicht geschaffen für diese Umwelt.  Die wenigen Tiersorten, die man im Winter hier oben antraf, waren klein und fett und so kurzbeinig und plump, dass sie so wenig Körperwärme als möglich verloren. So wie Vielfraße. Aber keine Wölfe. Als die ersten Meldungen vor einer Woche losgingen, hatte Andrew noch darüber gespottet. Und er hatte gesagt, dass wenn wirklich Wolfsrudel sich vom Norden her derart rasch und verheerend ausbreiteten, sie spätestens nach vier Tagen vom Winter der Taiga gefressen wären. Aber so war es nicht gekommen.  Angeblich hatten die Rudel – denn bei dieser Menge an Tieren konnte man nicht wirklich von nur einem einzigen ausgehen – ein Blutbad in einer staatlichen Wetterstation angerichtet, einen Tag später eine Forschungsstation überrannt und dann die zwei, drei vereinzelten Dörfer auf ihrem Weg dem Erdboden gleich gemacht. Wölfe, wiederholte Andrew Yelzin ungläubig. Einfache Wölfe!  „Na?“, fragte er in die Stille seiner Hütte hinein. „Na, sag mal einer, dass das alles wahr sein soll!“ Er lachte trocken. Was der Staat im Fernsehen ausstrahlen ließ, war nicht selten gelogen und in den allermeisten Fällen eine Verschleierung von ganz anderen Wahrheiten. Die Geschichte mit Jakutien fiel ihm ein. Waren es damals nicht auch angeblich Wölfe gewesen? Eine Wolfsplage, die den Rentierzüchtern von Jakutien zu nah auf die Pelle gerückt war. Man hatte wundervolle Bilder im Fernsehen ausgestrahlt, in denen gerissene Rentiere mit ihrem eingetrockneten Blut im Schnee lagen. Aufgeplatzte Bäuche mit heraushängendem Gedärm. Glotzäugige Schädel mit baumelnden Zungen. Und dann die aufgebrachten angeblichen Züchter, die mit der Faust in die Kamera drohten, denen vor Erregung beim Sprechen die Spucke Richtung Kamera flog. Die Regierung hatte sofortige Hilfe versprochen und Hubschrauber losgeschickt um wenigstens 80% der Wolfsrudel zu vernichten.  In Wahrheit hatte man gar keine Wölfe gejagt, sondern Menschen. Andrew wusste das.  Er kannte die wahren Geschichten hinter diesen Storys. Jede Headline versteckte eine andere, eine bitterere Realität. Menschen hatten sie gejagt und mit den Helikoptern und den vielen Schüssen ganz viel Schnee aufgewirbelt, dass man mit den verwackelten Kameras nicht richtig sehen konnte, ob da wirklich Wölfe oder Menschen zu Boden fielen. So war es bestimmt jetzt auch. Man hatte diese verrückte Geschichte von dem Zug der Wölfe erfunden, hatte die inszenierten Bilder von verwüsteten Städten gezeigt. Und demnächst würden Helikopter über die Taiga fliegen und jagen und schießen. Da würde Andrew Yelzin seinen halben Alkoholvorrat darauf verwetten. Sie würden über seine Hütte hinwegfliegen und später im Fernsehen Bildern von ein, zwei toten Wölfen zeigen und behaupten, man habe die Gefahr in den Griff bekommen. „Hurra auf den Präsidenten!“, rief er aus und salutierte. „Ein gewaltiges Hurra!“ Im selben Moment hörte er das Signal und erstarrte. Misstrauisch blickte er hinüber zum Fenster. „Was denkst du, was das war, Chef?“, fragte er in die Einsamkeit. „Welche Falle ist ausgelöst? Und was ist uns diesmal reingetappt.“ Er stellte die Flasche zurück in die Kiste und kicherte. „Wird wohl ein Wolf gewesen sein. Einer von der Vorhut.“ Obwohl es nicht seine Art war, mitten in der Nacht nach einer ausgelösten Falle zu sehen, stand er diesmal auf und zog sich an. Vermutlich gärte die Warnung der Nachrichtensprecherin in ihm und er wollte trotzig beweisen, dass alles in Ordnung war. „Wenn das jetzt ein Wolf ist, werd ich verrückt“, lachte er. Er lud seine Repetierbüchse, überprüfte in den Manteltaschen die restliche Munition, sein Messer und die Taschenlampe. Dann stapfte er raus in die schneidende Kälte. Nach dem Unfall mit der Bärenfalle hatte er jede Falle mit einem gesonderten Signal versehen und in der Umgebung Zeichen errichtet. Je nachdem, welches Signal ertönte, verriet es einen anderen Standort. Und selbst jetzt in der Nacht würde er nicht durch einen dummen Unfall in eine eigene Falle tappen können, weil er wusste, worauf er zu achten hatte. „Lass es nicht wieder ein umgestürzter Baum sein“, knurrte er. „Bäume schmecken nicht so gut wie Wölfe.“ Unterwegs freundete er sich mit dem Gedanken an, heute Abend wirklich einen Wolf essen zu können. Das wäre Abwechslung auf dem Speiseplan, nicht wahr? Die ausgelöste Falle war mitten im Wald. Als er an seinem Zeichen vorbeikam und wusste, dass es nicht mehr weit war, hielt er inne, nahm das Gewehr, schraubte die Lampe auf und näherte sich jetzt mit angelegter Waffe. Die einzige Regel der Wildnis, die wirklich zählte: Verletzte Tiere konnten sogar gefährlicher als Menschen sein. Aber die ausgelöste Falle war leer. Kein Zeichen von äußerer Einwirkung. Kein Blut. Nichts. „Schade“, murmelte Andrew Yelzin. Er war sich selbst treu genug, sich auch hier nicht um Ursachen zu kümmern.  Ohne die Umgebung weiter abzusuchen, trat er den Rückweg an, bei dem es zum Glück nur hangabwärts ging. Das Leben in der Einsamkeit, die die Natur ihm bot, hatte ihn von jeglichen Gefühlen gereinigt. Deshalb empfand er auf seinem Heimweg weder Frust noch Ärger.  Es hatte aber auch seine Sinne geschärft und selbst wenn er sich tief in Gedanken befand, wenn er für einen nächtlichen Spaziergang in diesen Temperaturen zu viel Alkohol intus hatte, selbst dann war ein überlebenswichtiger Teil seines Sinnenapparats aktiv und der warnte ihn jetzt. Obwohl nur ein verschwindend geringes Geräusch zu hören gewesen war, wirbelte sein Körper wie von selbst um die eigene Achse und fast wie von selbst sprang ihm das Jagdgewehr zurück in die Hände. Es war tatsächlich ein Wolf. Schwarz wie die Nacht aber mit im Taschenlampenlicht blitzenden Augen. Andrews Schuss war zu hektisch, zu unbedacht und nur von dem Schrecken und dem Allarmsignals seiner Sinne gesteuert gewesen. Die Kugel riss maximal eine Schneise in den Schnee hinter dem Tier. Gewöhnlich hätte der Lärm genügt, das Tier zu vertreiben. Es hätte ihn einen saftigen Braten gekostet und mehr nicht. Aber wenn Andrew Yelzin aufmerksam den Nachrichten gelauscht und auch nur die Hälfte davon geglaubt hätte, dann wäre ihm spätestens jetzt klar gewesen, dass dies keine gewöhnliche Situation war. Der Wolf fletschte die Zähne, senkte den Kopf und krümmte den Rücken. Der Schnee unter seinen Pfoten gab nach. Seitlich rutschte das Tier den Hang hinab, ließ dabei aber nicht eine Sekunde lang den Blick von seinem Feind. Andrew Yelzin dachte tatsächlich, dass ihm das Schicksal einen zweiten Schuss erlaubte. Für diesen Schuss wollte er sich so viel Zeit wie möglich lassen. Das Adrenalin verwandelte seinen Körper in eine Maschine. Die Kälte machte ihm nichts mehr aus. Er zitterte nicht mehr. Das Korn legte sich genau in die Mitte zwischen den Wolfsaugen. Es hätte nur ein kurzes Krümmen des Fingers gebraucht. Aber der Wolf stand auf. Vollkommen überheblich, dachte Andrew und grinste.  Dann erstarrte ihm das Grinsen. Denn aus der Dunkelheit trat jetzt ein weiteres Augenpaar. Und dann noch eins. Wolf für Wolf wurde von dem Schwarz der Nacht freigelassen. Sie kamen daraus hervor wie Geister, die sich langsam manifestierten. „Scheiße“, flüsterte Andrew Yelzin. Als ob der erste Wolf ihn verstanden hätte, schnaubte das Tier und Dampf stob ihm aus den Nüstern. Zu Andrews Entsetzen liefen jetzt einige Wölfe einfach an ihnen vorbei. Er hörte hinter sich ihre Schritte im Schnee. Teilweise langsam, dann schnellere, gehetztere. Nicht nur, als ob sie es eilig hätten. Sie hatten ein Ziel. Vielleicht, dachte er, vielleicht war es doch keine Propaganda in den Nachrichten. Aber dieser Gedanke kam ihm zu spät. Auch wenn er das Jagdgewehr noch hastig zur Seite riss, gelang es ihm nicht mehr, auch nur einen einzigen Schuss abzugeben. Das letzte, was er hörte, war lautes Jaulen.  Aber er konnte schwören, dass es Worte waren: „Genug jetzt! Sonst kommen wir zu spät!“

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