Der Zug der Wölfe (2)

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@Ma.schaun.58

Der Gedanke, wieder die alten Fotos durchzugehen, war ihm zuwider. Nur deshalb kam es zu der Entscheidung für dieses eine Bild. Es lag auf dem Desktop, es erfüllte die Ansprüche, es war genau das, was man von Azlan sehen wollte. Verdammt, es war sogar genau das, wie er sich selbst am liebsten gesehen hätte.  Dummerweise konnte er das Bild nicht verschicken, ohne dass der Mail Client es darstellte. Also war da auf einmal wieder ein Stück Vergangenheit in seinem Leben. In der Bildmitte hing Azlan – der Großartige, der er einmal gewesen war – mit nur einer Hand an einem roten Felsvorsprung. Die Beine hingen frei in der Luft, die zweite Hand war gerade im Begriff einen weiter entfernten Spalt zu ergreifen. Sicherheitsseile gab es keine. Aber eine tödliche Tiefe. Kein Netz, kein doppelter Boden, kein Photoshop. Das war jetzt vier Jahre her. Das Kamerateam hatte ihn damals ununterbrochen beim Free Solo gefilmt. Es war am Ende ein Leichtes, aus dem vielen Filmmaterial die beste Bildszene zu finden. Denn zwischen Leben und Tod hatte in diesem Augenblick wirklich nur eine hauchdünne Sekunde gelegen. Dass ihm die Füße abrutschten, war natürlich nicht geplant gewesen. Azlan hatte den Halt verloren. Zuerst nur an der Felswand. Aber an der Wand kannst du dich fangen. An der Wand kannst du kämpfen, den Arm ausstrecken, dich mit der Hand an den Unebenheiten festhalten. Jede Unebenheit kann dir an der Wand sogar das Leben retten. Azlan dachte diesen Gedanken besser nicht zu Ende. Er schickte das Bild ab und damit war’s das. Das Einzige, was er bereute, war seine Schwäche, nicht schon längst diese Mails mit dem Satz abzuschicken: „Lasst mich endlich in Ruhe“. So lange er diesen Mut nicht aufbrachte, würde ihn die Vergangenheit immer wieder heimsuchen. Er wusste auch jetzt wie es weitergehen würde. Sie würden sich bedanken, fragen, ob er nicht noch ein anderes hätte. Vielleicht vorsichtig ohne Begründung. Vielleicht ganz deutlich, dass man genau dieses Bild ja schon kenne. Sie würden sagen, dass es bedauerlich sei, dass er sich nicht mehr melde und man das Bild vielleicht in Schwarz-Weiß oder spiegelverkehrt, vielleicht auch gar nicht verwenden würde. Und immer wieder die Frage, ob er nicht doch für ein Interview bereit wäre. In den letzten Mails, die dann in der Regel nach einem Monat kamen, versprachen sie auch, nicht auf Stephanie einzugehen. Selten riefen sie an. Es musste sich herumgesprochen haben, dass Azlan die Anrufe verweigerte. Früher waren es gerade die Anrufe gewesen, die ihm gefallen hatten. Die Interviews, bei denen man sich nicht gegenübersaß, bei denen es diese Unverbindlichkeit zu geben schien. Wenn sie dir bei den Fragen in die Augen sehen, legen sie dich nicht rein. Nicht, so lange du bei ihnen am Tisch sitzt. Nicht, wenn sie deine Reaktion bei den Fragen sehen und wenn sie dich kennen lernen und dich mögen. Wenn nicht, dann werden Journalisten zu Raubtieren. Aber am Telefon oder über eine Videokonferenz können sie dich nicht kennen lernen. Und dann ist ein Gespräch auch auf einmal wie Klettern.  Und das war es eigentlich, was Azlan am Klettern immer gemocht hatte: dass man darum kämpfte, nicht abzustürzen. Und dass die Felswand wirklich das einzige war, was wirkliche Ehrlichkeit bedeutete. Sie machte dir nichts vor. Sie betrog dich nicht. Die Gefahr war echt. So, wie das Leben eigentlich sein sollte. Nicht die in Watte gepackte moderne Zivilisation, in der die größten Gefahren Cholesterin, Diabetes, Vorurteile oder Langeweile waren.  Wenn du auf der Couch sitzt und den Fernseher einstellst, entscheidest du dich zwischen einer Komödie und einem Horrorfilm und bist doch nur in einem Nullsummenspiel gefangen.  Aber dort draußen, wo dir jeden Augenblick alles aus den Händen gleiten konnte, da entscheidest du dich zwischen zwei Vorsprüngen und das ist eine wirkliche Entscheidung. Du gehst niemals mit demselben Einsatz von der Wand, mit dem du angefangen hast. Wenn du am Gipfel ankommst, bist du einfach nicht mehr derselbe, der unten den ersten Schritt gemacht hat. Steph hatte das verstanden. Sie hatte es unterstützt. Hatte dieses Leben mit ihm geteilt. Teilen wollen. Genug! Die Vergangenheit konnte wie ein Graben sein und die Erinnerung wie ein Stürzen. Man sagt ja nicht umsonst, dass man ‚loslassen‘ und sich in Erinnerungen stürzen kann.  Azlan stieß sich vom Schreibtisch ab und rollte mit dem Rollstuhl ins Wohnzimmer. Er brauchte andere Stimmen als die in seinem Kopf. Nur deshalb schaltete er den Fernseher an. Er sah nicht einmal hin, wie sie Bilder von der Welt zeigten. Stattdessen fuhr er zum Fenster und starrte auf die Straße, auf der sich der Schnee vom späten Nachmittag bereits ein gemütliches Bett gemacht hatte. „… inzwischen Europa erreicht …“, sagte die Nachrichtensprecherin. Es ging um die Wölfe. Nichts anderes war in der letzten Woche gesendet und diskutiert worden. Noch am Anfang des Monats hatte Azlan die Berichte belächelt und genau wie viele andere abgetan als eine Nichtigkeit. Inzwischen war sich keiner mehr so sicher. Was Ernst ist und was nicht, das entscheiden immer noch die Medien, hatte der Alte im Treppenhaus letztens gesagt. „Wenn sich die Story verkauft, wird sie schon wichtig sein. Sie sollten mal von der Trinkhalle berichten. Die macht nämlich zu. Und das ist genauso wahr wie  ein Wolfsrudel wahr sein kann. Aber die Wölfe sind irgendwo und die Trinkhalle ist hier. Verstehst du? Die Wahrheit ist immer direkt vor dir. Nicht auf einem Bildschirm. Und erst recht nicht in irgendeiner Nachricht.“ Die Nachrichten hatten trotzdem zugelegt, Sonderberichte und Talkshows. Man diskutierte und redete vor aller Augen über das unerklärliche Verhalten der Tiere. Fast schon mit Genuss wurden die Sendungen mit Bildern unterlegt, die den blutigen Schrecken ihres Zugs vor Augen führen sollten. „Panikmache“, pflegte der Alte in letzter Zeit immerzu zu sagen. Wann immer sie sich im Treppenhaus begegneten, grüßte der Alte Azlan mit diesem Wort. Und dabei erhob er den Zeigefinger und tat, als würde er einfach ein Gespräch weiterführen, das nur unbedeutend kurz durch eine Nebensächlichkeit wie Alltag unterbrochen worden war. Ein Tier trat zögernd auf der Straße aus einem Schlagschatten hervor. Azlan spürte irritiert dessen Blick von der schneebedeckten Straße zu ihm empor. Ein Blick, der etwas Suchendes, Gezieltes hatte, so absichtsvoll, als ob nicht wirklich Tieraugen die Hausfassade absuchten, bis sie auf Azlan am Fenster trafen. Was es für ein Tier war, konnte Azlan nicht genau ausmachen. Viel zu eng duckte es sich an der Hauswand entlang, viel zu dicht und tief in den Schatten gedrückt. Es mochte so groß wie ein Hund sein, vielleicht etwas größer. Aber ganz und gar abgemagert und das Fell – definitiv schwarz, oder wenigstens sehr dunkel – war räudig und lang. „… nichts kann uns gefährlich werden …“, sagte eine Stimme im Fernseher. „… wir reden immer noch über das Aufeinandertreffen von Natur und Zivilisation. Wir haben eine Technik, die uns vielen Naturphänomenen weit überlegen macht. Auch wenn es in den letzten Jahrzehnten viele Naturkatastrophen gab, die uns unsere Grenzen aufgezeigt haben, wir sind als Ganzes jeder von ihnen doch überlegen gewesen. Ein Beispiel, und da bitte ich Sie, von Moral einmal abzusehen, wir brauchen doch nur mit Hubschraubern und Raketen …“ Azlan drehte den Rollstuhl weg vom Fenster. Doch statt weiter dem Bericht zu folgen, konzentrierte sein Verstand sich ganz automatisch auf die animierte Grafik am oberen Bildrand. Der rote Streifen, der das Vorkommen der Wölfe symbolisierte, war eine breit gefächerte, halbmondförmige Spur, die das Land weit umarmte und unaufhaltsam nach Süden wanderte. Er spürte, wie die Schmerzen langsam wieder in der Hüfte aufflammten. Er nahm also die nächsten Tabletten, die alles betäubten und die es ihm nicht erlauben würden, in der nächsten Stunde auch nur einen klaren Gedanken zu fassen.  Er saß also zwischen Fenster und Fernseher fest, starrte ins Leere und ließ seine Gedanken sich zunehmend assoziativ aneinanderreihen. Dass auf der Straße im Schnee weitere Tierspuren entstanden waren, entging dem spärlichen Rest seiner Konzentration. (Fortsetzung folgt) PS: Bei dieser Geschichte handelt es sich um ein Projekt, bei dem ich die Leser etwas mehr einbinden möchte. Wer also Einfluss auf die Handlung und die Figuren nehmen möchte, der darf mir gern auf Instagram und Facebook folgen und auf die dort erscheinenden Beiträge reagieren. Denn diese Geschichte entsteht nur mit eurer Hilfe!

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