Der Zug der Wölfe (4)

Als Leah gerade die Toilettentür öffnen wollte, kamen drei Mädchen heraus. Sie stockten, als sie Leah sahen. Und dann fingen sie sofort an zu lachen. So, wie man lacht, wenn man eigentlich lieber heimlich lachen will. Mit vorgehaltenen Händen. Und zusammengekrümmt. Sie bogen sich um Leah herum und schielten von unten zu ihr herauf. Merkwürdig, dachte Leah. Aber als sie die Mädchentoilette der Lasker-Schüler-Schule betrat, verkrampfte sich dieses kleine Knäuel in ihrer Magengegend, das sich sonst immer nur im Sportunterricht bemerkbar machte. Die vier Spiegel über den Waschbecken waren bemalt, wahrscheinlich mit Lippenstiften. Es waren drei verschiedene Farben. Und obwohl die Spiegel auseinander hingen, sah es aus, wie eine große Szene. Die Figuren sahen aus wie eine Mischung aus den Graffitimännchen, die drüben bei Kohrfeld an der Backsteinwand tanzten und dem schreienden Mann auf der Brücke von diesem alten Gemälde. Auf dem vordersten Spiegel stürzten sie einem regelrecht entgegen, mit ihren panischen Augen. Auf zwei und drei sah man schon einige auf dem Boden liegen, die Hände verzweifelt nach oben gereckt, als ob sie die Fortlaufenden anflehen würden, ihnen zu helfen. Auf dem vierten Spiegel, bei dem auch die Toilettenkabinen begannen, lagen sie schon tot auf dem unteren Spiegelrand. Einem Männchen war der Arm so gemalt, dass er über die Fliesen nach unten hing.  Auf den Kabinentüren waren auch Lippenstiftbilder. Wie viele Lippenstifte habt ihr dafür aufgebraucht? Ihr habt euch ja wirklich Mühe gegeben. Das war keine spontane Aktion von ein paar Sekunden, nicht wahr? Kein kurzes Reinkommen, draufloskritzeln und wieder rausgehen. Und noch bevor Leah in die Kabine trat, dachte sie wirklich „Ihr Schweine“ Aber auch, wenn sie den Stall mit der Faust öffnete, war sie kaum wütend. Die Wut blieb heute einfach aus. Auch als sie die vielen tot auf dem Boden liegenden Männchen in der Kabine an den Wänden sah, war da kaum ein Gefühl in ihrer Brust. Nur dieser Klumpen, der sich in ihrer Magengegend wälzte wie ein sich windender Knoten. In der Mitte über der Toilette stand ein Leahmännchen. Man erkannte es an ihren lockigen Haaren und daran, dass man den großen, dunklen Leberfleck auf der Stirn beim Malen nicht vergessen hatte. Das Leahmännchen stand da in der Mitte der tot umgefallenen Grafittifigürchen und hatte die Arme voller Stolz in die Höhe gerissen. Und unter den Armen traten ein paar grüne Linien hervor. Wenn man nicht sofort begriff, was der Lippenstiftkünstler mit seinem Bild hatte ausdrücken wollen, dann brauchte man nur an die Linke Wand zu schauen. Da stand nämlich ein Mädchen mit schmerzverzerrtem Gesicht und hielt sich die Nase zu. Ihre Augen waren entsetzlich weit aufgerissen. Dann sah Leah den Spruch, den es eigentlich ja schon gar nicht mehr gebraucht hätte. Mit schwarzem Edding stand, wenn man die Toilette aufklappte, auf der Unterseite des Deckels: „Die Welt versinkt, weil Leah stinkt.“ „Wow.“, sagte Leah. „Ganz große Kunst.“ Aber sie musste auf die Toilette. Und es tat beinahe noch viel mehr weh, in diesem roten Bildermeer sich hinzusetzen und sich von der Verachtung und dem Hass anstarren zu lassen, der so übertrieben war, dass man ihn fast gar nicht ernst nehmen konnte. Genauso wenig wie Leah ihre eigenen Tränen noch ernst nahm. Die kamen einfach und ohne Gefühl. So war der Rest des Tages: Einfach und gefühllos. Es gab zu viele Blicke, die ihr hinterhergeworfen wurden. Zu viele Stimmen, die ihr hinterher flüsterten und wisperten. Man sagt ja, dass es in den Ohren klingelt, wenn der eigene Name hinter dem Rücken ausgesprochen wird. Aber das war natürlich nicht wahr. In Wahrheit läuft einem den ganzen Tag ein anspannendes Kribbeln vom Genick an abwärts die Wirbelsäule entlang. Selbst die, die überhaupt nicht über einen reden, reden über dich. Leah brachte den Tag schweigend hinter sich. Sie saß den Unterricht ab und starrte auf die Uhr an der Wand hinter der Tafel. Sie war wie der Stundenzeiger, der kaum über die Stunde hinwegbewegte, während alle anderen Zeiger in Bewegung waren. Als es läutete, packte sie die wenigen Sachen, die sie auf ihrer Bank liegen hatte ein, murmelte der Lehrerin ein beiläufiges Aufwiedersehen durch den Vorhang aus gelockten Haaren und floss geradezu nach draußen in die Wirklichkeit hinein. Ein paar Mädchen warteten auf sie. Und sie schloss sich wie selbstverständlich der Gruppe an, in der eifrig über alles Mögliche geplappert wurde, ohne dass jemandem auffiel, dass Leah sich überhaupt nicht am Gespräch beteiligte. Sie dachte: „Die Welt läuft mit mir und gleichzeitig ohne mich.“ An der Hauptstraße verließen die ersten beiden Mädchen die Gruppe, in der Höhe der alten Bahnhofsruine das dritte Mädchen. Beim Kindergarten und bei Kohrfeld verließen wieder vier Mädchen die Gruppe und dann stand Leah auf einmal allein vor der bemalten Wand mit den Figuren, die ihr so verdammt bekannt vorkamen. „Hässlich.“, sagte eine Stimme hinter Leah. Erschrocken fuhr sie herum, sah Tara und erinnerte sich, dass das kleine Mädchen mit den bunt bedruckten T-Shirts im selben Häuserblock wie sie wohnte. Tara trat auch an die Mauer heran und legte die Hand auf die bemalten Ziegel, als könnte man das Bild besser spüren als sehen. „Ich mag keine Graffitis.“, sagte Tara. „Aber das hier besonders nicht.“ „Warum nicht?“, fragte Leah. „Die Figuren sehen schlimm aus. Als ob der Maler sie nicht hat leiden können. Und ich mag Leute nicht, die andere nicht leiden können.“ „Das ist naiv.“, blaffte Leah sie an und setzte den Heimweg fort. Tara war von dem plötzlichen Aufbruch überrascht worden und musste jetzt kurz rennen, um wieder aufzuholen. Obwohl es bestimmt nur drei, vier hastige Schritte gewesen sein mochten, ging der Atem des kleinen Mädchens jetzt deutlich schneller. „Kann sein.“, sagte sie daher kurzatmig und mit einem sehr verkrampften Lächeln. „Aber ich mag es lieber, wenn alle sich mögen.“ „Das gibt es nicht.“ Wenn man Worte hart ausspricht, kann man andere zum Schweigen bringen. Man muss die Worte zu Eis gefrieren lassen. Die Stimme wie eine Klinge, die Luft schneiden kann. Leah hatte bewusst den Schritt beschleunigt. Vielleicht hatte sie gehofft, dass sie Tara damit etwas abschütteln konnte, aber als Tara mit einem Schlag tatsächlich stehen blieb, drehte sich Leah dann doch irritiert um.  „Was ist denn los?“, fragte sie. Tara zeigte auf eine Seitengasse. „Nanu?“, Leah trat zu ihr hin und ließ ihren Blick in dieselbe Richtung gehen. Am anderen Ende der Gasse sah sie gerade noch einen Wolf, der zwischen zwei Müllkontainern stand. Er schien etwas in die Flucht geschlagen zu haben, vielleicht eine Straßenkatze, denn von irgendwo dort hinten, aus den Winkeln der Seitengassen, hörte man das Scheppern von umstürzenden Tonnen, begleitet von hastigen Schritten und einem kurzen, leisen Wimmern. Der Wolf jedenfalls blieb triumphierend auf seinem Platz und starrte in die Dunkelheit hinein. Plötzlich wehte ihm der Wind durch das strohige Fell und er witterte auf einen Schlag, dass er beobachtet wurde. Er fuhr herum, starrte zu ihnen herüber und verzog die Schnauze zu einem gefährlichen Fletschen. Tara und Leah stießen gleichzeitig einen spitzen Schrei aus. Der Wolf blaffte und Leah zog ihre kleine Freundin mit sich zur Seite. „Weg hier!“ Die beiden Mädchen rannten ohne sich umzusehen. Und erst als sie sich beide hinter dem Theresienpark in Sicherheit fühlten, hielten sie an, um nach Luft zu schnappen. „Das war ein verdammt großes Tier“, keuchte Tara. Sie war vom Laufen hochrot geworden. Aber im Unterschied zu Leah rann bei ihr wenigstens kein Schweiß vom Haaransatz herab. „Wolf“, korrigierte Leah. „Das war ein Wolf.“ „Und hast du gesehen, wie er uns angestarrt hat?“ Leah nickte, aber Tara blickte um die Ecke zurück und sie sagte: „Der hat uns mit den Augen auffressen wollen. Mann, ich hab noch nie solche Angst gehabt.“ „Komm jetzt.“, Leah nahm sie an der Schulter und zog sie mit sich. Es waren noch etwa zwanzig Minuten zu Fuß. Dabei sah es jetzt so aus, als würde Tara die ganze Zeit nur noch von dem Fuchs reden wollen. Vor allem aber von den Augen des Tieres. Von diesem Blick, der so gefräßig gewesen war wie eigentlich das ganze Tier. „Und ich bin mir sicher“, meinte Tara mit ernster und zugleich gesenkter Stimme, „dass in seinem Fell Blut geklebt hat. Unter seinem Kinn. Hast du das gesehen?“ „Nein.“ Das war jetzt das erste Mal, dass Leah etwas zu den vielen Ausführungen gesagt hatte. Aber die Tatsache war, dass Leah dieser Wolf überhaupt nicht blutrünstig und gefährlich vorgekommen war. Nicht wirklich. Sicher hatte er ihnen eine Heidenangst eingejagt. Aber wenn sie sich zurückerinnerte, dann kam ihr das Blaffen des Viehs doch sehr gekünstelt vor.  So wie die kleinen Jungen, die mit ihren Füßen Tauben aufschrecken wollten, indem sie so taten, als stampften sie die Vögel nieder. In Wahrheit stampfte der Fuß doch immer nur daneben. Leah war sich sogar ziemlich sicher, dass der Wolf sie einfach nur hatte vertreiben wollen. Nicht einmal wie eine Warnung. Eher wie … „Leah! Sieh!“, unterbrach Tara ihre Gedanken. Inzwischen waren sie am Großen Markt angekommen. Wo normalerweise um diese Zeit eine gähnende Leere über dem Platz lag, waren jetzt zwei Menschengruppen. Sie trugen Schilder und Transparente, schwenkten Fahnen und riefen in Megafone.  „Was ist das?“, fragte Leah. „Das sind die Wilddemonstrationen.“, erklärte Tara. „Du hast bestimmt schon davon gehört. Die haben doch schon vor ein paar Wochen angefangen zu demonstrieren. Seit sie in den Nachrichten gemeldet haben, dass die Wölfe sich wieder ausbreiten. Man hat beobachtet, dass immer mehr wilde Tiere ins Land kommen. Von Osten her. Und fast so, als ob sie sich auf die großen Städte zu bewegen. Der in den Nachrichten gestern hat vermutet, dass die Wölfe bald auch bei uns ankommen werden. So in ein oder zwei Wochen. Und die Regierung hat beschlossen, sie zu jagen, abzuschießen. Damit es nicht zu Ärger kommt.“ „Ärger“, wiederholte Leah gedankenverloren. „Was denn für Ärger?“ Aber Tara ging überhaupt nicht auf die Frage ein. Stattdessen zog sie an Leahs Arm und fragte: „Glaubst du unser Wolf war einer von diesen Wilden?“ „Was denn sonst? In einer Stadt gibt es normalerweise keine Wölfe.“ „Ich weiß nicht. Ich hab mir das immer irgendwie anders vorgestellt. Wenn man die Nachrichten so gesehen hat, dann ist es immer so gewesen, als ob …“ Es dauerte eine Weile, bis Tara fortfuhr. In der Zwischenzeit starrten beide wie gebannt auf die Plakate, auf die Füchse gemalt worden waren und Gewehre in durchgestrichenen Kreisen. „Der WOLF ist da!“, stand auf einem Plakat. „Willkommen, Freund“ auf einem anderen. „Wie eine ganze Truppe.“, sagte Tara plötzlich. „Ein ganzes Rudel. Nicht einer allein, weißt du.“ „Was ist damit?“ „So hab ich mir das vorgestellt, wenn die in den Nachrichten darüber geredet haben. Zwanzig oder dreißig Wölfe. Oder hundert. Wildes Fell, glühende Augen. Und immer nur nachts. In meiner Fantasie sehe ich die immer nur durch die Nacht laufen, mit hängenden Zungen und blutunterlaufenen Augen.“ „Das sind wilde Tiere, keine Figuren aus einem Horrorfilm“, es hatte spöttisch klingen sollen. Aber es misslang Leah, weil wieder etwas Neues ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte: Ein Mann schob sich quer durch die Menschenmenge, so als suche er jemanden. Er ging vornübergebeugt. Die Haare hingen ihm strähnig in die Stirn. Als er aufblickte, traf sein Blick den von Leah und er hielt inne und grinste. Fast wirkte es wie ein erleichtertes Aufatmen. Aber dann schoben sich zwei Plakatträger vorbei, die billige Wolfsmasken aus Plastik trugen, und als sie vorbei waren, war der merkwürdige Mann fort. „Ich will nach Hause.“, meinte Leah. „Und das lieber schnell.“ „Alles klar.“, antwortete Tara. Auf dem Rest des Weges erzählte Tara ihr wieder, wie aufregend es gewesen war, einem echten Wolf gegenüber zu stehen. „Ich glaube nicht, dass wir noch einmal einen sehen werden in unserem Leben. Also einen echten. In freier Wildbahn. Was meinst du?“ „Nein.“, bestätigte Leah. Sie irrte sich.

Was sagt ihr dazu?